Beim nächsten Ton ist es viertel nach Y2KAutechre, GAS, Suzanne Ciani und This Heat: Vier Reissues, mindestens so viele Meinungen

Roundtable-Reissues-lead

Kurz vor Jahresende widmet sich die musikalische Filter-Roundtable-Gang einem Phänomen, das auch 2016 den Tonträger-Markt im Allgemeinen und den des Vinyls im Besonderen am Leben erhalten hat: Reissues. Egal ob Neuauflagen nicht mehr erhältlicher Titel oder die Veröffentlichung oft zu recht vergessener Archiv-Funde: Das Geschäft mit der alten Musik boomt und ist längst ein von der Musikindustrie gnadenlos ausgenutzter Absatzhandel, mit dem die Fans nur zu gerne ihre digitale Bequemlichkeit kompensieren. Die britischen Post-Punks von This Heat haben Anfang der 1980er-Jahre mit ihren Alben dem Pop wichtige Impulse geliefert. Kann man nun nachhören. Genau wie die ersten drei Alben von Autechre, die es heuer wieder auf Schallplatte gibt. Elektronika-Meilensteine auf Doppel-Maxi. Wolfgang Voigt hingegen gönnt sich und seinem GAS-Projekt, den vielleicht wichtigsten Ambient-Platten der Neuzeit, ein aufwändiges Box Set mit Vinyl, CDs und Fotobuch. Und die Synthesizer-Pionierin Suzanne Ciani stellt zwei lange Live-Jams in die Läden, die sie 1975 vor Publikum an ihrem Buchla-System aufgeführt hat.

Kristoffer: Okay, jetzt sitzen wir hier auf mehr als 20 Stunden Musik, die 2016 wiederveröffentlicht wurden. Das ist schon mal relativ behämmert. Dann sind alle der ausgewählten Artists wieder aktiv: Suzanne Ciani hat dieses Jahr mit Kaitlyn Aurelia Smith ein neues Album veröffentlicht, Autechre sind auf Tour, This Heat ebenso (unter dem Titel, na klar, This Is Not This Heat), Gas macht auch wieder Live-Shows. Gut, okay. Und nun?

Thaddeus: Wir reden über Reissues, richtig?

Kristoffer: Genau. Davon gab es 2016 gefühlt mehr denn je. Was vielleicht auch am Fliegensterben der Popstar-Riege lag, da muss ja schnellstmöglich nachverwertet werden. Immerhin: Wir haben uns für Lebende entschieden.

Thaddeus: Noch können wir umschwenken, Autechre Autechre sein lassen und uns hingegen nur darüber unterhalten, dass 2016 zwei alte Säcke kurz nach der VÖ ihrer Alben gestorben sind.

„Ich schätze an Pop das Gegenwärtige, aber das gerät wegen dieser Schwemme von Reissues etwas aus dem Blick.“ (Christian Blumberg)

Christian: Ich versuche mal einen ganz allgemeinen Anfang. Ich glaube es war AtomTM, der mal in einem interview erzählte, dass die iTunes-Bibliothek seiner Kinder eigentlich algorithmisch kuratiert und deshalb eine rein ästhetische Angelegenheit aus lauter Lieblingsliedern sei. Da schwang vielleicht als Vorwurf mit, dass das überhaupt nichts mit einer Bibliothek im herkömmlichen Sinne zu tun habe, in der alles fein nach Alben und Erscheinungsjahr geordnet wäre, mit einem gewissen Anspruch auf Vollständigkeit. Kurz: Es fehle jedes Geschichtsbewusstsein. Dabei ist doch dieses post-historische Hören gerade toll. Reissues arbeiten gewissermaßen gegen so einen geschichtsvergessenen Zugriff, weil das Reissue-Wesen immer auch sagt: „Hör dir dieses Album an, das war 1979, da gab es das und das, dann kamen so und so, die haben als Reaktion dann dieses und jenes gemacht. Und wenn du das nicht hörst (kaufst), dann wirst du nicht kapieren, was seitdem geschah!“ Ich schätze an Pop ja das Gegenwärtige, aber das gerät wegen dieser Schwemme von Reissues etwas aus dem Blick, da gibt es sozusagen einen Rollback, einen Rückzug in die Geschichtsschreibung.

