Sach- und Fachgeschichten, heute: mit Ulrike Herrmanns „Das Ende des Kapitalismus“Von der Illusion grünen Wachstums und warum 1978 das Ziel ist

Herrmann

Illustration: Susann Massute

Wenn wir uns retten wollen, müssen wir schrumpfen. Grünes Wachstum ist eine Illusion, weil zu teuer und zu energieverbrauchend. Was wir brauchen, ist eine Überlebenswirtschaft nach dem Modell der britischen Kriegswirtschaft: Ulrike Herrmanns Analyse ist schonungslos, und das ist gut so. Findet Jan-Peter Wulf.

Von Ulrike Herrmann lernen heißt siegen lernen oder anders gesagt, heißt Dinge besser oder überhaupt endlich mal zu verstehen. Ob es ihre historische Analyse „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“ ist, in der sie die Größen ihrer Zunft von Smith und Ricardo bis Marx und Keynes und ihre Denkmodelle so erklärt, dass was hängen geblieben ist – und speziell Smith in ein wesentlich progressiveres Licht rückt (seine „unsichtbare Hand“ wird oft falsch verstanden). Oder ob es das großartige Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen ist, in dem sie den angeblichen Wirtschaftswundervater Ludwig Erhard als Strohmann entzaubert und es glasklar macht, warum Hans Eichel besser Provinz-Studienrat statt Finanzminister geblieben wäre – der Abbau der sozialen Marktwirtschaft ist rotgrün. Wenn Menschen in diesem Winter sparen und frieren und sich Sorgen machen müssen, wie sie ihre Bruttowarmmiete bezahlen sollen, dann hat das viel mit Eichel, Steinmeier und natürlich Schröders Politik zu tun.

Grünes Wachstum ist Bullshit

Jetzt räumt Ulrike Herrmann mit einem weiteren Mythos auf – dem des „grünen Wachstums“, überall als sleaker Weg aus der Klimakrise beschrieben, von Politiker:innen bis zur Finanzdienstleisterwerbung auf dem Außenplakat. Grünes Wachstum ist eine Illusion, sagt Herrmann und dies so iterativ und mit so vielen Beispielen veranschaulicht, dass es fast nervt, aber nur fast. Denn das für mich Zauberhafte an Herrmanns Stil liegt darin, klar, nüchtern, sachlich, nicht ausschweifend und zugleich doch empathisch zu sein, da ist enorm viel Humanismus im Spiel, kein Zynismus. Wenngleich die Analyse erdrückend ist: CO2 sequestrieren (speichern)? Ja, aber zu teuer. CO2 aus der Luft ziehen? Ja, aber zu teuer. Wasserstoff? Ja, aber zu teuer. Lokale Sonnen- und Windenergie in dem Maße, in dem sie eine wachsende Wirtschaft braucht? Auch zu teuer. Wüstenstrom, also die (z.B. von Christian Lindner im letztjährigen Wahlkampf immer wieder vorgeschlagenen Solarfelder in Südspanien und Nordafrika)? Teuer, ineffizient, braucht eine enorme Infrastruktur. Und on top benötigt die Energie zur Herstellung von all dem viel zu viel CO2, zumal grüne Energie aus grauer-herkömmlicher Energie entsteht, so ein Windrad muss erstmal gebaut und ein unterirdisches System zur Speicherung erschlossen werden. Und dann sind da noch die enormen Rebound-Effekte: Güter mögen effizienter geworden sein, wie Handys oder Autos, aber das Ergebnis sind mehr Handys (mehr Energieverbrauch) und größere Autos (mehr Energieverbrauch). Oder mehr Wohnfläche (mehr Energieverbrauch). Die schnellere ICE-Strecke von Berlin nach München hat den Flugverkehr zwischen den Städten reduziert, aber es reisen jetzt pro Tag überproportional mehr Menschen hin und her, weil es einfacher geworden ist. In der Fahrradstadt Kopenhagen wurden vor allem Fußgänger:innen zu Radfahrer:innen, nicht Autofahrer:innen, wie immer vermutet.

Nachhaltigkeit ist hip und überall, aber zeitigt so gut wie keine klimapositiven Effekte im Großen. Wir müssen auf Netto-Null, erinnert Herrmann. Die Energiewende, das schwungvolle Wort, wird mühsam und vor allem sauteuer. Sie ist unter dem Diktum des Wachstums praktisch unbezahlbar. „Everything we can actually do, we can afford“, sagte Keynes bekanntermaßen. Aber vermutlich meinte das Ökonomie-Brain damit, dass wir einfach Geld auf etwas werfen können, bis wir am Ziel sind? So naiv, dass man Geld so lange drucken kann, bis es reicht, ist keine seriöse MMT.

Die Preise für Mineralien und andere Rohstoffe, die man für die grüne Energiewende um ein Vielfaches mehr benötigt als bisher, werden durch die Decke gehen. Die Preise für die menschliche Arbeitskraft, auch sie, so Herrmann, wird teurer, weil es gar nicht mehr genug Menschen gibt (man denke nur an die Demografie), die entsprechende handwerkliche Berufe ausführen, um das alles aufzubauen. Fallende Grenzkosten, eine Grundannahme des grenzenlosen Wachstums, drehen sich in (exponentiell) steigende Grenzkosten. Da wird auch der letzte neoklassische Makroökonom hellhörig. Klimawandel ist Marktversagen – den berühmten Satz von Sir Nicholas Stern, dem Ex-Chefökonomen der Weltbank, erklärt die Autorin sozusagen im Gesamtzusammenhang.

