»Understanding Digital Capitalism«In was für Zeiten leben wir? – eine Einführung

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Was würde Karl Marx zu Facebook und Twitter sagen? Was passiert, wenn Menschheitsaufgaben zu Unternehmenszielen werden und das Internet zur Meta-Struktur einer neuartigen, digitalen Ökonomie? Unser Autor Timo Daum erklärt und durchleuchtet diese und andere Fragen in unserer neuen Reihe »Understanding Digital Capitalism«. In dieser Einführung geht es neben der Begriffsklärung um digitale Paradoxien, Oligarchien und wieso der Digital Capitalism gekommen ist, um zu bleiben.

Würde Karl Marx heute auferstehen, fände er eine paradoxe Situation vor. Auf der einen Seite gibt es das Internet, eine weltweite, überstaatliche, kostenlos nutzbare Infrastruktur für Kommunikation und Produktion. Und es gibt Google, deren erklärtes Ziel es ist, „die Informationen der Welt zu organisieren und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu machen“, und es gibt die Plattform Facebook, die es allen ermöglichen will, „mit den Menschen in ihrem Leben in Verbindung zu treten und Inhalte mit diesen zu teilen“. Das hört sich doch nach positiver Utopie und entwickeltem Kommunismus an!

Darüber hinaus könnten wir ihn erfreuen mit der Nachricht, dass die meisten Forderungen aus dem Kommunistischen Manifest mittlerweile erfüllt sind: Zulassung von Gewerkschaften, Gleichberechtigung der Frauen, kostenlose Schulbildung und progressive Einkommensteuer – zumindest in den entwickelten Länder ist das zum Standard geworden.

Auf der anderen Seite müssten wir ihm aber schweren Herzens mitteilen, dass immer noch kapitalistische Verhältnisse herrschen. Dass Privateigentum, Kapital, Unterschiede zwischen Arm und Reich sowie Geld verdienen müssen nach wie vor globale Realität sind. Dass alte Fragen nach politischer Repräsentation, sozialer Gerechtigkeit und sinnvoller Ressourcenverteilung immer noch auf der Tagesordnung stehen. Dass viele Forderungen, die einst von Kommunisten formuliert wurden, um eine neue Gesellschaftsordnung zu erkämpfen, heute geradezu als Wesensmerkmale der bürgerlichen Gesellschaft gelten, beispielsweise die rechtliche Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung in den USA und anderswo.

Dass die oben erwähnten Google und Facebook profitorientierte Unternehmen sind, die auf der Suche nach Verwertung um den Globus jagen wie einst die East India Company. Und dass die zugrundeliegenden Infrastrukturen vortrefflich harmonieren mit einem neuen Kapitalismus, der keine industriell hergestellten Waren mehr produziert und verkauft, sondern den Zugang zu digitalen Daten organisiert.

Wir leben im Digitalen Kapitalismus, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Die Reihe Understanding Digital Capitalism versucht Phänomene, Hintergründe und Zusammenhänge des Digitalen Kapitalismus zu beleuchten und bewegt sich im Spannungsfeld Technik-, Medien- und Ideologiekritik.

Manifest der kommunistischen Partei Deckblatt

##Der Digitale Kapitalismus
Wie können wir die heutige Zeit beschreiben? Globalisierung und Neoliberalismus sind Stichworte, vielleicht auch pensée unique (Jean-François Kahn) oder Sachzwang-Logik (Robert Kurz). Allerdings war der Kapitalismus schon immer global, und die Regimes in China oder im Nahen Osten lassen sich schwerlich als neoliberal bezeichnen. Zweierlei wird weltweit quer durch alle politischen Lager hingenommen, akzeptiert und affirmiert: die kapitalistisch verfasste Ökonomie einerseits und die digitale Vernetzung andererseits.

Kapitalistische Verhältnisse sind alternativlos, darin stimmen die Linke mit der Rechten, Angela Merkel mit Wladimir Putin, die chinesische KP mit der ISIS überein – bei allen politischen, religiösen und kulturellen Differenzen. Selbst der Islamische Staat ist ein kapitalistisches System, das reibungslos Geldökonomie und Scharia zu vereinbaren vermag. Einigkeit herrscht auch beim Internet: Die Linke freut sich über die Rolle von Facebook während des Arabischen Frühlings, Angela Merkel twittert, Wladimir Putin hat einen professionellen Facebook-Auftritt und 164 Millionen Chinesen sorgen für 23 Milliarden Dollar Online-Umsatz (2012, A.T. Kearney). Die Affirmation von Digitalisierung, Vernetzung und E-Business ist ihnen allen gemeinsam.

Der Begriff „Digitaler Kapitalismus“ fasst beides zusammen: die Alternativlosigkeit kapitalistischer Verhältnisse einhergehend mit der Notwendigkeit, Sachzwänge der Waren-Ökonomie zu akzeptieren, und die unkritische Haltung, die der digitalen Netz-Ökonomie entgegengebracht wird.