This Heat Portrait Roundtable Reissues

This Heat. Foto: Promo

Kristoffer: Musst du da jetzt den inneren Simon Reynolds rausholen? Klar lässt sich sagen: So eine 10-fach-LP-Box (lol?) von Gas hat natürlich schon Eichentruhenqualitäten. Andererseits könnte ich dagegen halten: Das bedeutet gleichzeitig auch eine Aktualisierung. Cianis Reissues etwa fallen mit einer allgemeinen Rezeption ihres Werks zusammen, die sie wieder – oder, besser gesagt, endlich – ins Spotlight rücken. Die Frau hat früher bei Phill Niblock im Loft die Buchlas fritzeln lassen und dann lange nur Coca-Cola-Werbespots untermalt. Dass sie auch dank der Reissue-Maschinerie wiederentdeckt wurde, ist ein Segen. Auch eine Platte wie die „Deceit“ von This Heat ist vielleicht aktueller denn je. Das war zumindest mein Soundtrack am 9. November. Die Story ist, grob gesagt, die einer post-katastrophalen Welt, sprich ungefähr das, was sich Leute wie Žižek von einer Trump-Wahl erhofft haben. Musikalisch aber wird dieser potentiellen Utopie total entgegen gesteuert. Das finde ich sehr gegenwärtig.

Thaddeus: Ich höre das nicht.

Christian: Ich zugegebenermaßen schon. Ist ja auch toll, dass man This Heat eine neue Gegenwärtigkeit abringen kann, aber beim Großteil der wiederveröffentlichten Musik gelingt mir das nicht.

„Für wen sind diese Reissues eigentlich?“ (Thaddeus Herrmann)

Thaddeus: Ich lerne also folgendes: Ciani ist das weibliche Pendant zu Raymond Scott. Das ist ja putzig, hatte ich nicht auf dem Zettel, dass sie sich mit Auftragsarbeiten über Wasser gehalten hat und ihre vermeintliche Frustration dann am Buchla ausgelassen hat, für ihre eigenen Kompositionen. Gute Sache. Aber den Wandel der Musik-Rezeption beim digitalen Konsum, in Zeiten der Playlisten, finde ich besonders interessant. Wollen wir noch ein bisschen dabei bleiben? Die Frage ist ja: Was passiert mit diesen Boxen und Neupressungen, wo doch mittlerweile vollkommen klar ist, dass die nur für die Sammlung, also für das Regal produziert und verkauft werden? Im Alltag konsumiert man ja meist nur noch einzelne Tracks, die in Playlisten auftauchen, ob in eigenen oder von den Streaming-Buden gemachten. Ich saß kürzlich mit einer iTunes-Redakteurin unterm Kronleuchter. Darf ich eigentlich nicht drüber reden, hat Apple nicht so gerne, aber scheiß drauf. Die behauptete ja steif und fest, dass alle Platten, die bei Apple Music irgendwie gefeatured werden, von Menschen gehört werden. Auch von ihr. Und dann bewertet werden. Glaubt doch niemand, oder? Wie kommt die Musik heute von A nach B, also bei uns an?

Kristoffer: Naja, gut. Das sind ja nun wieder ganz andere Fragen. Aber klar, fragen wir doch einfach mal nach der Praktikabilität so einer Gas-Box. Zehn Zwölfzoller, ein Haufen CDs – das zieht nur jemand aus dem Regal, der dementsprechend eingeschneit ist. Das sind nun wirklich Bayreuther Verhältnisse. Was mich wieder denken lässt, dass dieses megalomanische Format genau das richtige im falschen ist. Allerdings finde ich die Diskussion müßig. Denn dass hier schlicht Objektfetische bemüht werden, ist doch klar. Und vielleicht erlaubt uns das wiederum einen Schluss zum Thema: Würde so ein Autechre-Album anno 1993 heute noch so rezipiert werden? Können wir auch bei „Eleq 1-5“, den aktuellen Platten, fragen: Hätte sich jemand das angehört, wären es nicht Autechre gewesen? Klar: rhetorische Fragen. Die Antworten lauten nein und nein. Und nun?

