„Es herrscht ein Klima der Angst“Wie die Politik von Recep Erdoğan die türkische Community in Deutschland spaltet

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Der drastische Staatsumbau, den der türkische Präsident Recep Erdoğan derzeit vorantreibt, verändert nicht nur das Land selbst und die internationale Politik. Das angestrebte Präsidialregime, über das die Türken am 16. April in einem Referendum abstimmen sollen, spaltet auch die Communities im Exil, so auch hier in Deutschland. Der Psychologe Kazim Erdogan kennt die Probleme und Ängste seiner Landsleute in Berlin-Neukölln wie kaum ein anderer: Seit zehn Jahren kümmert er sich mit seinem Verein „Aufbruch Neukölln“ um ihre Sorgen und Nöte. Probleme löst man dann, wenn man über sie redet. Doch genau das wollen immer weniger. Die Angst vor Repressalien wächst. Monika Herrmann hat Kazim Erdogan dazu befragt.

Neukölln ist bekannt für die gute Nachbarschaft zwischen den Bewohnern unterschiedlicher Kulturen. Viele Menschen türkischer Herkunft leben hier. Alte, junge, fromme Muslime, aber auch solche, die noch nie in einer Moschee waren. Doch die gute Nachbarschaft bröckelt zunehmend. Stattdessen herrschen heute Angst, Misstrauen und Denunziationen. Grund ist die Politik des türkischen Präsidenten, der seinen Machtausbau durch Verfassungsänderung auch mit Hilfe der in Deutschland lebenden Türken realisieren will. Denn stimmberechtigt beim im April anstehenden Referendum sind auch alle Deutschtürken mit doppelter Staatsbürgerschaft. Und zwei Pässe haben die meisten der hier lebenden Türken. Viele Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland protestieren gegen die Bestrebungen der Regierung in Ankara und sehen die Demokratie in der Türkei in großer Gefahr. Andere hingegen jubeln Erdoğan zu. Die Community ist gespalten wie nie zuvor.

Auch in Neukölln: Der Psychologe und Sozialarbeiter Kazim Erdogan lebt seit vielen Jahren hier. Der Gründer der Selbsthilfegruppen für muslimische Männer will, dass wieder Frieden einkehrt. Sein Rezept: Miteinander reden, nicht hassen.

Herr Erdogan, als wir uns im letzten Sommer zum Interview trafen, freuten Sie sich auf den nahen Ruhestand. Daraus ist nichts geworden, oder?
Aufgrund der politischen Situation gibt es aktuell viel Aufregung und Ärger hier im Kiez, von Ruhestand kann also keine Rede sein. Neukölln hat sich in den letzten Monaten extrem verändert. Die politischen Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und Deutschland haben schlimme Auswirkungen auf die türkische Community. Aber: Es ist ganz wichtig, besonnen zu reagieren und das Beste daraus zu machen.

Ist das friedliche Zusammenleben der hier lebenden Menschen türkischer Herkunft vorbei?
Naja, die Community ist gespalten – in zwei Lager. Da sind die Erdoğan-Anhänger und seine Gegner. Ich finde das traurig. Es gibt nur noch ein Schwarz-Weiß-Denken. Bisher gab es gab immerhin noch eine „Mitte“, die versuchte, die verfeindeten Lager zu verbinden. Die ist jetzt komplett weggebrochen.

„Die Menschen haben Angst, ihre Meinung zu sagen.“

Was bedeutet diese Spaltung für den Alltag der Menschen, die ja bisher eigentlich als Nachbarn gut zusammen lebten?
Alle sind sehr vorsichtig geworden in ihrer Kommunikation. Man überlegt genau, was man sagt und was nicht. Die Angst, man könne falsch verstanden werden, ist riesig groß. Das gab es in der Vergangenheit überhaupt nicht. Da war man offen und ehrlich. Die Toleranzschwelle der Menschen ist fast ganz verschwunden. Ich bedauere, dass es kaum Politiker gibt, die eingreifen und zur Toleranz und Mäßigung aufrufen. Mittlerweile ist es ja so, dass fast niemand aus der Community mehr bereit ist, sich in Interviews klar und deutlich zu äußern. Ich bin da wohl eine Ausnahme. Die Menschen haben Angst, ihre Meinung zu sagen. Ich finde das gefährlich, wenn Menschen nichts mehr sagen, weil sie Angst haben, ihre Äußerungen könnten schlimme Folgen haben. Als Psychologe sehe ich: Das hat auch Folgen für ihre Gesundheit. Sie rutschen beispielsweise in Depressionen oder leiden unter Schlafstörungen. Ich plädiere deshalb dafür, die Ängste ernst nehmen und vor allem wieder miteinander ins Gespräch kommen. Egal, welche Meinung die Einzelnen haben.