Karl Marx hat es als Charakteristikum der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ausgemacht, dass ihre „technische Basis […] revolutionär [ist], während die aller früheren Produktionsweisen wesentlich konservativ war.“ (Marx, MEW Bd. 23, S. 506) Der Kapitalismus transformiert sich selbst durch technische Revolutionen, wird aber dadurch niemals in Frage gestellt oder gefährdet. Im Gegenteil: Er geht immer wieder gestärkt aus diesen hervor.

Die Transformation hin zum digitalen Kapitalismus geschah in zwei Etappen. Zunächst gerät der Fordismus – ein Gesellschaftsmodell, das auf industrieller Massenproduktion und Massenkonsum bei relativem Wohlstand aufbaut – in die Krise: Die mikroelektronische Revolution verallgemeinert seit den 70er-Jahren die Nutzung von Computern in der Produktion und macht sie als personal computer zur Massenware. Seit den 90er-Jahren und der Erfindung des World Wide Web durch Tim Berners-Lee findet in einem zweiten Schritt eine globale Vernetzung statt – das Internet wird zur Meta-Struktur der digitalen Ökonomie.

##Das Digitale Paradox
Wir sprechen von Digitalem Kapitalismus, wenn der Austausch digitaler Informationen über Datennetze in den Mittelpunkt der ökonomischen und gesellschaftlichen Aktivitäten gerät. Wenn Informationen zur Ware Nummer eins werden. Was ist so besonders daran? Gibt es grundsätzliche Unterschiede zu Produkten oder Dienstleistungen, die für einen kapitalistischen Markt produziert werden? Eine Zeitungsnachricht ist flüchtig – heute geschrieben, morgen schon wertlos, sie kann nicht auf Vorrat produziert werden. Digitale Informationen halten ewig, sie nutzen sich nicht ab durch Gebrauch. Sie können ohne Qualitätsverlust vervielfältigt werden, Original und Kopie sind ununterscheidbar.

Sind technische Hilfsmittel zum Kopieren erst einmal verbreitet, wird es unmöglich, das Kopieren etwa mit Gesetzen zu unterbinden. Das ist die Kernaussage von Lawrence Lessigs „Code and Other Laws of Cyberspace“: Software-Funktionalität fungiert als eine Art Gesetz der Digitalen Welt. Die Verknappung jeder Ware ist aber unbedingte Voraussetzung für das Erzielen eines Preises am Markt. Die Grenzkosten, also die Herstellungskosten für ein weiteres Exemplar einer Ware, gehen gegen null – eine paradoxe Eigenschaft digitaler Güter. Eine Text-, Musik-, Video-Datei oder ein Programm hat jeder schon einmal mit einem Mausklick kopiert, die Musikindustrie weiß ein Lied davon zu singen.

Die Ära der Digitalkopie geht aber schon wieder zu Ende – der Absatz von Leermedien (CDs, DVDs) ist seit Jahren rückläufig. Die Notwendigkeit, digitale Information, seien es Bücher, Musik, Filme oder Software zu duplizieren, fällt zusehends weg: Die ständige Verfügbarkeit eines einzigen Originals reicht aus. Bei Bedarf werden virtuelle Laufzeitkopien im Browser erstellt: Publikation, Vervielfältigung, Verbreitung wird zur Netzwerk-Technologie: streaming on demand ersetzt den Erwerb einzelner Individual-Kopien. Viele Branchen werden diese Transformation zur one-copy-economy durchmachen müssen, nicht nur die Musikindustrie, sondern auch die Filmindustrie, die Verlage und die Software-Industrie.

Das Internet wird zur Basis-Infrastruktur aller Services der network economy: Nachrichten lesen, Musik hören, Filme schauen, Textverarbeitung, Kommunikation – all das funktioniert nur noch bei stabiler Internet-Verbindung. Dabei wird zweierlei deutlich: Das Internet wird fundamental für ein reibungsloses Funktionieren der gesamten Ökonomie und es wird gleichzeitig zum elementaren Lebensmittel des Einzelnen, das die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.

Wie ist in dieser one-copy-economy noch Geschäft zu machen? Sind Werbung, kostenpflichtige Premium-Services und der Handel mit Nutzer-Daten tatsächlich tragfähige Geschäftsmodelle?

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##Die Digitale Oligarchie
Google ist das Paradebeispiel für eine digital firm – ein Unternehmen, das vollständig digital ausgerichtet ist. Google produziert selbst nichts, noch nicht einmal eigene Informationen. Mittelpunkt aller Aktivitäten ist nach wie vor ein Such-Algorithmus, der circa acht Milliarden Anfragen pro Tag verarbeitet. Das ist unser Zugang zur digitalen Welt, er erschließt uns die frei im Internet verfügbaren Informationen und funktioniert dabei ähnlich wie der Katalog einer öffentlichen Bibliothek. In dieser Funktion als Gatekeeper operiert Google in weiten Teilen der Welt als Monopol, in Deutschland z.B. werden über 90% aller Suchanfragen über Google abgewickelt. Das ist ganz typisch für die digitale Ökonomie – die Monopolisierung ist ihr inhärent: the winner takes it all.

