Plattenkritik: Weyes Blood – And In The Darkness, Hearts AglowWie man Perfektion im 21. Jahrhundert destilliert

weyes blood And In The Darkness, Hearts Aglow cover

Das aktuelle Album der US-amerikanischen Künstlerin Weyes Blood ist in vielerlei Hinsicht ein großes Stück Pop. Es ist fantastisch produziert, aber es ist auch ein Statement für den Gegenwartsbestand von Musik und schenkt Hoffnung, dass Großes immer dann passiert, wenn man nur daran glaubt.

Wenn man nostalgisch auf vergangene Jahrzehnte zurückschaut, dann spielt auch immer eine große Portion Naivität mit. War die Welt in den 60ern, 70ern oder 80ern wirklich so viel besser? Will man wirklich mit einer Zeitmaschine in die „goldenen Zwanziger“ zurückreisen, in ein so kurzes Jahrzehnt zwischen zwei verheerenden Weltkriegen? Verklärung hängt bei solchen Gedankenspielen in jeder einzelnen Ritze. Nichtsdestotrotz dürften popmusikalisch die 1970er-Jahre eines der großartigsten musikalischen Jahrzehnte gewesen sein. Großartige Musik, großartige Produktionen, großartiges Songwriting, großartige Künstler:innen – es war zweifelsohne eine fantastische Dekade und in ihrer Opulenz wohl einmalig, weil alles, was darauf folgte: Punk, New Wave, EBM, Synth-Pop auch eine Reaktion auf diese schillernden Jahre gewesen sind.

Die Musikerin Natalie Laura Mering alias Weyes Blood wurde 1988 in Santa Monica geboren, wuchs in Pennsylvania auf. Ihr Vater spielte in den späten 70ern Gitarre in der Band Sumner. Mit 15 begann sie als Wise Blood Songs zu schreiben. Eine Referenz an den gleichnamigen Roman von Flannery O’Connor aus dem Jahr 1952. Später wurde Weyes Blood daraus. Mittlerweile hat Natalie Mering fünf Alben veröffentlicht. Das erste noch wurde selbst veröffentlicht, die folgenden zwei wurden auf Mexican Summer releast. Dann kam der Wechsel zu Sub Pop. 2019 erschien ihr viel beachtetes Album „Titanic Rising“, das als Start einer Album-Trilogie gedacht und nun ist der zweite Teil „And in The Darkness, Hearts Aglow“ erschienen.

Die Entwicklung der 34-Jährigen zu beobachten, lässt den Glauben an die Musik zurückkehren. In den Karrieren von heute ist vieles schwierig geworden. Aufwändige Aufnahmen sind immer unmöglicher zu realisieren, Touren im Ausland sind auch nicht einfacher geworden. Das Berufungs-Bild von Musiker:innen gerät zunehmend ins Wanken und die Frage besteht, was in Zukunft daraus wird, wenn es sich nur noch die wenigsten leisten werden können, ihr Leben dem Schreiben und Machen von Musik zu widmen.

„And in The Darkness, Hearts Aglow“ ist ein faszinierendes und versöhnliches Album. Auch weil es zeigt, dass Popmusik heute nicht wie Mainstream-Rap von mehreren Dutzend Menschen im Akkord produziert werden muss und dass es keine viralen TikTok-Hits braucht, um überhaupt eine Existenzberechtigung im Geschäft zu haben. „And in The Darkness, Hearts Aglow“ lässt die großen 70er-Jahre wieder aufleben, ohne dabei eklektisch oder kitschig zu sein. Man mag bei der Intonation an Karen Carpenter denken, wenn im Refrain die Vocal-Spuren gedoppelt werden. Die fantastische Carole King erkennt man genauso wie die Göttin Joni Mitchell. Aber es sind die reichhaltigen Arrangements, die tolle Instrumentierung und die stets klug und gefühlvoll geschriebenen Songs, die einem sagen: Musik im 21. Jahrhundert kann noch immer üppig, organisch und perfekt sein. Die Zusammenarbeit mit dem Produzenten Jonathan Rado funktioniert kongenial und meine Vorbehalte, dass nach „Titanic Rising“ das Level kaum gehalten werden könnte, wurden schnell widerlegt. „And in The Darkness, Hearts Aglow“ ist keine Reminiszenz an eben genannten Verweise, das Album stellt sich selbstbewusst in den selben Ring und beweist, dass das Spiel mehr als beherrscht wird – es ist ebenbürtig. Es ist auch deshalb nicht retro, weil man sich hier nicht an alten Größen abarbeitet oder am Sockel klopft, sondern rückblickend erkannt hat, dass die 70er quasi die Königinnendisziplin im Pop sind. Vielleicht ist das im 21. Jahrhundert sogar mutiger als vermeintlich progressiv Songs mit Hilfe von Künstlichen Intelligenzen zu produzieren und das als Fortschritt der Musik zu vermarkten.

Zwischen „Titanic Rising“ und „And in The Darkness, Hearts Aglow“ liegen die zwei Jahre der Lockdowns und sozialen Isolation. Das liest sich in dem Album zweifelsohne (wo auch nicht?), aber auch das geschieht nicht plakativ. Vielmehr erscheinen die Songs in dieser Auseinandersetzung klarer und eindeutiger, gewachsener und weniger verwaschen. Was wird in Teil 3 der Trilogie passieren? Wie geht man mit einen Druck, der selbst so hoch komprimiert wurde? Das werden wir sehen und hören, wenn es so weit ist. So lange haben wir dieses Meisterwerk an Album. Aber so wie „Tapestry“ von Carole King oder Joni Mitchells „Both Sides Now“ seit über fünf Jahrzehnten Bestand haben, wird mit Sicherheit auch „And in The Darkness, Hearts Aglow“ einige Jahre, wenn nicht länger, Glück und Hoffnung spenden. Musik bleibt. Zeitlose Klassiker sowieso. Alles wird gut.

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