Thaddeus: Hören wir mal This Heat.

Kristoffer: Genau, gut. Du hörst da nichts, du fühlst da nichts. Warum nicht? Wir sind hier zwei gegen einen. Erklär dich, Thaddeus!

Thaddeus: Dankenswerterweise sitze ich ja schon in der hintersten Ecke am Küchentisch, ich kann mich also im Notfall gut verteidigen. Lärmt ja ganz gut los, letztendlich finde ich This Heat aber nicht so heiß. Warum war die Band nochmal relevant?

Kristoffer: Weil sie die Geilsten sind. Und das ging so: Die erste Platte erschien 1979, zwei Jahre nachdem Punk den Löffel abgab. Darauf zu hören war ein bisschen prätentiöser Noise-Industrial-Drone-Kram, toll, aber vielleicht nicht weiter bemerkenswert. Das haben andere – wie etwa in Deutschland P16.D4 – noch viel radikaler und besser gemacht. „Deceit“ aber brachte Punk mit genau diesen Spielereien zusammen und fügt noch etwas hinzu, was dieser Platte meiner Auffassung nach ihren Dreh verleiht: komische, merkwürdige Pop-Momente, fast folkig eigentlich. Bei dem Song „Makeshift Swahili” denke ich sogar an die Beach Boys. Stimmharmonien, Mitsingrefrains, sowas. Das ergibt inmitten dieser Kakophonie eine Radikalität, die alle anderen Post-Punk-Bands der Zeit – Joy Division, Gang of Four, you name it – total abging. Deswegen relevant. Martin Büsser hat mal was Tolles über This Heat geschrieben und die Testcard hat sich auch nach einem ihrer Songs benannt. Das ist vielleicht eine Randnotiz, aber letztlich denke ich schon, dass diese Band gewissermaßen einen neuen Umgang im Wirrwarr von Punk und seinen Folgen geschaffen hat, oder, peinlich-pathetisch gesagt: ein kritisches Bewusstsein.

Thaddeus: Die Testcard-Referenz lasse ich natürlich gelten, dennoch gilt bei mir: Die besten Post-Punk-Bands waren die, die den Punk in die Post steckten, ohne Absender abschickten und sich Synthesizer kauften.

Kristoffer: Ha, jetzt sind wir doch wieder bei der Frage der Geschichtlichkeit.

Christian: Ah, mein Stichwort! Ich finde besonders das Debüt von This Heat sehr geil, will mich aber eigentlich gar nicht an der Rezeption beteiligen. Trotzdem: This Heat kann man ja zu einem pophistorischen Dreh- und Angelpunkt verklären. Wofür stehen die nicht alles: für an Avantgarde-Musiken geschulte Post-Punks, für Collagen und Quasi-Industrial. Für Texte, die sich dem gesellschaftspolitischen Duktus ihrer Zeit verweigern, aber trotzdem den kommenden Atomschlag mitdenken oder Analogien zum Roman Empire aufmachen. Dann aber auch wieder für Postmoderne avant la lettre, schon wegen totaler Struktur-Zerfaserung. Bam. Tatsächlich kann man einen Song wie „Makeshift Swahili“ spielen und glaubhaft behaupten, dass da einerseits der Sound eines Labels wie Alternative Tentacles bereits angelegt ist, der Song aber irgendwie auch nach den Beatles klingt – sagte Kristoffer ja alles schon. Wenn man also eine Ideengeschichte von Popmusik zeichnen wollte, dann wären This Heat so ein Nukleus des Visionären. Und ich schätze mal, dass das wahnsinnig hohe Verehrungslevel, das This Heat genießen, sich eben schon aus einem Denken generiert, das Pop am liebsten in eine Infografik pressen würde, in ein Schaubild aus Pfeilen und Verbindungslinien. Da fangen dann meine Probleme an. Nicht mit This Heat, sondern mit diesen Entwürfen von Popgeschichte und letztlich auch mit den Reissues, weil sie diese Entwürfe immer wieder reproduzieren.

