Mehr als Nachos und TequilaEine kulinarische Spurensuche in Mexiko
24.11.2016 • Leben & Stil – Text & Fotos: Ji-Hun KimMexikanische Esskultur erlebt in Europa gerade eine Renaissance und ist nicht nur bei Foodies ziemlich angesagt. Dabei gilt es vor allem mit einem schlechten Image aufzuräumen, das sich in den 1990er-Jahren festgefahren hat: Tex-Mex-Conveniencefood aus der Tiefkühltruhe, Texicana Salsa mit Erdnussflips, Tequila-Shots mit Plastik-Sombrero auf der Nase, fade Biere mit Limetten im Hals. Heute weiß man es – zum Glück – besser. Artisanale Drinks mit Mezcal werden in den edelsten Bars der Welt serviert. Mexiko war kürzlich Partnerland der Berlin Food Week und auf hippen Street-Food-Events hat man sich scheinbar an Pulled Pork und Burgern satt gegessen und rennt nun mit Tacos und Quesadillas herum. Und da ist noch so viel mehr: Ji-Hun Kim auf kulinarischer Spurensuche in Yucatan/Mexiko: Worum geht es beim mexikanischen Essen wirklich?
Kulinarisch bin ich durch die koreanische Küche meiner Mutter und der koreanischen Gemeinde im Ruhrgebiet geprägt worden. Deutsches Essen gab es eigentlich erst, als ich noch recht jung bei Kindergarten- und Schulfreunden zu essen war. Kimchi, Kochujang (fermentierte Chilipaste), knallig-frische, rote Schärfe – ich bin jahrzehntelang davon ausgegangen, dass die scharfe Paprikaschote aus Asien stammen müsste. Und lag gänzlich daneben. Angeblich brachten nämlich erst im 17. Jahrhundert portugiesische Seefahrer die Chilischote aus Südamerika nach Asien, wo sie gut gedeihen konnte und seither aus der chinesischen, vietnamesischen, thailändischen und vielen anderen asiatischen Küchen kaum noch wegzudenken ist.
Wenn man also eine kulinarische Reise nach Yucatan/Mexiko antritt, dann ist das eine Art Heimatbesuch bei der Chili. Und diese wird in Mexiko nahezu kultisch verehrt. Dutzende Sorten gibt es und vor allem die Habanero scheint hier einen besonderen Platz zu haben. Aber nicht nur die Chili hat ihren Ursprung in Lateinamerika. Schokolade, Kaffee, Mais, Kartoffeln, Vanille. Heute selbstverständliche Lebensmittel wären ohne Kolumbus wohl nie nach Europa gekommen: Zünftige Bratkartoffeln, Popcorn, Schweizer oder belgische Schokolade, italienischer Espresso. Die Einflüsse des amerikanischen Kontinents haben nicht nur in Asien ihre prägenden Spuren hinterlassen. Eine Reise nach Yucatan ist gewissermaßen also auch eine Entdeckung kulinarischer Wurzeln. Und auch ein Aufräumen mit Klischees. Chili con Carne mit Schmand und Baguette, Nachochips mit Käsesoße im Kino, Los Wochos – man ahnt, dass so richtig authentisch das alles nicht sein kann.
Wobei ein Klischee doch stimmt: Die Tortilla-Chips mit Guacamole und Salsa gibt es tatsächlich immer und überall. Ob in der Strandkneipe oder im 5-Sterne-Hotel, ein Mexikaner erklärt mir, dass die frittierten Mais-Tortillas früher als eine Art Besteck dienten. Chips statt Löffel und Gabeln, wenn das mal nicht praktisch ist. Allerdings ist es gar nicht so leicht, die Vielschichtigkeit der mexikanischen Küche auf einen kompakten Nenner zu bringen. Über 60 indigene Kulturen gibt es in dem Land, das erst 1810 von den spanischen Kolonialherren unabhängig wurde. Yucatan, die südöstliche Halbinsel, angrenzend an Guatemala und Belize, ist die Heimat der Mayas. Eine eigene Geschichte, eine eigene Sprache, eine eigene Esskultur – eine wichtige Basis zur Identifikation der dortigen Einwohner.
