No Peace – No PussyFilmkritik: Spike Lees „Chi-Raq“

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Fotos: Parrish Lewis / Da Chi Pictures LLC

In Spike Lees neuem Film wehren sich die Frauen der Chicagoer Ghettos mit einem Keuschheitsgelübde gegen die Gang-Gewalt. Chi-Raq ist ein karnevalistisches Rap-Musical und politische Utopie zugleich.

Wenn sich in Francis Ford Coppolas Der Pate die fünf großen New Yorker Mafiafamilien treffen und über den Einstieg in den Drogenhandel abstimmen, sind sich alle bis auf den skeptischen Traditionalisten Vito Corleone einig: Den Gewinn dieses Geschäfts möchte man sich nicht entgehen lassen. Man vereinbart aber den Handel allein auf die schwarzen Stadtteile zu beschränken: „They’re animals anyway, so let them lose their souls“, sagt Don Zaluchi. Coppola hat in dieser Szene die sich abzeichnende Crack-Epidemie der 1980er-Jahre bereits vorausgesehen, die in den afroamerikanischen Vierteln verheerende Schäden anrichten sollte. Zwar hatte sich ab den frühen 1970er-Jahren die Situation schwarzer Amerikaner durch langwierige Bürgerrechtskämpfe, Stärkung der lokalen Communities und ihren vermehrten Einzug in Polizei und Justiz durchaus verbessert. Die Entstehung einer schwarzen Mittelklasse hinterließ jedoch auch ein schwarzes Subproletariat. Drogen, Gangs, Gewalt und wenig Perspektiven. Daran hat sich bis heute nicht genug geändert.

Chicago heute: Seine Bewohner ziehen mittlerweile die Bezeichnung Chi-Raq dem ursprünglichen Stadtnamen vor. Zwischen 2001 und 2007 starben in den Ghettos von Chicago mehr Menschen durch Waffengewalt als amerikanische Soldaten im Irak. Spike Lee beginnt dementsprechend sein neuestes Werk mit einem Warnhinweis in blutroter Schrift: „This is a national emergency!“ Entgegen dieser ernsten Einleitung ist Spike Lees Film aber ein befreit voranpreschendes Vehikel, ähnlich der Chicagoer Hochbahn, deren immer wieder eingestreute Aufnahmen die Elemente des Films miteinander vernähen.

##Frieden beginnt mit Keuschheit
Dabei basiert Chi-Raq auf Aristophanes' antiker Komödie Lysistrata, in der friedensbewegte Frauen durch Sex-Entzug ihre kriegführenden Männer zur Vernunft bringen. Das heißt, die Dialoge haben meist eine theatrale Reimform und Samuel L. Jackson führt als erklärender Chor in Dandy-Montur durchs Geschehen. Aber der Reihe nach: Lysistrata (Teyonah Parris), laut Jackson das bestaussehendste Mädchen von Chicago, hat genug vom Lebenswandel ihres in Gang-Kriege mit Cyclops (Wesley Snipes) verwickelten Rapper-Freundes Chi-Raq (Nick Cannon). Um den fortwährenden Schießereien zwischen den verfeindeten Gangs Spartans und Trojans ein Ende zu bereiten, tut sich Lysistratas Clique mit den Freundinnen der anderen Gang zusammen und startet ein Friedensprojekt für die Community. Motto: „No Peace – No Pussy!“

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Spike Lee, der Quentin Tarantinos Django Unchained damals als zu seichtes Spektakel im Kontext des Sklaverei-Themas verurteilte, macht hier alles richtig und sublimiert die Entrüstung, die Wut und das ernste Anliegen als kritischer Filmemacher zu einem satirischen Karneval. Chi-Raq ist ein klassisches Hollywood-Musical mit Blaxploitation-Anstrich, in dem sich wohldosierte Spuren von Russ Meyers Geschlechterkämpfen und dem entfesselten Kitsch-Willen eines Baz Luhrmann wiederfinden.

Die Spike Lee gerne nachgesagte Spießigkeit bezüglich der US-amerikanischen race relations streift er in Chi-Raq gänzlich ab. John Cusack darf als weißer Pastor in afrikanischen Gewändern vor seiner um ein Schießerei-Opfer trauernden schwarzen Gemeinde einen leidenschaftlichen Rundumschlag gegen Gang-Kultur und institutionellen Rassismus predigen. Lysistrata und ihre Mitstreiterinnen legen auf der Mitte des Films eine Tanzperformance in Keuschheitsgürteln hin. Der weiße Bürgermeister legt sich in Tutanchamun-Kostüm zu seiner schwarzen Frau ins Ehebett, die zu seinem Erschrecken den mittlerweile von internationalen Frauengruppen aufgegriffenen Keuschheitsgürtel-Trend ebenfalls praktiziert. Dave Chappelle beschwert sich über seinen frauenlosen, nunmehr zum Club der einsamen Hustler verkommenen, Stripladen und schickt probeweise einen Kollegen an die Stange: „The situation's outta control, I´m in front of an empty stripper pole!“.

Die Diffusion von theatralen Reimen und afroamerikanischem Chicago-Soziolekt funktioniert im Film ausgesprochen gut, auch wenn sie eine Gratwanderung darstellt. Wer Theater ins Kino tragen möchte, verlangt vom Kunstwerk damit für gewöhnlich einen kulturbourgeoisen Mehrwert. Nicht aber in Chi-Raq: Die im Film gesprochene Mischform aus Slang und parodierter Theaterkultur ist nur ein Aspekt jenes befreiten, karnevalistischen Grundtons, mit dem sich der Film an alle realen Schrecknisse und Probleme heranwagt. An diesen synthetisierten Code, der im Film mal parodistisch, mal als Punchline, als Protestruf oder als Predigt gesprochen wird, ist auch eine politische Wunschvorstellung von gemeinsam agierenden Intellektuellen und Arbeitern geknüpft: Die proletarischen Frauen aus dem Ghetto beraten sich mit der von Angela Bessett gespielten Intellektuellen aus der schwarzen Mittelschicht ganz anti-elitär über das weitere Vorgehen. In den USA hat der Film bereits viele Kontroversen ausgelöst, Spike Lee kann sich also zurücklehnen: Er hat das Richtige getan.

Chi-Raq
USA 2016
Regie: Spike Lee
Laufzeit: 127 min

Screenings während der Berlinale:
Mi, 17.02., 22:30 – Kino International
So, 21.02., 22:00 – Friedrichstadtpalast

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