Der goldene Bär der 68. Berlinale ging an Touch me not von Adina Pintilie. Für Tim Schenkl war das Highlight des Festivals jedoch ein anderes: Grass von Hong Sangsoo war im Forum zu sehen und zählt zu den besten Arbeiten des Südkoreaners der letzten Jahre.
Auf die Frage, warum die recht expliziten Sexszenen, die in eigentlich jeder seiner frühen Arbeiten eine wichtige Rolle einnahmen, im Laufe seiner Karriere immer mehr verschwunden seien, antwortete der heute 57-jährige Hong Sangsoo einmal mit einem hintergründigen Lächeln auf dem Gesicht, dass er sich beim Schreiben seiner Drehbücher vor allem mit Dingen beschäftige, die momentan eine wichtige Rolle in seinem Leben und Denken spielen. Sollte diese Herangehensweise immer noch aktuell sein, dann könnte man fast ein wenig Mitleid mit dem südkoreanischen Regisseur bekommen. Denn schon seit längerer Zeit drehen sich die Gespräche seiner Protagonisten nicht mehr vorwiegend um die großen Drei seines bisherigen Werks, Liebe, Suff und Kunst, sondern es drängen vermehrt auch Themen wie Krankheit, Schuld, Verlust- und Existenzangst in den Vordergrund.
Schon bei Hong Sangsoos letztem Berlinale-Beitrag On the Beach at Night Alone gab es für den Zuschauer kaum noch etwas zu lachen, und auch The Day After, ein in Schwarz und Weiß gefilmtes Beziehungsdrama, es war 2017 im Wettbewerb von Cannes zu sehen, ließ jegliche Heiterkeit vermissen. Die Zeit der Liebeskomödien des Regisseurs, dessen Filme häufig mit denen Woody Allens verglichen werden, scheint vorerst vorbei zu sein. Hong Sangsoo befindet sich offensichtlich in seiner Interiors-Phase – auch wenn ein weiterer Film mit dem Titel Claire’s Camera, in dem Isabelle Huppert die Hauptrolle spielt und der ebenfalls 2017 in Cannes zu sehen war, den internationalen Kritiken zufolge wohl einen etwas vergnügteren Ton anschlägt.
Grass heißt der neue Film von Hong Sangsoo, der bei einem Publikumsgespräch während der Berlinale auf die Frage, was es denn mit dem Filmtitel auf sich habe, lapidar antwortete, ihm sei einfach nichts Besseres eingefallen. Wenn auch die Wahl des Titels etwas willkürlich erscheint, der Rest des Films ist es mit Sicherheit nicht. Hong Sangsoo ist „back in form“ und liefert mit Grass nach mehreren etwas schwächeren Arbeiten wieder einen durch und durch präzisen und äußerst konzentrierten Film ab, dem man die fast schon verloren geglaubte Lust seines Regisseurs an der Inszenierung für die Kamera endlich wieder in jedem Moment anmerkt. Immer wieder entwickelt die Kamera eine Art Eigenleben, perspektiviert das davor Gezeigte neu und lässt Szenen so in einem anderen Licht erscheinen. Dazu kommen mehrere fantastische Plansequenzen, die trotz ihrer technischen Einfachheit nur als virtuos bezeichnet werden können. Besonders bemerkenswert ist jedoch die thematische Weiterentwicklung, die der koreanische Meisterregisseur mit Grass vollführt.
Fast der komplette Film spielt in einem kleinen Café in Seoul. Eine junge Frau (Kim Minhee) belauscht die Gespräche der anderen Gäste und notiert diese auf ihrem Laptop. Als ein Mann sie fragt, ob sie Schriftstellerin sei, antwortet sie: „Nein, ich schreibe nur.“ Die erste Konversation, die die Frau, die keine Schriftstellerin ist, mithört, findet zwischen einem Mann und einer Frau statt. Die beiden streiten. Die Frau gibt dem Mann die Schuld am Selbstmord einer gemeinsamen Bekannten. Hong Sangsoo zeigt die komplette Szene, ohne zu schneiden. Die Kamera zoomt heran, schwenkt zwischen den beiden hin und her, das Bild öffnet sich wieder, am Ende verfolgt die Kamera den Mann, der aufsteht, um vor der Tür eine Zigarette zu rauchen.
Die Nichtstuer kommen in der Realität an
Auch die zweite Szene des Films thematisiert einen Selbstmord. Ein Schauspieler in seinen Fünfzigern hat vor einiger Zeit aus Liebe versucht, sich umzubringen. Darüber hinaus ist er in Streit mit dem Chef seiner Theatertruppe geraten. Trotzt seines jahrelangen Engagements für die schönen Künste steht er plötzlich völlig mittellos da und versucht, eine Bekannte, die in die Provinz gezogen ist, davon zu überzeugen, ihn bei sich aufzunehmen. Später im Film kommt die Selbstmordthematik noch ein weiteres Mal auf den Tisch, als eine junge Frau von ihrem männlichen Gegenüber für den Freitod eines Uniprofessors, der in einen Skandal verwickelt war, verantwortlich gemacht wird.
Wie immer bei Hong Sangsoo sind eigentlich alle Protagonisten Künstler: Schauspieler, Maler, Autoren oder Regisseure. Altbekannt ist auch die Tatsache, dass diese, abgesehen vielleicht von ein paar Pinselstrichen oder einigen getippten Worten, niemals wirklich bei der Arbeit gezeigt werden, denn das Faulenzen und Rumhängen wird schon immer in den Filmen Hong Sangsoos groß geschrieben. Neu ist jedoch, dass der Müßiggang zum Problem wird. Die Nichtstuer aus der Kunstszene werden von der harten Realität eingeholt. Nicht einmal die Flucht in die Trunkenheit ist ihnen noch vergönnt. Eigentlich ist das Saufgelage, bei dem sich die leeren Sojuflaschen auf dem Tisch stapeln, fester Bestandteil eines jeden Hong-Sangsoo-Films, doch in Grass findet die Trinkerei fast nur noch als Möglichkeitsform statt. Zumeist wird Kaffee bestellt und vom Alkoholtrinken nur noch gesprochen. Ein paar Schlucke beim Essen, am Ende wird noch ein Fläschchen in das Café geschmuggelt, und trotzdem scheint es, als sei Hong Sangsoo komplett ernüchtert.
Grass
KOR 2018
Regie: Hong Sangsoo