Kristoffer: Okay, da sind wir vielleicht an so einer Art „End Of History“-Diskussion angekommen. Als stünden im heimischen Regal nicht schon genug Bücher mit diesen Worten auf dem Cover. Letztlich aber verbindet vielleicht genau das die Platten, die wir uns – relativ willkürlich – ausgesucht haben. Als ich Autechres „Incunabula“ wiedergehört habe, sprach daraus für mich auch eine gewisse Enttäuschung über die miesepetrigen Verzuckungen des „Second Summer Of Love“, der nur eben einen Sommer dauerte und in großen Enttäuschungen versumpfte. Vielleicht aber lese ich das tatsächlich nur rein, eventuell also bin ich also auch nur Opfer dessen, was du hier ankreidest. Die Frage ist allerdings: Was nun – nur noch Musik aus dem Hier und Jetzt hören?

Christian: Nein, gar nicht. Ist doch total legitim, Autechre als Symptom einer Zeit zu hören. Das finde ich sogar viel besser als die blinde Heldenverehrung, die gerade Autechre ständig erfahren. Aber das ist natürlich trotzdem ein Versuch der Ordnung, wie ihn gewisse Teile des Popjournalismus ständig unternommen haben. Und das mündet immer schnell darin, dass mir erklärt wird, warum irgendetwas von Bedeutung ist. Da geht es oft nur um Deutungshoheit: „Das war so eine wichtige Platte und ich erkläre jetzt mal warum.“ Da waltet eine Art der Rezeption, die ich gerne in der Mottenkiste sähe, um die man bei Reissues aber kaum drumherumkommt, weil es schließlich eine Legitimation für die Wiederveröffentlichung eines Albums braucht. Wir könnten das ja jetzt, am Beispiel aller Alben, die hier auf dem Tisch liegen, auch machen.

Suzanne Ciani Porträt

Suzanne Ciani

Kristoffer: Außer bei Ciani! Wir reden da von einer total untergegangenen Aufnahme einer kaum beachteten Künstlerin, die eher in der Industrie tätig war als dass sie im Scheinwerfer gestanden hätte. Ihre Aktualität ist durch das Wiederaufflammen des Buchla-Worships bedingt. Was ihre beiden Konzertmitschnitte von 1975 (!) zeigen, ist doch, dass die das damals wesentlich besser konnte als es die ganzen Nackenbart-Boys, die heute um Schneiders Laden rumstreichen, jemals könnten.

Thaddeus: Sie kann das besser, weil sie es erfunden hat?

Kristoffer: Das aber muss nicht zwangsläufig der Fall sein. Autechre haben’s auch erfunden, wurden aber zwischendurch stinklangweilig. Und so sehr ich deren Frühwerk auch liebe, ich sehe es vor allem als Symptom beziehungsweise in seinem historischen Kontext. Wolfgang Voigt hat es schon cleverer angestellt. Dub oder meinetwegen Ambient Techno ist Loop-Musik und die generiert ihre eigene Zeitlosigkeit. Gerade, wenn sie dann noch Wagner sampelt. This Heat aber sind für mich, pardon, ich weiß ja, aber: zeitlos. Vielleicht auch, weil sie’s smart angestellt haben und den Nietzscheanischen Käse von der Ewigen Wiederkehr aufgerufen haben – dennoch.