Was kann passieren, wenn hier lebende Türken ihre Meinung sagen? Sie leben doch in Sicherheit. Die Türkei ist weit weg.
Aber fast alle haben dort Verwandte. Also sagen sie: Vielleicht erreichen meine Äußerungen die Türkei. Ich will nicht, dass meiner Familie etwas passiert, wenn ich hier in Berlin die Politik Erdoğans kritisiere und meine Meinung offen ausspreche. Sie fürchten Denunziationen. Nach dem Putschversuch dort haben ja über 120.000 Menschen – Staatsbedienstete – ihre Arbeitsplätze verloren. Also man will durch Meinungsäußerungen in Deutschland nicht diejenigen Familienangehörigen gefährden, die noch in Lohn und Brot sind. Auch die vielen willkürlichen Festnahmen sorgen bei den hier lebenden Zuwanderern für Angst. Und dann lesen sie in den Medien auch noch, dass der Arm meines Namensvetters von der Türkei bis nach Europa reicht. Alles Auslöser für Ängste, die ihr Leben verändern.

Kazim Erdogan

Kazim Erdogan, Gründer der Neuköllner Männergruppen. Foto: Von Aziz.b in der Wikipedia auf Deutsch - Selbst fotografiert, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20225392

Aber es gibt auch diejenigen, die keine Angst haben und gegen die Politik Ihres Namensvetters protestieren. Haben die keinen Einfluss auf ihre ängstlichen Landsleute?
Wer protestiert, hat meistens nur die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie brauchen also keine Angst vor der Willkür des türkischen Staatsapparates zu haben. Aber für die mit doppelter Staatsbürgerschaft ist die Situation eine andere. Auch der Journalist Deniz Yücel, der jetzt in einem türkischen Gefängnis sitzt, ist durch seine doppelte Staatsbürgerschaft abhängig von der türkischen Regierung. Ich denke außerdem, dass viele Menschen es nicht gelernt haben, mit der Angst zu leben. Sie lassen sich von der politischen Entwicklung beeinflussen. Sie kommen zu mir in die Beratung und erzählen von ihrer Angst und von der um ihre Verwandten in der Türkei. Und sie sagen: Ich will in der Türkei weiter meinen Urlaub verbringen, da möchte ich in Ruhe gelassen werden von der Polizei.

„Ich sehe es als meine Aufgabe, die Situation objektiv und ohne Angst darzustellen.“

Sie haben auch die doppelte Staatsbürgerschaft, sagen aber offen Ihre Meinung zu den aktuellen Ereignissen. Haben Sie keine Angst?
Ich versuche die Angst zu ignorieren. Denn ich bin mir keiner Schuld bewusst. Ich habe nichts falsch gemacht. Als Psychologe sage ich sowieso, dass Angst ein schlechter Begleiter ist. Das ist meine Überzeugung, die ich versuche weiter zu geben. Dennoch sagen sehr viele Freunde und Bekannten zu mir: Pass auf. Überlege, was du sagst und wem du es sagst. Halte dich zurück und rede nicht mit jedem Medium. Ich will aber nicht schweigen und rede trotzdem, zum Beispiel mit Ihnen. Die Journalisten müssen doch wissen, was los ist, welche Probleme es gibt, dass muss öffentlich werden. Ich sehe das als meine Aufgabe, die Situation objektiv und ohne Angst darzustellen.