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Andreas Schatzschneider lebt seit zehn Jahren in Cancun. Der gebürtige Berliner arbeitete zuvor in den USA, ist heute Executive Chef im The Ritz-Carlton und ist ein großer Kenner der mexikanischen Küche. Für ihn ist sie eine vielfältige Mischung aus vielen Traditionen. Präkolumbianische, spanische, aber auch französische, asiatische und karibische Einflüsse machen sie aus. Der Norden des Landes hat viele spanische Einflüsse, wohingegen im Süden die Küche der Mayas sich stärker erhalten konnte. „Das mexikanische Essen ist Weltkulturerbe! In Mexiko ist Essen nicht nur Nahrungsaufnahme, es ist Leben, Liebe und Leidenschaft und von sehr großer sozialer Bedeutung. Es ist immer und überall beliebtes Gesprächsthemen. Man knüpft neue Freundschaften oder schließt Geschäfte ab und man verbringt gerne viel Zeit mit dem Essen und in Gesellschaft. In Deutschland isst man oft lieber schnell und einfach und verbringt nicht so viel Zeit mit der täglichen Nahrungsaufnahme, um sich anderen Dingen zuwenden zu können“, erklärt Schatzschneider.
Wichtige Lebensmittel und Zutaten, die einem immer wieder begegnen, sind Mais, Bohnen, Früchte, frisches Gemüse, Chilis, Limonen, Kakao, Vanille, Koriander, Avocado, Erdnüsse und Tomaten. Die reiche Vegetation des Landes spiegelt sich in den Gerichten wider. Und wenn man in Mexiko ist, merkt man, was für ein stolzes Land es ist. Trotz aller innenpolitischen Konflikte, scheinbar nicht zusammenzubringender Einflüsse aus dutzenden indigenen Kulturen, der historischen Verarbeitung der grausamen Kolonialisierung durch die Spanier: Das Essen hält die Menschen zusammen. Es ist identitätsstiftend, es verbindet, es ist nahezu das Fundament der mexikanischen Nation. Das gilt auch für die omnipräsenten Tacos. Weiche kleine Maisfladen, die mit allen möglichen, aber vor allem deftigen Füllungen mit Limettensaft beträufelt aus der Hand gegessen werden. Der Koch Pedro Evia aus Mérida, der als einer der besten des Landes gilt, beschreibt mir Tacos wie folgt: „Tacos sind mehr als nur Essen. Tacos sind ein Konzept, eine Kultur, sie sind das Spiegelbild der mexikanischen Seele.“
Leidenschaft ist ein Wort, das auch Andreas Schatzschneider immer wieder benutzt, wenn er die mexikanische Küche beschreibt. Gerade beim Nationalgericht Mole Poblano: Ein Geflügelgericht mit einer namensgebenden Soße aus Chili, vielen Gewürzen und Schokolade. Da beißt sich selbst ein Starkoch wie er die Zähne aus. „Mole Poblano ist ein Gericht aus vielen verschiedenen Zutaten und wird mit viel Tradition und viel Leidenschaft zubereitet. Bei der Mole-Soße gibt es eigentlich kein festes Rezept – fast jede mexikanische Familie hat ihr eigenes und „heiliges“ Familienrezept und natürlich ist keine Mole besser als die der eigenen Familie. Es ist praktisch unmöglich, diese „perfekt“ zuzubereiten.“ Bei so viel Euphorie über die mexikanische Küche: Gibt es denn überhaupt etwas, was Andreas Schatzschneider aus Deutschland vermisst? „Eigentlich nur das gute deutsche Brot und die leckeren Eintöpfe meiner Mutter“, meint der Chef mit einem Lächeln, sonst fehle es ihm in Mexiko an nichts. Es scheint, als habe jemand sein Glück gefunden. Und wen wundert's, bei all den herzlichen Menschen und dem immer warmen Wetter. Eine Woche lang war Das Filter in Yucatan unterwegs, um die Geheimnisse der dortigen Küche zu ergründen. Ein Bildertagebuch.
Ein typisches Bild: Ein Bauer verkauft Obst und Gemüse am Straßenrand in Valladolid.
Echtes Street Food: eine Taquería in Valladolid.
Pittoresk. Heute würde man instagrammy zu sagen. Ein wahrhaft traumhafter Strand in Yucatan.
