Pageturner – Literatur im September 2022Oded Galor, Giorgos Kallis, David Graeber & David Wengrow
1.9.2022 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteBücher, Texte, Geschichten. Das sind Deep-Dives ohne Marketing-Konnotation und auch keine Longreads mit Like-Clickbait. Wer schreibt, der bleibt. Frank Eckert ist der Pageturner der Filter-Redaktion und inhaliert Monat für Monat zahllose Bücher. Ob dringliche Analysen zum Zeitgeschehen oder belletristische Entdeckungen – relevant sind die Werke immer. Für den September 2022 gilt: Sommer aus, Kopf an! Es ist immer Zeit, sich mit den Basics des globalen Miteinanders auseinanderzusetzen, was ja faktisch immer noch kein Miteinander ist. Also stürzen wir uns in das Kuddelmuddel. Der israelische Ökonom Oded Galor blickt in „The Journey Of Humanity“ darauf, wie es uns eigentlich geht. Der griechische Ökologe Giorgos Kallis nimmt die „Grenzen“ des Wachstums in den Blick – und die Auswirkungen. David Graeber und David Wengrow – der eine Kulturwissenschaftler, der andere Archäologe – treten in „The Dawn of Everything“ an, die Wissenschaft der Genese und Historie der Menschheit fundamental umzukrempeln. Heavy hitters. Und die Bäume verlieren ihre Blätter.
Oded Galor – The Journey of Humanity (Dutton, 2022)
Warum Thomas Robert Malthus falsch lag und trotzdem nicht alles in Butter ist, #1: Gar so schlimm ist es gar nicht.
Der israelische Ökonom Oded Galor, der in den USA an der renommierten Brown University lehrt, gibt die interessante Antwort, dass Malthus mit seiner Theorie (kurz gesagt: die Bevölkerung wächst schneller als die ihr zur Verfügung stehende Nahrungsmittelmenge, das Bevölkerungsgesetz) gar nicht falsch lag. Für seine Zeit und die unsichere historische Quellenlage hat er die Situation sogar ziemlich präzise analysiert, wie an zahlreichen historischen Beispielen belegt werden kann. Jede Verbesserung der Lebensbedingungen, z.B. durch technologische Innovation in der Landwirtschaft, führt zu einem raschen Anstieg der Bevölkerung, was wiederum den neuen Wohlstand auffrisst und den Lebensstandard insgesamt nicht verbessert. Der großen Mehrheit geht es nicht besser als früher, sie ist nur mehr geworden. Dass dem bis in Malthus’ Lebenszeit so war, ist empirisch belegt. Es gilt in manchen Regionen bis in die Neuzeit.
Was Malthus allerdings nicht vorhersehen konnte, war der technologische Sprung, der sich vor etwa 200 Jahren in Europa – zuerst in England – vollzog. Galor verwendet dafür den thermodynamischen Begriff des Phasenübergangs: Die Entwicklungen akkumulieren langsam. Bis sie einen Kipppunkt erreichen, an dem dann eine abrupt erscheinende massive Änderung passiert, die sich nicht mehr so leicht zurückdrehen lässt. Bezogen auf gesellschaftliche Entwicklung läuft das strukturell immer sehr ähnlich ab, was Galor mit seiner „Unified Growth Theory“ bereits im Namen führt. Die einzelnen Ausformungen jedoch unterscheiden sich geografisch und zeitlich immens. Es gibt eben manche Gesellschaften, die durch ihre lokalen Bedingungen einen Vorsprung hatten. Und andere, die nicht mehr nachkommen, bis heute.
Denn dieser Prozess – vereinfacht Industrialisierung genannt – war eben nicht nur eine unerwartete Dynamik der Bevölkerungszunahme bei gleichzeitig (im Mittel) massiver Verbesserung des Lebensstandards, was sich anhand von Schlüsselindikatoren wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Arbeitszeit, Wohnraum und vielen mehr zeigt. Auch die Ungleichheit erreichte parallel ein bis dahin unbekanntes Maß, sowohl zwischen verschiedenen Gesellschaften als auch innerhalb dieser, vertikal.