Es ist die Ökonomie, Blödmann!

Man ist gerade am Tiefpunkt seiner Desillusion, da liest man: Und deswegen wird der Kapitalismus enden. Wie jetzt? Befreiung? Revolution? Aufwachen der Menschenmassen? Es ist die Ökonomie, Blödmann: Der Kapitalismus ist doch auf Wachstum angewiesen. Er braucht ihn, um fortbestehen zu können. Er kann nicht ohne. Und weil wir vom Wachstum weg müssen, wird er enden, wird eingehen wie eine nicht mehr gegossene Primel. Denn das ist der einzige Ausweg: Wir müssen schrumpfen. Aha. Wie soll das konkret gehen? Wie soll man die Menschen bitte dazu bringen, so etwas mitzumachen? Verzichten? Auf zwei Flugreisen im Jahr? Den Wagen, in dem man so schön hoch und gut und sicher sitzt? Mein Schnitzel? Viel Spaß beim politischen Aschermittwoch in einem CSU-Bierzelt.

Aber zumindest diese gute Botschaft hat Ulrike Herrmann im Gepäck: Es gibt ein Vorbild für das Schrumpfen, es hat in der Geschichte tatsächlich schon einmal funktioniert – nämlich in der britischen Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg. Die Briten glaubten lange nicht, dass die militärisch schwächeren Nazideutschen wirklich … doch genau das taten sie, und jetzt mussten die Briten handeln und ihre ganze Wirtschaft umstellen, um den Feind zu besiegen. Und gleichzeitig ihr Volk ernähren. Eine absolute Notsituation. Das BIP wurde quasi zum Kriegsinstrumentarium: 66 % fürs Militär, der verbleibende Rest, sehr wenig also, für die Zivilbevölkerung – Kleidung (standardisiert), Nahrung (rationiert), Hausbau (viel war von den Angriffen schon zerstört). Kalorien wurden mit dem vorhandenen Lagerraum abgeglichen, Eier plus Hühner: zu viel Platz, so wurde Eipulver erfunden. Und weil alle mitgemacht haben bzw. mitmachen mussten, hat es am Ende auch funktioniert.

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Das Ende des Kapitalismus – Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden (Affiliate-Link) von Ulrike Herrmann ist bei KiWi erschienen, hat 352 Seiten und kostet 24 Euro.

Es geht ums Überleben

Es geht um Rationierung und Reduzierung, und dies werde, wie 1939 in Großbritannien, nicht ohne entsprechende drastische Regelungen und Verbote gehen, so die Autorin. Weil es um nicht weniger als das Überleben geht, brauchen wir eine Überlebenswirtschaft. Allein: Es gibt bisher keine voll ausgearbeitete Makroökonomie für eine solche Überlebens- oder Postwachstumsgesellschaft, nur Ansätze dafür, wie sie z.B. der Degrowth-Denker und der Oldenburger Wirtschaftswissenschaftler Nico Paech liefert. Wie hoch etwa soll der CO2-Preis sein? Symbolische 30 Euro pro Tonne wie aktuell? Dann braucht man gar nicht anfangen. Das Umweltbundesamt setzt mal eben das Sechseinhalbfache an – die beschriebenen steigenden Grenzkosten und Rebound-Effekte der Zukunft noch nicht eingepreist.

Die Briten sind mit ihrem Modell durch den Krieg gekommen. Verhungert ist praktisch niemand, zumindest nicht auf den Britischen Inseln (dass die rabiate Kriegswirtschaft dazu führte, dass Churchill einem halben Subkontinent beim Verhungern billigend zusah, thematisiert das Buch nicht).

Herrmann schreibt, die nötige Schrumpfung der deutschen Wirtschaftsleistung würde das Land in das Jahr 1978 zurückversetzen. Lebte man damals so viel schlechter? Zweimal in den All-Inclusive-Urlaub fliegen sei dann nicht mehr drin, dafür einmal länger (am besten per Bahn) ans Meer fahren, slow travel, slow economy. Argentinien wurde Weltmeister, der erste Teil von Star Wars kam ins Kino ... an dieser Stelle wird es mir etwas zu sozialromantisch oder anders gesagt: Hier bleibt es vage, skizzenhaft, hier müsste ein neues Buch ansetzen. Wie funktioniert eine Kriegs- bzw. Überlebenswirtschaft im 21. Jahrhundert? Dass man binnen kurzer Zeit Ökonomien umprogrammieren und Produktionen verändern kann, hat, ihr ahnt es schon, Corona gezeigt (Desinfektionsmittel aus Schnapsfabriken, Beatmungsgeräte aus Autofabriken etc.). Dazu hat Adam Tooze ein großartiges, wenngleich zäher zu lesendes Buch geschrieben. Jetzt braucht es eine Anleitung fürs Kleinwerden im Großen. Mal schauen, wer diese schreibt.

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