Christian: Moment mal, dieses „XY haben’s erfunden“, das ist doch genau dieses blöde journalistische Argument. Und andererseits auch das Verkaufsargument. Also Suzanne Ciani: Das ist ein tolles Tondokument und streng genommen ja auch gar kein Reissue, sondern ein archivarischer Fund, der jetzt geborgen wurde. Das ist natürlich erstmal – ähem – „spannender“ als einfach ein Album neu aufzulegen. Etwas zu „spannend“ wird es dann aber beim Blick auf die Paratexte. Von Seiten des Labels heißt es, die Veröffentlichung dieser Aufnahme mache eine partielle Neuschreibung der Musikgeschichte bzw. eines Kanons nötig. Und dass es sich bei Ciani um einen dezidiert weiblichen Gegenpart zu Morton Subotnick handele. Zitat: „You have found a holy grail of electronic music and a female musical pioneer.“ Da wird also eine Ausgrabung gefeiert, so wie das in der Kunst ja viele Jahre auch Pflichtprogramm war, dass man dem Archiv immer wieder Arbeiten entriss, die bahnbrechend und zugleich vergessen sein sollten. Und das ist einfach ein total schwieriger Konnex der Kriterien, weil das ganz bahnbrechende Zeug dann eben doch nicht so einfach vergessen wird, wie sich das Kuratoren oder Plattenlabels vielleicht manchmal wünschen. Ich freue mich ja über das Emanzipatorische, aber in diesem Text steckt schon ein Sensationalismus, der über den normalen Jubelton eines Pressetextes hinausgeht. Da kann Suzanne Ciani auch nichts für, aber dieser Tonfall gehört offensichtlich zum Geschäft. Und darunter ist wohl schlechterdings nichts mehr zu machen: Wenn man regelmäßig solche Texte liest, stellt man fest, dass der Heilige Gral mittlerweile mehrmals pro Woche gefunden wird. Und so ein Gral nutzt sich auch mal ab. Bei dieser Aufnahme handelt sich vielleicht doch eher um eine Fußnote, wenngleich um eine sehr schöne Fußnote, so wie Fußnoten überhaupt oft das Allerschönste sind.

Kristoffer: Hast du schön gesagt. Jetzt ist die Fußnote aber gerade dabei, in den Fließtext zu rutschen. Wie gesagt, Ciani produziert neue Musik und wird dafür wahrgenommen. Finde ich nicht verkehrt. Der jubilatorische Duktus dieser Presseschreiben ist natürlich grauenhaft, zumal 90 Prozent der Reissues zurecht untergegangen sind oder lange Zeit nicht im Verkehr gehalten wurden. Aber gehen wir doch mal von den Beißreflexen der Musikjournaille weg und fragen uns: Was – abgesehen vom Objektfetisch, der sich ans Format Vinyl-Box mit Linernotes bindet – reizt eigentlich das Publikum an solchen Neuauflagen? Der Kram verkauft sich ja.

Thaddeus: Hi! Ich habe jetzt mehrere Möglichkeiten. Entweder ich geh’ in die Kneipe und lass euch hier machen, oder ich sag’ was dieser speziellen Art des Musikjournalismus, von dem ich offenbar nie ein Teil war, weil ich Musik zwar auch immer versuche zu kontextualisieren, aber vor allem auf einer persönlichen Ebene. Die habe ich immer als einen spannenderen Dreh empfunden. Der große Kanon interessiert mich nicht die Bohne, weil es den einen Kanon ja sowieso nicht gibt. Das ist die Art von Musikjournalismus, die mir immer fremd war, mit der ich auch nichts zu tun haben möchte. Erklärbär-Dons, die dann die Feuilleton-Sessel besetzen. Ich merke aber auch, wie schnell man sich angreifbar machen kann in so einer Situation. Denn sobald einem eine Platte etwas bedeutet, will man für sie sprechen, sie vielleicht sogar verteidigen, und tritt genau in die Falle der Linernotes-Euphorie. Wir können aber auch über die Zeitlosigkeit von vor ungefähr 10.000 Zeichen reden. Ihr könnt euch entscheiden.

Kristoffer: Okay, dann gehen wir einfach mal auf die Musik. Warum haben wir die ausgewählt? Ich habe für Ciani plädiert, weil ich diese Neuentdeckungsarie sehr spannend finde, die weniger über die Musik als solche als vielmehr über die verwendete Hardware geht. Da ist nicht Vinyl das Trägermedium, sondern die Geräte. Bei This Heat reizte mich wiederum – wie schon gesagt – der Gedanke, dass das 35 Jahre später meines Erachtens immer noch oder besser schon wieder brandaktuell ist. Das sind weitestgehend außermusikalische Faktoren, klar. Aber können wir, wenn wir über Reissues sprechen, eigentlich noch in anderen Termini reden? Wohl eher nicht. Ich hoffe auch seit Langem auf diverse Reissues von verlorenen japanischen Platten aus den Achtziger Jahren – weil ich die bei YouTube rauf und runter höre. Völlig bescheuert, denn ich kann diese Musik überall hören. Ah, shit, wir sind schon wieder beim Anfang. Zuhülf, Nietzsche!