Trotz allem bleibt Galor optimistisch. Auf lange Sicht – so zeigt die Menschheitsgeschichte wieder und wieder – können Krisen und Katastrophen, Seuchen, Kriege und Hungersnöte erstaunlich schnell überwunden werden. Was letztlich zu einer sich normalisierenden Geburtenrate bei steigendem Wohlstandsniveau für die Mehrheit führt. Aber: Eben nicht für alle überall und nicht zur selben Zeit. Die Kosten sind allerdings ebenfalls nicht zu verdrängen. Neben der wachsenden Ungleichheit sind es Umweltzerstörung und gesellschaftliche Spannungen, die Wachstumsschmerzen verursachen. Doch sogar hier bleibt Galor zuversichtlich. Die Kombination von Bildung und Diversität (genetisch und kulturell) ist der Schlüssel. Und, klar, nicht ohne politischen Willen und nicht ohne Nebenwirkungen zu bekommen. Das Kombipräparat aber wirkt. Was allein zum Beispiel Schulbildung für Mädchen bewirkt, lässt sich in vielen Ländern direkt am Lebensstandard ablesen. Und weil das mehr ist als eine Korrelation, ist vorsichtige Zuversicht angebracht. Es wird schon werden, aber sicher auch dauern.
Giorgos Kallis – Grenzen (Matthes & Seitz, 2021)
Warum Malthus falsch lag und trotzdem nicht alles in Butter ist, #2: Warum sogar Ökologen, Neo- und Anti-Malthusianer daneben liegen.
Der griechische Ökologe Giorgos Kallis, der in Barcelona Ökonomie lehrt, zieht aus den Diskussionen über Postwachstumgesellschaft und Umweltschutz, für die „Bob“ (Thomas Robert Malthus) als konservativer Weltuntergangsprediger gerne hergenommen wird, noch einmal überraschend andere Schlüsse als üblich. Wie Oded Galor betont Kallis die Zeit- und Kontextabhängigkeit von Malthus’ Annahmen und fragt, welche Grenzen bei den berühmten „Grenzen des Wachstums“ eigentlich genau gemeint sind. So war Malthus keineswegs ein Warner vor Überbevölkerung, im Gegenteil: Der britische Pastor war ein Advokat des „Natürlichen“, verstanden als ungehindertes und dadurch geometrisches Bevölkerungswachstum, weil die Bibel es so vorschreibt.
Diese für sich schon reichlich absurde Prämisse wird mit der Annahme der Endlichkeit und Knappheit aller natürlichen Ressourcen zu einer Ideologie des Wachstums, die Armut, Hunger und Not rechtfertigt. Weil die Begierden der Menschen unendlich sind, die Möglichkeit ihrer Erfüllung aber immer begrenzt ist, so dass immer jemand außen vor bleiben muss. Also diejenigen, die sich nicht genug anstrengen, die nicht zum Wohlstand beitragen, die nicht selbst für sich sorgen können. Oder moderner ausgedrückt: Diejenigen, die der Konkurrenzlogik des Marktes nicht folgen wollen oder können, müssen leider draußen bleiben. Die moderne Wissenschaft der Ökologie – Kallis’ primäres Anliegen – hat leider eine Menge dieser Annahmen übernommen.
Auch sie unterstellt einen endlosen menschlichen Expansionsdruck und einen begrenzten und daher schützenswerten und zu verteidigenden Wohlstand (die unberührte „Natur“). Was sich weder Malthus noch manche Ökolog:innen vorstellen können, ist eine freiwillige Begrenzung der menschlichen Wünsche, wie sie sich etwa am Beispiel des Bevölkerungswachstums von selbst zeigen, als mit steigendem Wohlstand auch ein steigender Bildungsgrad aller einherging und damit wiederum eine stärkere weibliche Selbstbestimmung über die Fortpflanzung möglich wurde. Nach den Berechnungen von Malthus müsste die Erdbevölkerung heute knapp 300 Milliarden Menschen zählen. Der Fehler der Ökologie ist demnach, die Natur nicht als Allgemeingut (als Allmende), sondern wie privates Eigentum zu behandeln, das künstlich knapp gehalten wird (etwa durch Zugangsbeschränkung) und innerhalb der Marktlogik behandelt wird (die Natur ist besonders wertvoll, ihre Nutzung entsprechend kostenintensiv). Was nach Kallis nötig ist, wäre eine direkte Umkehrung der Malthusschen Annahmen: Das menschliche Wünschen ist tatsächlich endlich und alle Bedürfnisse können befriedigt werden. Die Natur ist dagegen ein Allgemeingut, von der Menschen (freiwillig) nur den Teil nehmen, den sie jeweils brauchen, um Bedürfnisse zu befriedigen. Eine solche gemeinschaftlich-gesellschaftliche freiwillige Beschränkung aller ist natürlich per se philosophische Spekulation und utopische Provokation, weil implizite Zurückweisung des Kapitalismus. Aber es gibt historische Beispiele, die diese Möglichkeit der ökologischen Ökonomie (statt ökonomischer Ökologie) stützen. Eventuell sind wir gar nicht so weit entfernt davon, so denken und handeln zu können – noch bevor wir es vielleicht müssen.
