Fragmente einer GroßstadtHauptstadtvergleich: Rom – Berlin

Fragmente einer Großstadt Rom Berlin Full

Warum es sich lohnt, seine Gewohnheiten über Bord zu werfen ...

Welches sind wohl die zwei Hauptstädte Europas mit den meisten Gegensätzen? Ich meine nicht nur faktisch, nicht nur gemessen an Einwohnerzahl, Größe, Einwohnerdichte und Zahl der MiMiMis (entgegen vieler Annahmen gibt es diese Abkürzung übrigens schon eine Weile, trotzdem möchte ich kurz erwähnt haben: toller Track, Samy Deluxe!). Sondern auch Mentalität, Religiosität und Emotionalität berücksichtigend.

Um die Frage selbst zu beantworten, mangelt es mir noch erheblich an Hauptstadt-Reiseerfahrungen. Ein bisschen was habe ich allerdings am vergangenen Wochenende nachgeholt: Bella Roma! Das Attribut hat diese Stadt wirklich verdient, sie strotzt nur so von antiker Schönheit. Auch die RömerInnen sind schön, wenngleich ich nicht sonderlich viele von ihnen zu Gesicht bekam. Dafür aber umso massiger Menschen aller möglicher Nationen, um die ich mich herum schlängelte und die sich umgekehrt an mir vorbei schlängelten. Zwischen antiken Ruinen und meinen Mittouristen tauchte urplötzlich gelegentlich Frau Baumann auf, meine Lateinlehrerin aus der siebten Klasse. Sie schob sich gekonnt mit dem kleinen Finger ihre schmale Brille die Nase aufwärts und verlas antike Neuigkeiten aus Briefen an die tyrannischen Kaiser Trajan oder Domitian. Sie war nur eine Erscheinung vor meinem inneren Auge, doch wäre ich ihr wahrhaftig in Rom begegnet, hätte ich sie bestimmt auf einen Spritz eingeladen.

Ein Spaziergang durch Rom fühlt sich auch ohne die fatamorganische Unterhaltung mit Frau Baumann sehr surreal an. Gerade erholt man sich vom atemberaubenden Anblick tonroter pompöser Ruinen, geht um die Ecke und wird beinahe vom Obelisken inmitten eines marmorweißen vierköpfigen Brunnens erschlagen. Ziemlich ungewohnt, wo doch in Berlin das älteste Gebäude aus der Renaissance stammt.

Wo wir schon bei Gewohnheiten sind: Ich tat in Rom so einiges, was entgegen meiner war. Gezielt in Kirchen gehen (noch dazu in katholische!), um kühle, ruhige, goldene, von Ehrfurcht erfüllte Luft zu atmen und die Freskenmaler um ihr Talent und ihre Armmuskulatur zu beneiden. Handy-Panoramas vom symmetrischen Ausblick über die Stadt aufnehmen, gleich neben anderen Handy-Panorama-aufnehmenden Menschen, um den Moment vielleicht doch irgendwie zu konservieren. Ernsthafte Überlegungen unternehmen, am Sonntag in praller Sonne auf dem Petersplatz zu stehen, um einen ameisengroßen Papst auf einem Balkon zu sehen und seine Stimme verzerrt über einen Lautsprecher zu hören (wie gewohnt war ich dann doch auf dem Flohmarkt). Zum Mittagessen versuchen, die Gewohnheit aus dem Hirn zu streichen, um das Weißmehl in der Prima – Bruscetta – und der Seconda – Pizza – sowie das Gelato Pistacchio zum Dessert ohne schlechtes Gewissen zu genießen. Am frühen Nachmittag vor der Bar sitzen und sich von den orangeroten Freunden Aperol oder Campari Spritz den Geist vernebeln lassen (und spätestens damit dem nervigen Weißmehl-Spaßverderber-Gewissen einen Strich durch die Rechnung zu machen). 50 Kilometer in drei Tagen a piedi zurücklegen, um jede Ecke der Stadt entdecken zu können und sich nicht mit dem Segway anfreunden zu müssen. Das wohl gewohnteste Gefühl war das kühle Bier in der lauen Sommernacht auf offener Straße mit zig gleichgesinnten jungen Ragazzi, vielleicht noch ein bisschen lauter und temperamentvoller als in Kreuzberg oder Neukölln.

Mit etwas Abstand betrachtet, sind meine Gewohnheiten zur Hälfte durchaus auf italienische Leichtigkeit anpassungswürdig. Was den Hauptstadtvergleich angeht, hier noch die gute alte, nicht informative Schlussfolgerung meinerseits: Rom und Berlin kann man nicht vergleichen. Allerdings eins noch: Ich wünsche mir mehr lebensfreudige Pizza-essende, Eis-schleckende, Spritz-trinkende junge BerlinerInnen, die lieber zwei Stunden Mittagspause machen als nur eine. Und das alles ohne schlechtes Gewissen.

Kristina Wedel ist freie Illustratorin und lebt in Berlin-Neukölln. Wo andere ihre Smartphones mit nie wieder angesehenen Fotos füllen, hält sie ihren Stift – vorzugsweise einen einfachen, schwarzen Muji-Pen – bereit und zeichnet jene Eigenarten des urbanen Alltags, die sich nicht so leicht ablichten lassen. Für Das Filter erzählt sie jeden zweiten Mittwoch die Geschichten hinter ihren Bildern.

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