Christian: Ich kann das nicht gut trennen, das Musikalische von all dem anderen. Ich hatte GAS vorgeschlagen, weil das für meine musikalische Sozialisation wichtig war. Beim erneuten Hören merke ich, dass es für mich immer noch wahnsinnig gut funktioniert, weil es so viele problematische Reflexe anspricht. Das Spätromantische, der mystische Anteil und die offensive Einladung, in dieser Musik aufzugehen: Das sind für mich mindestens ambivalente, tendenziell sogar gefährliche Sachen. Andererseits habe ich von Wolfgang Voigt auch viel über Loops gelernt, über den Umgang mit Samples und auch über Wiederholung und Differenz. Techno eben. Aus diesen Widersprüchen lässt mich GAS auch 2016 nicht raus. Ich kann die nach wie vor nicht auflösen, und gerade das macht den Reiz aus. Das sagt jetzt aber noch nichts übers Format des „Box Set“, das wäre das andere Thema.

Kristoffer: Nee, selbes Thema womöglich. Was du da beschreibst, ist doch eine gewisse – hach, schon wieder dieses Wort – zeitlose Lektion. Voigt als teacher. Dazu braucht es nun eben aber kein Box-Set. Wir wollen das aber schon, weil es eine große Klammer bedeutet in diesem konkreten Fall. Voigt bringt, ganz wagnerianisch, einen Gesamtkunstwerkanspruch mit sich. Deshalb meinte ich vorhin, dass es schon irgendwie Sinn ergäbe, den Kram so bizarr überfettet aufzulegen. Die Ambivalenz lautet da: „Es geht doch eigentlich nur um die Musik” versus „Nein, ich will diese tresortürdicke Box bei mir zuhause haben.” Können wir das irgendwie auflösen? Zumindest bei Autechre scheinen mir die Reissues – weil vergleichsweise simpel aufgemacht und kostengünstig – nicht ganz mit so krassen Ansprüchen versehen.

Autechre Portrait

Autechre. Foto: Promo

Thaddeus: Die kommen genauso raus wie im Original damals. Sind ja auch nicht die ersten, zwischen 2000 und 2001 wurden die genauso schon mal neu veröffentlicht, offenkundig, weil damals die Gebrauchtpreise unerträglich und in keinster Weise gerechtfertigt waren. Damals waren es die originalen Stamper, am Sound änderte sich also rein gar nichts. Ob die neuen Versionen jetzt Remasters sind, weiß ich gar nicht, müsste man mal überprüfen, ist aber auch nicht weiter wichtig. Das Warp’sche Frühwerk wird heute ja von einer neuen Generation rezipiert, gleichzeitig ist Vinyl wieder beliebt, nun gibt es die Platten wieder, da muss man gar kein Bohei drum machen. Eigentlich. Trotzdem macht Warp bei diesen simplen drei Doppel-LPs genau das: Brüllen einem „Vorbestellen“ ins Facebook-Ohr. Geht wohl nicht mehr ohne. Immerhin gibt es keine Box. Ich hab nichts gegen Box Sets, wer sich sowas gerne kauft, soll das tun. Wichtiger ist doch eigentlich nur, dass die Musik in allen Formaten verfügbar ist. Das ist bei Autechre wichtig, bei GAS, bei This Heat bestimmt auch. Diese Box-Set-Nummer hat sich hoffentlich in ein paar Jahren auch wieder erledigt.

Kristoffer: Dann soll Warp doch zumindest die The Other People Place neu auflegen! Die lässt sich zumindest auflegen, und zwar im Club.