Google ist ein kapitalistisches Unternehmen par excellence, hat im Jahr 2014 mit weltweit 50.000 Beschäftigten 50 Mrd. Euro Umsatz gemacht. Zum Vergleich: Daimler setzte zuletzt mit 120.000 Beschäftigten 120 Mrd. Euro um. Google hat seinen Sitz in Mountain View, Kalifornien, im Herzen des Silicon Valley, wie viele Firmen des Digitalen Kapitalismus. Diese kleine Gegend östlich von San Francisco beheimatet traditionell die Halbleiterindustrie sowie wichtige Universitäten wie Stanford, wo auch das Prinzip Start-up-Förderung erfunden wurde. Das Silicon Valley ist Ziel umfangreicher militärischer Förderung und konzentriert ein Drittel des weltweiten Risikokapitals.

„Ein guter Ingenieur kann jedes Problem auf der Welt lösen, und es gibt keine Probleme, die nicht von guten Ingenieuren gelöst werden könnten!“ – so in etwa ließe sich die Haltung der herrschenden Klasse des Silicon Valley zu Technik und Gesellschaft pointieren. Das Weltbild der digitalen Oligarchie ist eine kreative Mischung aus dem festen Glauben an die Segnungen des freien Marktes, einem fetischistischen Verhältnis zu Technologie, sowie Elementen kalifornischer Gegenkultur. Dieses ideologische Amalgam haben Barbrook und Cameron bereits 1995 als Californian Ideology treffend charakterisiert.

Google & Co. haben keine Angst vor globalen Herausforderungen. Ihre Unternehmensziele gleichen Menschheitsaufgaben: alle Bücher der Welt digitalisieren, alle Straßen dieser Welt fotografieren, die ganze Welt mit Internet-Zugang versorgen etc. Google, Facebook, Amazon und eBay sind die „ruling class of the digital world” (Nenad Romic). Sie gehören nicht nur zu den finanzstärksten Privatunternehmen weltweit, sie bestimmen auch durch neue Geschäftsmodelle, Unternehmenskulturen und Strategien wie sich der Kapitalismus weiterentwickelt.

##Capitalism: it came to stay
Die Kritik an Google, Facebook und Co. erschöpft sich oft darin, ihnen laxen Umgang mit Datenschutz, Verkauf von Nutzer-Daten oder Zusammenarbeit mit der NSA vorzuwerfen. Was ist die Agenda dieser Unternehmen? Welche Haltung zu Infrastrukturen, Standards, rechtlichen Regelungen nehmen sie ein? Wo verlaufen die Frontlinien in der digitalen Welt zwischen „mediators“ – Unternehmen, die reine Plattformen stellen, digitalen Content-Produzenten und „carriers“ – Firmen, die Infrastrukturen und Zugänge bereitstellen?

Es fehlt an einem fundierten Verständnis des Digitalen Kapitalismus, an seinen infrastrukturellen, ideologischen und technischen Voraussetzungen. Wie reagiert er auf die technologische Revolution unserer Zeit? Wie ist kapitalistisches Wirtschaften im Zeitalter digitaler Information möglich? Wird der Kapitalismus zur „Null Grenzkosten Gesellschaft“ (Jeremy Rifkin), werden wir demnächst fürs Twittern bezahlt (Jaron Lanier) oder gehört das Internet doch lieber gleich abgeschafft (Jevgeny Morozow)?

Um diese Fragen soll es in der Reihe Understanding Digital Capitalism gehen.
Die Übersicht über alle Themen der Reihe hier.

Links und Quellen:
A.T. Kearney: E-Commerce-Index. 2012

Barbrook, Richard: Media Freedom: The Contradictions of Communications in the Age of Modernity, London 1995

Mars, Marcell: Ruling Class Studies. 2010

Levy, Steven: In the Plex. How Google Thinks, Works and Shapes Our Lives. New York 2011
Karl Marx, Das Kapital. Band 1. MEW 23, S. 506, 1867
Lawrence Lessig Code And Other Laws of Cyberspace: New York, 1999


Timo Daum arbeitet als Dozent in den Bereichen Online, Medien und Digitale Ökonomie. Zum Thema Understanding Digital Capitalism fand vor einiger Zeit eine Veranstaltungsreihe in Berlin statt. Diese und andere Überlegungen über den Digitalen Kapitalismus wird er in regelmäßigen Abständen mit uns teilen. Heute in zwei Wochen erklärt er uns, was das Google-Auto mit Alan Turing zu tun hat.

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