Am AbgrundBuchrezension: „The 2020 Commission Report on the North Korean Nuclear Attacks Against the United States“
10.10.2018 • Kultur – Text: Thaddeus HerrmannDie trockene Analyse einer Katastrophe, die hoffentlich nie passiert: Jeffrey Lewis protokolliert in seinem spekulativen Roman den nuklearen Angriff Nordkoreas auf Südkorea, Japan und die USA im Jahr 2020.
Frieden, Abrüstung, heile Welt? All das ist lang her. Die Annäherung der Blöcke nach dem Ende des Kalten Krieges war kurz, die Ruhe trügerisch. Schnell entstanden neue Gegensätze im globalen Machtgefüge, in dem die alten Feindbilder nichts mehr taugten – mit Aggressoren, deren Existenz und Potenzial man jahrzehntelang ignoriert hatte. Für seinen Roman hat sich Lewis die Sollbruchstelle der internationalen Konflikte ausgesucht, mit der er sich selbst am besten auskennt: Korea. Der Norden gegen den Süden, der Süden gegen den Norden, getrieben von den geopolitischen Überlegungen Japans, der USA und China. Genau das ist Lewis’ Schwerpunkt. Heute lehrt er am Middlebury Institute of International Studies in Monterey zum Thema Rüstungskontrolle in Asien und zur chinesischen Nuklearpolitik, früher arbeitete er im US-amerikanischen Verteidigungsministerium.
Im März 2020 ist es nicht sonderlich gut bestellt um die Beziehungen zwischen Nord und Südkorea. Kim Jong-un hat die Nuklearpolitik seines Landes nicht geändert, Trump stänkert auf Twitter in einem fort und es ist Manöver-Zeit. US-amerikanische Bomber fliegen von ihren Stützpunkten immer wieder auf Haaresbreite an die demilitarisierte Zone am 38. Breitengrad heran, in Nordkorea herrscht höchste Alarmstufe. Am Flughafen von Seoul startet eine Linienmaschine. Ab Bord: vor allem Kinder auf dem Weg zu einem Schüleraustausch in der Mongolei. Das Navigationssystem fällt aus, die Maschine nähert sich der demilitarisierten Zone, die Nordkoreaner verlieren die Nerven und schießen das Flugzeug ab – keine Überlebenden. Dies ist die Ausgangssituation für einen kurzen, aber umso heftigeren Krieg, an dessen Ende allein in den USA 1,4 Millionen Menschen tot sind. All dies spielt sich in nur vier Tagen ab.
Keine Helden, nur Verlierer
Lewis, der sich bei den kürzlichen Annäherungsversuchen von Trump in Richtung Nordkorea immer wieder einordnend in die Diskussion eingeschaltet hatte, hat keinen Kriegs-Thriller geschrieben, in denen die Rollen klar verteilt sind. Es ist auch keine Dystopie der Science Fiction, viel mehr ein Blick in die Gegenwart von morgen – mit Protagonisten, die allesamt schon heute täglich Entscheidungen fällen, und damit Entwicklungen in Gang setzen und befördern, deren Tragweite oft überhaupt nicht abzuschätzen ist. Lewis wählt für sein Buch die Form des Abschlussberichts der US-amerikanischen Untersuchungskommission, die wenige Jahre nach der Katastrophe die Entwicklung und der Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzung aufarbeitet. Förmlich, trocken und distanziert kommt somit das auf den Tisch, was in den vier Tagen im März 2020 geschah. Dieser Kniff des Nicht-Literarischen macht es für Leserinnen und Leser erträglicher, das auszuhalten, was folgt.
Dabei kommt es Lewis zwar auf die faktischen Ereignisse an. Viel wichtiger ist jedoch die Analyse und Offenlegung der Machtverhältnisse: auf globaler und bilateraler Ebene, aber auch innerhalb von Regierungen und Behörden. Auf dieser Ebene offenbart sich die eklatante Wahrheit der Buchs: Man kann solche Szenarien immer wieder durchspielen, sich darauf vorbereiten und zahlreiche Pläne in der Schublade haben, um angemessen zu reagieren – am Ende ist der unberechenbare menschliche Faktor das entscheidende Zünglein an der Katastrophen-Waage. So will der südkoreanische Präsident Moon Jae-in sich von den USA nicht weiter gängeln lassen und entscheidet auf eigene Faust, den Abschuss des Flugzeugs mit Raketenangriffen zu vergelten. Trump spielt Golf und mag sich mit der Krise nicht auseinandersetzen, weil er dazu im Golfclub eine steile Treppe in den Bunker hinabsteigen müsste. Und bei der UN weiß der Außenminister nicht, was die Botschafterin tut. Derweil sitzt Kim Jong-un in einem Versteck ohne Handy-Empfang. Es bedarf immer einer Verkettung von vielen Umständen, bis es schließlich zur Katastrophe kommt. Und selbst in einer hoch technisierten Welt lassen sich nicht alle dieser Umstände voraussehen.
O-Ton der Zerstörung
Wie es sich für den Bericht einer Untersuchungskommission gehört, basiert auch „The 2020 Commission Report“ auf den Aussagen fiktionaler Überlebender der Katastrophe. Protokolle wurden ausgewertet, Interviews geführt. Mit dem Teil des Trump-Teams, das es in letzter Minute mit dem Präsidenten noch an Bord der AirForce One schaffte zum Beispiel. Aber auch mit Politikern und Militärs aus Nord- und Südkorea, dem Feuerwehrchef aus Tokio, Ärztinnen und Ärzten unweit der Explosionsorte der Atombomben oder eben den „ganz normalen“ Opfern, vor deren Augen sich der Feuersturm in ungeheurer Geschwindigkeit seinen Weg bahnte. So dokumentiert Lewis nicht nur das Ausmaß der Katastrophe, sondern liefert auch wichtige Hintergrundinformationen zur Selbstüberschätzung von Großmächten und solchen, die es werden wollten. Die Raketenabwehr der USA? Ein schlechter und darüber hinaus in Alaska schlecht positionierter Witz. Die Aufklärungskapazitäten bezüglich Nordkorea? Ungenügend. Mit Kanonen auf Spatzen schießen zu wollen, hat sich noch nie bewährt.
Am Ende ist die Welt eine andere. Trump beobachtet die Explosion in Florida vom Flugzeugfenster und sagt „Beautiful“. Und kommentiert drei Jahre später – am 2. April 2023 – den Bericht der Untersuchungskommission: „The so-called 2020 Commission is a total Witch Hunt and just more Deep State FAKE NEWS.“ Für eine zweite Amtszeit hat er nicht mehr kandidiert.