Ein Klassiker der lateinamerikanischen Küche: Ceviche. In Limonensaft eingelegter Fisch und Meeresfrüchte, durch die Zitronensäure gegart und haltbar gemacht, angemacht mit Tomaten, Koriander und Limettensaft. Mit kühlem Bier und Blick aufs Meer – King for a day ... fool for a lifetime.
Auch gut: gegrillter Hummer mit knackig gegartem Gemüse und Reis. Oben links im Anschnitt zu sehen: Jamaica, ein mit Hibiskus-Sirup angerührtes Kaltgetränk, das an spartanische Abendbrote in westdeutschen Jugendherbergen erinnert und jede Cola neidisch in der Ecke schmollen lässt. Dezent süß, angenehm herb und ja, bei 35 Grad ziemlich erfrischend.
Mondän: der Eingangsraum des Edelrestaurants „Ku'uk“ in Mérida. Chefkoch Pablo Evia machte sein Geld einst mit einer Sushi-Kette (bzw. immer noch) und experimentiert nun hier mit seinem Team, um die Küche der Maya auf ein modernes und extravagantes Level zu hieven. Mit viel Sophistication und hohem Anspruch. Es erwartet die deutsche Delegation ein 13-Gänge-Menü. Fine Dining Time.
Sieht aus wie eine investigative Landkarte beim FBI, ist aber eine Kartographie lokaler Zutaten und Lebensmittel aus Yucatan. Akribisch forschen Evia und sein Team nach yucatekischen Gewürzen und Spezialitäten und markieren genau, wo was herkommt und wie sich die Dinge in Verbindung bringen lassen. Das würde auch Agent Scully gefallen.
Der zweite Gang im Ku'uk: ein yucatekisches Maisfeld. Gefriergetrocknete Varationen von Mais, süßlich knusprige Getreide- und Kakaonoten mit frischem Gemüse sollen die Vielfalt der lokalen Agrikultur widerspiegeln. Ein unprätentiöser, aber toller Teller.
Man möchte gar nicht wissen, wie lange die Küche an so einem essbaren Mandala sitzt. Für ungeduldige Köche ist das nichts. Dieser Teller nennt sich „Ta'uch, ya', chakalha'as, túuxbill t'aan“. Schokoladenpersimmon, Mameysapote, rote und schwarze Recados. Zutaten, von denen man keine Ahnung hat, wie sie in natura aussehen. Hier in einem kunstvoll arrangierten und dominant süß ausgerichteten Teller. Möchte man mit Pinzette essen, hat das Fahren mit der Gabel über den Teller doch die Filigranität eines betrunkenen Schaufelbaggers.
„Chakay, iik'ha“: Hummer und Habanero in einer kalten Kräutersuppe mit Apfel. Lauwarm trifft auf eiskalt, Fruchtsäure auf die vanillig-perfide Schärfe der Habanero. Essen in dieser Liga ist immer auch ein Spiel mit den Kontrasten, wenngleich der Hummer ein wenig trocken geraten war und die Suppe eher durch die Farbgebung, denn durch geschmackliche Ausgewogenheit überzeugen konnte. Aber vielleicht soll das so?
Kaum wieder zu erkennen: Blaukrabbe mit Mandarine, Zitrone, Cajera und Limette. Ungewöhnlich krispe Konsistenzen der im Ganzen zubereiteten Krabbe mit Zitrusfrüchten in allen denkbaren Aggregatzuständen. Überzeugend und spannend interpretiert.
Wie Chef Evia immer wieder beteuert, geht es ihm auch darum, klassische Zubereitungsarten der Mayas am Leben zu erhalten. So auch das Kochen am offenen Feuer. Für seine Küche hat er eigens einen Feuer-Rauchofen entwickeln lassen, in dem dieser Truthahn zubereitet wurde. Dieser Teller ist wie eine Vice aus den 00er-Jahren. Modern designt, geschmacklich grenzwertig. Ja, das Schwarze ist Asche, der rechteckige Truthahn bis an die Mumifizierung gegart und mit verkohlten Geschmacksnoten, die selbst einem offenen Gaumen nicht richtig einfahren wollen. Allerdings gehören Provokationen dieser Art mittlerweile zum Geschäft der gehobenen Küche. Mit Erwartungen spielen, Geschmäcker herausfordern, dramatisch orchestrieren, das eingelullte Publikum aufwecken. Eben als wenn man als DJ in der Panoramabar Macarena spielt. Kann gut gehen, muss aber nicht.