David Graeber, David Wengrow – The Dawn of Everything (Farrar, Straus and Giroux, 2021)
Das posthum erschienene Großwerk des Anthropologen und Kulturwissenschaftlers David Graeber (bekannt geworden durch sein Buch Bullshit Jobs) mit dem Archäologen David Wengrow ist ein gewichtiges und würdiges Vermächtnis. Angetreten, die Wissenschaft von der Genese und Historie der Menschheit noch einmal fundamental umzukrempeln, versuchen sie, die Geschichte der Anfänge und Umbrüche, die uns zu dem gemacht haben was wir heute sind, noch einmal ganz neu zu erzählen. Nämlich versuchsweise ohne die Schlagseite westlicher Zivilisationsdefinitionen, in Geschichten und Philosophien, die nicht von Aufklärung und Kolonialismus eingefärbt sind.
Etwas, das nach Graeber und Wengrows Verständnis auch die Institutionen und Disziplinen, innerhalb derer sie arbeiten, in Frage stellen sollte und daher nur interdisziplinär passieren kann. Wovon sich die beiden konsequenterweise zuerst verabschieden, ist daher der teleologische Leitgedanke einer Evolution von primitiven Gemeinschaften zu komplexen Gesellschaften. Hobbes lag falsch mit der archaischen Gewalt als menschlichem Urgrund der Zivilisation und Organisation. Aber auch Rousseau lag falsch. Denn direkt damit zusammenhängend lassen die Autoren auch den dialektisch-romantischen Gedanken fallen, dass archaische Gemeinschaften irgendwie freier oder egalitärer waren. Beides sind moderne Projektionen. Wie Graeber und Wengrow zeigen, waren theoretische Überlegungen und praktische Experimente wie ein Zusammenleben in Gruppen am besten funktionieren könnte, schon immer Teil der menschlichen Erfahrung – mit diversesten Lösungsansätzen und Ergebnissen. Die in einem solchen Zusammenhang vor allem von linker Seite gerne genommene Erzählung von der Entstehung der Ungleichheit und Ungerechtigkeit durch Eigentum – zu Beginn der Landwirtschaft entstanden und durch die industrielle Revolution maximiert – wird ebenfalls als ungenügend zurückgewiesen.
Graeber und Wengrow versuchen diesen linearen Ursprungsmythen komplexere Erzählungen entgegenzusetzen. So gab es etwa in vielen Gemeinschaften zu Beginn der Domestizierung von Tieren und Pflanzen und der damit verbundenen Erzeugung und Tradierung von Wissen und Autorität, meist patriarchal konnotiert, oft auch ein meist nicht patriarchal bzw. autoritär konnotiertes Wissen um natürliche Zusammenhänge, um Sammeln und Vorratshaltung, also Wissen, das deutlich seltener erzählt oder thematisiert und noch seltener formal weitergegeben wird. Diese unterschlagenen Wissensformen haben eine direkte Konsequenz für das Anthropozän. Gegen eine Ökologie des Ausschlusses und Verzichts, gegen eine Ökonomie des Wachstums (und dessen dunklen Spiegel einer Ökonomie des Mangels und der Austerität für viele) sehen die Autoren, wie zunehmend mehr Ökolog:innen und Ökonom:innen eben keine Apokalypse à la Malthus auf uns zurollen, falls wir es schaffen, die gegenwärtigen Sackgassen in Denken und Handeln zu vermeiden. Doch wie der verknoteten Logik von Grenzen und Kriegen, von Eigentum und gewaltsamer Aneignung entkommen? Eine mögliche Antwort, die das Buch nahelegt, aber nicht forciert, läge darin, die verschütteten Möglichkeiten der Vergangenheit genauer zu betrachten und daraus bzw. damit dem Bestehenden etwas eigenes, eine selbstgemachte soziale Realität entgegenzustellen. Graeber und Wengrow liefern dafür keine praktische Anleitung oder Ideologie. Dass es immer Alternativen gab und gibt, dass archäologisch und historisch belegt werden kann, dass die Dinge auch anders laufen könnten, ist der zentrale Punkt, den sie immer wieder betonen und mit empirischer Evidenz zu belegen versuchen. Die formale und inhaltliche Validität dieser Argumente ist in der Wissenschafts-Community, in der sich die beiden bewegen, durchaus umstritten. Kein wirkliches Wunder, stellen sie doch einige altbewährte Wahrheiten ihrer Sparten radikal in Frage. Aber nicht zuletzt durch diese Provokationen ist „The Dawn of Everything“ letztlich ein hoffnungsvolles, geradezu unverschämt optimistisches Buch, das vielleicht einige Diskurse eröffnet oder erweitert – unter den Kolleg:innen und überall sonst.