Neue Chance für Schnappschüsse„PhotoViz“: Nicholas Felton lotet die Grenzen zwischen Fotografie und Infografik aus
2.5.2016 • Kultur – Text: Susann MassuteNicholas Felton, Designer, Erfinder der Facebook-Timeline und Info-Viz-Experte, legt mit seinem neuen Buch eine Vision für den künftigen Umgang mit den riesigen, täglich wachsenden Fotosammlungen vor. Wir sprachen mit ihm über Collagen, neurale Netzwerke und das größere Muster hinter unseren prall gefüllten Camera Rolls.
Inwiefern können Fotos Datenvisualisierung sein? Was zunächst als ungewöhnliche Verbindung erscheint, macht beim näheren, wortwörtlichen Hinsehen erstaunlich viel Sinn. Nicholas Feltons neues Buch beginnt mit der Fotografie einer Stabhochspringerin. Abgebildet ist genau jener Moment, indem sie gerade die Sprunglatte überfliegt. Demgegenüber stellt Felton eine Infografik, die den schematischen Ablauf des Stabhochsprungs zeigt. Sein Punkt ist, dass wir in beiden Abbildungen Verschiedenes über Bewegungsabläufe, Gleichgewicht, Fitness und Konzentration erfahren können und die Fotografie in ihrem Informationsgehalt gleichberechtigt neben „klassischen“ Infografiken existieren kann. Dabei lässt sich auch feststellen: Kein Foto ist wahr, aber Grafiken und Statistiken sind es auch nicht. Umso erhellender ist Feltons Ansatz, das Feld der Informationsvisualisierung zu erweitern und unsere Erwartungshaltung an Fotografie zu hinterfragen. Denn die gigantischen Datenmengen von Bildern verlangen künftig einen anderen Umgang, zum anderen eröffnen sie jedoch zahlreiche Möglichkeiten für Wissensgewinn – wie zum Beispiel Fotografie als Datenvisualisierung.
Das Buch zeigt in zahlreichen Beispielen, was Felton alles unter PhotoViz versteht. Er geht zurück zu den Anfängen futuristischer Bewegungsstudien und den ersten Versuchen mit der Schlierenfotografie. Panoramafotos und Langzeitbelichtungen, die beispielsweise den Bau eines Hochhauses dokumentieren, sind ebenso wie nachträgliche Bearbeitungen (Collage, das Überlagern mehrerer Bilder, Ausschnittsammlungen aus GoogleMaps) PhotoViz.
Es ist nicht ganz leicht, die Idee von PhotoViz kurz und prägnant zu beschreiben. Hast du dir im Laufe deines Projekts eine griffige Definition zur Seite gelegt?
Kurz und bündig: PhotoViz ist für mich die „Schnittstelle von Data-Viz und Fotografie“. Es geht um Visualisierungen, die Fotos als primäre Quelle nutzen. Dabei ist es zunächst nicht von Bedeutung, ob das Resultat am Ende wieder als Foto, Grafik oder auch als Text erscheint. Vielmehr geht es um die Sammlung und Verdichtung von Momenten, die mit fotografischen Mitteln aufgenommen wurden.
Die Beispiele in deinem Buch sind wirklich sehr beeindruckend und vielfältig. Hast du die Definition von PhotoViz bewusst offen gehalten während der Arbeit am Projekt?
Mir sind in den vergangenen Jahren immer wieder Fotografie-Projekte aufgefallen, die für mich alle Bedingungen erfüllen, mit dem Begriff PhotoViz verknüpft werden zu können. Viele visuelle Techniken lassen sich darunter subsumieren, jedoch muss jede einzelne Arbeit vor allem als Visualisierung bestehen können. Das ist oft gar nicht so leicht zu erreichen. Collagen zum Beispiel: David Hockney’s nutzt in seiner Serie „Joiner“ beispielsweise die Collage, um verschiedene Augenblicke zueinander in Beziehung zu setzen. Gleichzeitig bezeichnet die Collage jedoch auch ein eher künstlerisch-ästhetisches Verfahren. Die meisten Foto-Collagen ermöglichen es nicht, Vergleiche herzustellen oder ein bestimmtes Phänomen zu verstehen. Zumindest nicht so, wie ich es im Sinne von PhotoViz meine.
Wie könnte eine zukünftige Weiterarbeit an PhotoViz aussehen? Was hältst du zum Beispiel von Bildarchiven, wie sie Künstler wie Gerhard Richter oder Dina Kelberman anlegen?
Für mich ist generell das Arbeiten mit Foto-Sets interessant. Künstler-Archive sind sicher eine interessante Fundgrube – allerdings hat jeder Einzelne von uns binnen der letzten fünf Jahre ein beträchtliches Archiv auf seinem Smartphone angelegt. Es wäre möglicherweise noch viel lohnender, das zu untersuchen.
Eine große Herausforderung ist es heutzutage, neue Wege für das Analysieren, Filtern, Komprimieren und Teilen von Fotos zu finden. Hier und da mal ein Bild in der eigenen Galerie hervorzuheben, kann keine adäquate Methode mehr sein um die riesigen Fotosammlungen, die wir jährlich erzeugen, zu bewältigen. Ich würde mich über neue Ansätze für die Bildaggregation und -bewältigung freuen und hoffe natürlich, dass auch mein Unternehmen etwas beim Ausloten dieser Grenzen beitragen kann.
Siehst du diesbezüglich ein Potential in der automatischen Bildverarbeitung von neuralen Netzwerken?
Bei einem Großteil der wirklich interessanten Projekte in diesem Feld kommt bereits machine learning zum Einsatz. Die automatische Bildanalyse, die mit neuralen Netzwerken möglich wird, ist sehr präzise und wird schnell das Niveau unseres menschlichen Urteilsvermögens erreichen. Ich finde es außerdem sehr faszinierend, Fotografie durch das „Auge“ eines neuralen Netzwerks anzusehen. Wenn so ein Netzwerk darauf trainiert ist, Bananen zu erkennen, könnte man es wiederum rückwärts laufen lassen und so ein Bild erzeugen, das die Erkennungsmerkmale einer Banane enthält.
Gibt es einen größeren Zusammenhang zwischen deinen bisherigen Arbeiten, wie zum Beispiel Timeline, und PhotoViz?
Alle meine Projekte im Bereich der Datenvisualisierung – dazu zähle ich auch Timeline – sind immer Ausdruck des gleichen Wunschs: Ich will Menschen dabei helfen, größere Muster in ihrem Leben zu entdecken und zu kommunizieren. Mit dem Smartphone wurde die Fotografie ein universelles Artefakt unseres Alltags. Ich suche immer nach Mitteln und Wegen, mit denen die Geschichten hinter diesen unerschlossenen Datensätzen aufgedeckt und erklärt werden können. Dabei sehe ich die sich stetig entwickelnden PhotoViz-Techniken als entscheidende Möglichkeit um diese große Geschichte, die wir im Camera Roll ansammeln, zu erzählen.
PhotoViz erscheint beim Gestalten Verlag und kostet 39,90 Euro.