Zur Versöhnung schickte Evia diesen Zwischengang. Knackig fluffige Schweinehaut mit Chicharron. Eine hervorragend gemachte Umami-Explosion im Prinzenrollen-Design. Intensiv, simpel und muskulös-kernig.
Noch so eine „Herausforderung“. Wild, Blutwurst, Chocolomo. Die feinen Perlen auf dem Teller sind geliertes Blutkaviar und trotz des ästhetisch ansprechenden Arrangements ist dieser Gang etwas, das man wollen muss. Oder man müsste besser wissen, was die Referenz der Speise ist. So als würde man Currywurst-Eis essen, ohne zu wissen, was eine Currywurst ist. Dismissed. Doch zum Glück gab es vier ausgezeichnet fein gemachte Desserts. Zwei davon seht ihr jetzt.
Der Hauptmarkt Lucas de Gálvez in Mérida ist ein vibrierender, intensiver, rauschhafter und spannender Ort. Hier spielt sich das wahre kulinarische Leben der Mexikaner ab. Tortillabäcker, Bauern, Fleischer, Vogelhändler, Fischer. Dicht aneinandergereiht bei schwül-dunstigen Gerüchen und schillernden Farben. Dieser einheimische Kollege ahnte wohl, dass er fotografiert wird. Yo.
Wie ein Schrein: Chilisoße nebst Chilisoße nebst Chilisoße nebst Gewürzen.
Ein klassischer Ceviche-Stand am Markt Lucas de Gálvez. Garnelen, Pulpo, Muscheln in großen durchsichtigen Plastikgefäßen suchen hungrige Abnehmer.
Ein Quesadilla-Stand in Mérida. Ein tolles Essen, vor allem, wenn es so gut gemacht ist wie hier. Neben Füllungen wie Rind und Hähnchen gibt es auch Varianten mit Kaktus oder Zucchiniblüte. Preis: 13 Pesos, umgerechnet 60 Cent.
Zum Abschluss der Reise ging es nach Cancun ins Ritz-Carlton, wo uns Chefkoch Andreas Schatzschneider erwartete. Der gebürtige Berliner lebt und arbeitet seit zehn Jahren in Mexiko und servierte ein exzellentes Sechsgänge-Menü mit einer ausschließlich aus mexikanischen Produkten bestehenden Weinbegleitung. Rechts im Bild präsentiert er eine Eigenkreation, die er für den Abend erfunden hat: Mexikanisches Bier mit Mango im Salzrandglas. Geschmacksimpression: Margarita trifft auf Fruchteis auf Biergarten. Erfrischend und frech wie eine abgebrühte Kreuzberger Thekenkraft.
Getrüffelte Maissuppe, Königskrabbe, Teekrautsalz. Kennt man hierzulande so ziemlich genau eine Sorte Mais, gibt es in Mexiko wohl hunderte Versionen. Diese Suppe interpretiert Mais mit Fokus auf die röstig-honigähnlichen Aromen der Pflanze. Ein süßliches Geschmacksspiel, das in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit ein verschmitztes Lächeln hervorzaubert. So viel Smartheit hätte man dem profanen Korn nie zugetraut.
Es gibt Teller, deren Namen sind so lang, da braucht es keine Kommentare: Tintenfisch, Avocado, Zitrusfrüchte, Baja California Olivenöl, Jakobsmuschel, Rettich, Portulak, Ahi Paprika.
Hoja Santa ist ein mexikanischer Blattpfeffer, der auch Makulan oder Ohrenpfeffer genannt wird. Hier bedeckt er einen zart gegarten Seebarsch. Anbei: Tomate, Saubohne und Temózon-Rauchfleisch.
Des weiteren kamen an dem Abend Wachtel und Foie Gras mit Quinoa und Agavennektar, gegrilltes Rinderfilet, so wie mexikanisches Schokoladen-Fondant mit Tequila und Beeren. Charmanter Twist am Ende von Andreas Schatzschneider: Zu der Pâtisserie kam ein Kalter Hund mit Biskuit statt Keks. Man bekommt den Berliner aus dem Ghetto, aber den Kalten Hund nicht aus dem Berliner – oder so ähnlich.