Christian: Aber warum ist das nun wichtig, dass Musik in allen Formaten verfügbar sind? Nochmal GAS-Box und Objektfetisch: Da gibt es jetzt ellenlange Discogs-Threads, in denen sich Leute darüber beschweren, weil da ab Werk ein Fingerabdruck auf ihrem Vinyl ist, oder weil es irgendwo – auf zehn Platten! – mal ein bisschen knackt. Und das bei Musik, die voller intentional beigemischter Vinyl-Geräusche ist. Hä? Also geht es offensichtlich nur um Sammeln und Wertschöpfen. Da ist doch, wenn ich das mal ganz altbacken sagen darf, null Gebrauchswert.

„Sowieso wurde in den letzten zwei, drei Jahren viel mit Formaten herumgefickt.“ (Kristoffer Cornils)

Kristoffer: Interessanter Weise aber wirkt sich das bereits auf aktuelle Release-Strategien aus. Prince Of Denmark kommt mit einer 8-fach-LP-Box ums Eck, gerade zur Weihnachtszeit. Erleben wir die Bobdylanisierung des Techno? Sowieso wurde in den letzten zwei, drei Jahren viel mit Formaten herumgefickt, meistens aber ging es da vor allem um eins: Verwertung. Die cash cow melken, bevor sie veganisiert wird. Dabei ist das Box Set in Zeiten von Spotify theoretisch voll erledigt und, wie Kanye West dieses Jahr deutlich machte, das Album als solches ist kein fixes Format mehr. Der hob dieses Jahr das erratische Release-Verhalten von Soundcloud-Peeps in den Mainstream. Das ist Gegenwart, um wieder beim Anfang anzuschließen. Reissues in formeller Hinsicht natürlich nicht. Aber kann das jetzt unser Schlusswort sein?

Christian: Ist doch toll, dass es „The Life Of Pablo“ in keiner endgültigen Version gibt. Das – wenn es nach Kanye geht – Album des Jahrhunderts und man kann es nicht kaufen. Das macht einige Leute wahrscheinlich verrückt.

Thaddeus: Mich ein bisschen, ja.

Christian: Vielleicht bin ja auch nur so anti, weil ich als Jugendlicher durch den WOM gelaufen bin und Leute verachtet habe, die sich solche 10-CD-Boxen gekauft haben. Und jetzt passiert das der Musik, die mir was bedeutet. It hurts.

Kristoffer: Mimimimimi (Translated by Bing). Ist aber das, was uns West dieses Jahr vor den Latz geknallt hat, nicht genau das, was uns Autechre und auf eine Art auch Gas versprochen haben? Musik als sich ewig Gleiches, sich ständig Wandelndes. „Flutter“ ist doch eigentlich „The Life Of Pablo“ avant la Twitter.

Thaddeus: Ich habe nichts dagegen, wenn Künstler einem Album etwas hinzufügen, es erweitern. Tracks zu tauschen oder gar zu löschen, finde ich aber irgendwie nicht ok. Da bin ich altmodisch. Das ist einer meiner größten Kritikpunkt am Streaming überhaupt. Ich „kaufe“ eine Platte. Die hat ein Cover. Vielleicht gefällt mir das ja sogar. Und dann – drei Monate später – fehlt plötzlich ein Track und das Cover ist anders. Was soll denn das? Ist doch blöd. Ich mag die Idee des Albums vor allem deshalb, weil es einen Lebens- oder Zeitabschnitt des Künstlers repräsentiert. Das heißt nicht, dass man es ausschließlich von A bis Z hören muss, im Gegenteil. Es ist eher so ein Orientierungspunkt.

Kristoffer: Wieso? Okay, Kinderfrage, aber: Wir leben in einer grundsätzlich anderen medialen Welt, als es die von uns besprochenen Artists taten. Wichtig für einen West ist nicht, dass irgendwer seine Platte kauft – das bringt nur einmal Kohle. Wichtig ist, dass sie oft gehört wird. Das bringt Tantiemen. Zudem dieses aufgelöste Format eben auch zu der Art und Weise passt, in welcher die junge Generation, wenn sie nicht gerade am fly sein ist, Musik konsumiert. Das Kunstwerk ist nicht mehr reproduzierbar, es morpht. Guck auf deine Smartwatch, ist viertel nach Y2K!

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