Vom Paradox digitaler Waren zur „One-Copy-Economy“ IUnderstanding Digital Capitalism | Teil 4
20.4.2015 • Gesellschaft – Text: Timo Daum, Ilustration: Susann MassuteGewinne werden durch sinkende Grenzkosten – also die Kosten, die jede weitere Mengeneinheit erzeugt – maximiert. Braucht ein Mensch eine Hose, dann ist sie aufwendig und teuer zu produzieren. Brauchen mehrere eine, dann wird es immer günstiger (für den Hersteller) und immer lukrativer. Weil man Hosen nur bedingt verleihen kann, geht die Rechnung auf. In der digitalen Welt ist es zunächst nicht anders. Wenn die Grenzkosten gegen Null gehen, dann ist es sogar besonders lukrativ für ihn, digitale Kopien (z.B. die CD) zu „analogen“ Preisen zu verkaufen. Wie eine Hose eben. Wenn jedoch die Nachfrager beginnen, eigene Kopien herzustellen und schließlich gar nicht mehr kopieren, sondern streamen, dann stößt das Modell an seine Grenzen. Tote Hose?
In Hergés „Tim und Struppi und der Haifischsee“ stellt Professor Bienlein seine neueste Erfindung vor: Eine Maschine, die die jeden beliebigen Gegenstand auf Knopfdruck replizieren kann. Die Hüte der Schulzes dienen als Versuchsobjekte und werden im Nu aus einer amorphen Masse geformt. Von Kinderkrankheiten abgesehen – die geklonten Hüte zerlaufen nach kurzer Zeit – eine großartige Erfindung! Eine solche Maschine erlaubt es also, einen Gegenstand mit minimalem Aufwand und zu minimalen Kosten zu duplizieren. Und zwar immer wieder, unendlich oft. Kann denn eine Ware, die mit minimalem Aufwand beliebig oft geklont werden kann, am Markt überhaupt noch einen Preis erzielen? Ist nicht Knappheit von Gütern neben klaren Besitzverhältnissen Voraussetzung kapitalistischer Ökonomie? Würde eine solche Maschine also kapitalistisches Wirtschaften unmöglich machen?
Diese Maschine gibt es bereits! Zumindest im Digitalen. Diese wundersame Verdopplung von Gegenständen ist in der Welt digitaler Daten gang und gäbe: Eine Textdatei, ein Bild oder eine Programmdatei duplizieren wir alle tagtäglich. Jeder Computer ist Bienleins Maschine für digitale Information.
Grenzkosten gegen Null
Die Herstellung einer weiteren Einheit einer gegebenen Ware kann also zu minimalen Kosten erfolgen, oder anders ausgedrückt: Die Grenzkosten gehen gegen Null. Zu den Eigenheiten digitaler Daten gehört es außerdem, dass sie sich nie abnutzen, niemals schlechter werden oder kaputt gehen – wir müssen also nicht ständig neue kaufen. Und sie können beliebig oft kopiert werden, ohne Abweichungen oder Verluste. Original und Kopie werden ununterscheidbar. Im Computerzeitalter ist mit digitalen Informationen also kein Geschäft mehr zu machen, oder doch? Die Klassiker der politischen Ökonomie (Smith, Ricardo, Marx) nehmen bevorzugt handfeste Gegenstände zur Veranschaulichung ihrer Überlegungen her: einen (Geh)rock, einen Tisch, einen Webstuhl. Die praktische Seite einer solchen Ware ist unmittelbar einsichtig: Einen Stift etwa kann ich solange benutzen, bis er verbraucht ist. Dann brauche ich einen neuen oder ich kaufe gleich mehrere auf Vorrat. Wollen mehrere gleichzeitig schreiben, benötige ich auch mehrere Bleistifte. Zwei Stifte kosten das Doppelte von einem – logisch! Der Wert der Waren ist durch die zur Herstellung benötigte gesellschaftliche Durchschnittsarbeit bestimmt. Den genauen Preis bestimmt der Markt. Auch die Eigentumsverhältnisse sind klar, der Bleistift hat eine Besitzerin, die mit der Ware tun und lassen kann was ihr beliebt, zum Beispiel sie verkaufen oder verleihen.
Information folgt einer anderen Logik
Bei einer Zeitung z.B. wird es schon komplizierter: Die Zeitung von heute kann von einer aber auch von mehreren Personen gelesen werden. Der Verleger sieht es nicht gerne, wenn die Zeitung durch mehrere Hände geht: lasse ich sie z.B. in der U-Bahn liegen, und eine weitere Person liest sie, verliert der Verlag einen potenziellen Kunden. Eine Zeitung kann prinzipiell hunderte Male gebraucht werden, z.B. in einem Café. Die Zeitung von gestern ist bereits wertlos, die von morgen existiert noch gar nicht. Es macht keinen Sinn, ein weiteres Exemplar der heutigen Ausgabe auf Vorrat zu kaufen. Die Herstellungskosten einer Zeitung liegen anders als bei Stiften fast ausschließlich in der Vorarbeit. Shapiro und Varian: „Information ist teuer in der Herstellung aber preiswert in der Reproduktion“. Die fixen Kosten sind hoch, die Kosten des einzelnen Exemplars vergleichsweise gering, eine hohe Auflage ist entscheidend, damit sich das Geschäft für den Verlag lohnt. Der physische Träger, an den die Information gekoppelt ist, ist das Einzige, was sich noch verhält wie die Ware Rock oder Tisch, die Information selbst folgt schon einer anderen Logik.