Sie arbeiten seit Jahrzehnten als Psychologe und Sozialarbeiter in Neukölln, haben die legendären Väter-Gruppen gegründet und den Verein „Aufbruch Neukölln“. Das Zusammenleben der türkischen Community hatte sich aufgrund auch Ihres Engagements positiv verändert. Geht das jetzt alles den Bach runter?

„Ich erwarte von deutschen wie türkischen Politikern jetzt eine Ansage.“

Die Menschen kommen nach wie vor zu mir in die Beratung. Die sozialen Probleme im Kiez haben ja auch zugenommen. Allerdings fragen die Ratsuchenden jetzt weniger oder stellen überhaupt keine Fragen mehr. Vor ein paar Jahren war das anders. Ich merke also, dass eine sehr niedergeschlagene, bedrückte Stimmung herrscht. Wenn ich meine Klienten frage, wie sie sich gerade fühlen, sagen sie, dass sie sich dazu nicht äußern wollen. Die Angst spielt also selbst in den Beratungsgesprächen eine Rolle, in denen es um ganz alltägliche Dinge geht. Ich erwarte eigentlich von deutschen wie türkischen Politikern jetzt eine Ansage. Niemand muss Angst haben, niemand muss sich fürchten. Aber das ist wohl eine Illusion.

Dialog auf Augenhöhe

Gibt es tatsächlich Ihres Wissens nach hier in Neukölln Denunzianten, die der Erdoğan-Regierung zuarbeiten?
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß auch, dass sich diejenigen, die dem türkischen Staat jetzt zujubeln und die Fahnen schwenken, als Versager fühlen. Sie sagen, ich bin in Deutschland nichts geworden, ich fühle mich aussortiert, weil ich Muslim und Ausländer bin. Auch sie sind im Grunde genommen ganz normale Menschen. Manche sagen: Erdoğan hat uns eine Stimme gegeben, wir sind jetzt wieder wer in der Welt, wir sind stolz auf diesen Politiker. Wichtig scheint mir jetzt, dass wir trotz unterschiedlicher Meinungen zueinander finden, wieder ein Miteinander schaffen. Ich sage immer: Jeder sollte auf seine Zunge achten, denn die kann zum härtesten Stein der Welt werden und viel zerstören. Meine Bitte ist, dass sich jeder überlegt, wie er oder sie Worte und Meinungen formuliert. Wir brauchen eine versöhnliche Sprache, eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe.

Wie schätzen Sie das Ergebnis des Referendums ein?
Das weiß kein Mensch. Aber ich weiß, dass längst nicht alle der hier lebenden Türken ganz genau wissen, um was es überhaupt geht bei der Abstimmung. Das hat auch etwas mit den Bildungsunterschieden zu tun. Wer viel liest, interessiert ist an politischen Debatten, ist einfach besser informiert. Solche Menschen wählen bewusster als diejenigen, die nur auf Namen und Parolen fokussiert sind. Die entscheiden aus reinem Bauchgefühl. Der Inhalt des Referendums erreicht sie gar nicht. Das ist ein Riesenproblem.

Hier im Haus treffen sich seit über zehn Jahren türkischstämmige Männer. Väter, die miteinander reden, weil sie die patriarchalen Verhältnisse in den Familien abschaffen wollen. Sind diese „Babas“ auch politisch in zwei Lager gespalten?
Selbstverständlich. Es gibt in diesen Gruppen auch Väter, die lautstark und selbstbewusst ihre Meinung sagen. Manche pro, andere contra Erdoğan. Andere sagen: Nein, ich möchte mich zum Referendum und der Politik in der Türkei nicht äußern. Auch hier gibt es Angst, ganz schnell in eine Ecke gestellt zu werden. Oder es ist die Angst um ihre Verwandten im Heimatland. Diese Ängste müssen wir durchbrechen, auch wenn das ein langer, steiniger Weg ist. Daran müssen sich alle beteiligen.

Was heißt alle? Auch die Moscheen?
Natürlich. Nicht nur die Moscheen, sondern alle Institutionen. Vereine, Clubs, Stiftungen, Cafés, Väter- und Müttergruppen, Stadtteilinitiativen, egal in welchen Kiezen. Wichtig ist, die Türen offen zu halten und niemanden auszugrenzen, damit das Klima der Angst verschwindet.

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