Mit der Online-Ausgabe einer Zeitung verhält es sich noch seltsamer: Sie existiert nur ein einziges Mal als Original, wird aber von Millionen gelesen. Der Verlag muss nur ein Original ins Netz stellen, keine Auflage drucken, ausliefern, transportieren. Die Höhe der Auflage ist eins. Das Internet als öffentliche Infrastruktur klont und verbreitet die Lesekopien: Netzwerkprotokolle übernehmen die Verlagstätigkeit!
Sämtliche logistischen Risiken beim Transport physischer Waren – sie können verloren gehen, beschädigt werden, gestohlen werden, die Zustellung kann fehlschlagen usw. – entfallen: Datentransport im Internet ist so sicher wie Einschreiben mit Rückschein. Das Rechnernetzwerk Internet, ursprünglich mal designt, einen Atomschlag zu überleben, hat sich als in höchstem Maße geeignet erwiesen als Medium für digitalen Datentransport überhaupt.
Das Internet funktioniert ja so ähnlich wie die Post: alle Rechner haben eine Adresse, und alle Daten werden zunächst in kleine Pakete verpackt, die Sender, Empfänger und eine laufende Nummer verpasst bekommen. Dann werden die so geschnürten Pakete – ob sie nun E-Mails, Video- oder Audio-Daten oder Webinhalte enthalten, ist völlig egal – auf die Reise geschickt und von Knoten zu Knoten weitertransportiert, bis sie beim Empfänger wieder zusammengesetzt werden. Die Grundideen Dezentralität und Skalierbarkeit gekoppelt mit den Übertragungsprotokollen TCP/IP stellen sich als hervorragende Logistik-Infrastruktur für digitale Daten aller Art heraus.
##Die Klon-Maschine der Musikindustrie
Zurück zu Bienleins Maschine: Wäre es nicht der Traum des Kapitals eine solche Klon-Maschine zu besitzen, damit fast umsonst produzieren zu können? Und gleichzeitig die geklonten Gegenstände teuer zu verkaufen, als wären sie Tische oder Stühle, die sich verbrauchen und nur single use erlauben? Genau diese Formel zum Geld drucken glaubte die Musikindustrie mit der Musik-CD gefunden zu haben: Digitale Daten bei minimalen Grenzkosten auf spottbilligen Plastikscheiben zu horrenden Preisen. Das kann aber nur funktionieren, wenn das Publikum sich an diese Arbeitsteilung hält und nicht selbst anfängt, mit solchen Klon-Maschinen (Computer mit CD-Brennern) fleißig drauflos zu kopieren. Da helfen dann nur noch Verbote: Wir alle kennen die Kampagnen der Musikindustrie um digitale Rechte-Verwaltung (DRM): Raubkopierer sind Verbrecher, copy kills music etc. Das ist im Kern der Versuch, die Logik vom Bleistift in die Domäne digitaler Information hinüberzuretten: „Du sollst nicht kopieren, du sollst nicht teilen oder verleihen, nur du allein darfst nutzen!“
Das Schaubild zeigt, wie die Musikindustrie mit der CD – digitale Daten zu analogen Konditionen – historisch einmalige Gewinne gemacht hat. Damit ist ein für alle Mal Schluss: Der Verkauf der Plastikscheiben ist eingebrochen, das Online-Geschäft hat nicht ansatzweise die Verluste wettmachen können. CD- und DVD-Brenner, die Bienlein-Maschinen der Nullerjahre, haben das Geschäft mit den Plastikscheiben verhagelt. Die Ära des Downloads, Kopierens, Brennens, der Torrents und Pirate Bays geht jedoch schon wieder zu Ende: der Absatz von CD- und DVD-Brennern sowie von Leermedien geht zurück (siehe nächstes Schaubild). Was kommt danach?
Wozu sich mit digital kopierter Information herumschlagen, wenn Nachrichten, Texte, Filme, Musik immer und überall verfügbar sind – Internet-Verbindung vorausgesetzt? Die Tageszeitung von heute ist und bleibt online: da macht es keinen Sinn, die für mich privat zu speichern, sie ist ja immer da. Sobald es Anbieter für Texte, Musik, Filme etc. gibt, die mir eine umfassende Bibliothek anbieten, muss ich die digitalen Dateien weder kopieren, speichern, noch kaufen oder besitzen. Ich kann sie streamen. Das ist fast wie in die Bibliothek gehen, nur mit zu Hause bleiben. Der Nielsen Entertainment & Billboard Report 2014 verzeichnet zweistellige Rückgänge im Download-Bereich und 50% Zuwachs beim Streaming. Ist Streaming der Rettungsanker für die Musikindustrie? Ist das das Modell der Zukunft, kann man da wieder Geld verdienen? Schaffen es die Verlage, Gewinn zu erwirtschaften mit Bezahlmodellen?
Teil zwei des Kapitels zur „One-Copy-Economy“ erscheint am 4. Mai.
Hier gibt es die Übersicht aller Texte der Reihe »Understanding Digital Capitalism«.
Links und Quellen:
Video: Tintin and the Lake of Sharks (28:10)
Carl Shapiro, Hal R. Varian: Information Rules: A Strategic Guide to the Network Economy, New York 1999
Lawrence Lessig. Code And Other Laws of Cyberspace: New York, 1999
Nielsen Entertainment & Billboard’s 2014 mid-year music industry report | Link
Nevoda's blog: Digital music revenues in the recorded music industry | Link
Business Insider: These charts explain the real death of the music industry | Link