„Scheiße, warum denn eigentlich nicht!?“Im Interview: Martin Gore von Depeche Mode über sein neues Album „MG“
20.4.2015 • Sounds – Interview: Thaddeus HerrmannEr ist einer der begnadetsten Songschreiber der Welt, investiert seine Kreativität aber vor allem in seine Band Depeche Mode. Nach zwölf Jahren Pause veröffentlicht Martin Gore nun eine neue Solo-LP. Mit „MG“ schlägt er dabei ein neues Kapitel seiner Karriere auf. Filter-Redakteur Thaddeus Herrmann hat mit ihm gesprochen.
Martin Gore allein im Studio, das bedeutete bislang: Coverversionen. David Bowie, Tuxedomoon, Sparks, Nick Cave, Brian Eno, Julee Cruise, Durutti Column, Lou Reed, John Lennon, Kurt Weill. Zwei Platten sind auf diese Weise entstanden: Counterfeit 1 und 2. Das ist lange her. 26 bzw. 12 Jahre, um genau zu sein. Und während mittlerweile eine neue Generation von Musikern Martin Gores Songs covert, saß er die letzten Monate in seinem Studio und hat ein neues Album aufgenommen. „MG“ beinhaltet ausschließlich eigene Kompositionen. Wer weiß, wie schwer sich Gore mitunter mit dem Songschreiben tut und was für eine Qual eine neue Depeche-Mode-Platte sein kann, weiß das besonders zu schätzen. Doch wer sich eine Art Interims-Platte erhofft,
die die Wartezeit auf das nächste Album der Band verkürzt, hat sich geschnitten. Die 16 Stücke sind allesamt instrumental, mehr Track als Song und zeigen die Seite von Martin Gore, die man schon immer bei ihm vermutet, die sich bislang aber nicht so recht in das Licht der Öffentlichkeit getraut hat. „MG“ ist ein tiefes und umfassendes Tête-à-Tête zwischen Mensch und Maschine. Jenseits der großen Konzerthallen, der Stadien, des Mitgröhlens von „Never Let Me Down Again“ und „Everything Counts“ und der fliegenden Bierbecher aus Plastik entwirft Martin Gore ein Bild der elektronischen Musik, das viel zu lange niemanden mehr wirklich interessiert hat. Das wird viele vermeintliche Fans irritieren, ist jedoch ein großes und wichtiges Statement.
Hallo Herr Gore, wo stecken Sie gerade?
Oh, ich bin zu Hause in Santa Barbara. Eben aufgestanden.
Wie läuft es so in Los Angeles?
Ganz ehrlich? Wenn es nicht bald ausgiebig regnet, drehen wir hier durch. Die Dürre hält sich jetzt schon ein Jahr. Das sind keine guten Aussichten.
Hmmm, da fällt es mir schwer, die Brücke zu ihrem Album zu schlagen.
Wollen wir nochmal von vorne anfangen?
Gerne. Hallo Herr Gore. Schön, ihre Stimme zu hören. Auf dem neuen Album habe ich da ja eher weniger Glück.
Tja, ähm, das stimmt wohl. Tut mir leid!
Kein Problem! Ihre letzte Solo-LP ist mittlerweile zwölf Jahre alt. Warum haben Sie sich so viel Zeit gelassen mit „MG“?
Ich habe in den vergangenen Jahren nicht wirklich den Drang verspürt, eine LP zu veröffentlichen. Sie dürfen nicht vergessen, dass ein Depeche-Mode-Album mehrere Jahre in Anspruch nimmt. Das Schreiben der Songs, die Aufnahmen und dann die Tour. Wenn man dann wieder nach Hause kommt, dann spürt man es oder man spürt es nicht. Und während der letzten Pause zwischen zwei Depeche-Mode-Alben habe ich ja immerhin ein Album mit Vince Clark gemacht.
Warum nun ein rein instrumentales Album?
Ich hatte da ein paar Tracks übrig. Die waren allesamt instrumental. Und in der Schublade wollte ich sie auch nicht versenken. Ich spielte sie durch Zufall einem Freund vor und er fragte mich, ob ich das nicht zu einem Instrumentals-Album ausbauen wolle. Ich war mir erst nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre. Und dann dachte ich: Scheiße nochmal, warum eigentlich nicht. Habe ich ja in der Vergangenheit auch noch nicht gemacht, so eine Platte.
Also Instrumentals. Welche Koordinaten spukten Ihnen noch im Kopf rum?
Es stellte sich schnell heraus, dass ich eine rein elektronische Platte machen wollte. Und ich wollte kurze Stücke. Zwei, drei, maximal vier Minuten. Nichts Endloses, keine Achtminüter. Kurz, knackig, auf den Punkt. Ich habe also eine Weile vor mich hingedaddelt und mir die ersten Tracks dann in einem Schwung angehört. Dabei fiel mir auf, dass ich die Stücke erstens mochte und bei allen die gleichen Assoziationen hatte: Science-Fiction, Weltraum, vor allem die Raumfahrt. Als mir das klar wurde, schrieben sich die restlichen Stücke wie von selbst.
Der Weltraum als musikalische Metapher ist auch einfach nicht totzukriegen.
Finden Sie das kitschig?
Eher romantisch, um ehrlich zu sein. Ich empfinde die Platte auch nicht als klassisches Album, sondern eher als lose Sammlung von Skizzen und sehr konzentrierten Ideen. Es sind Tracks und keine Songs. Wenn Sie kein Musiker, sondern Schriftsteller wären, dann wäre „MG“ ...
... eine Sammlung von Kurzgeschichten. Alle mehr oder weniger Science-Fiction.
Was mögen Sie denn an ihrer eigenen Platte?
Herrje. Hmmm, ich glaube mir gefällt besonders, dass die Stücke alle ziemlich unterschiedlich sind. So eklektisch. Ausgelutschter Begriff, ich weiß. Aber das Album geht schon so ein Mal rundrum. Und wie finden Sie das Album? Gefällt es Ihnen überhaupt?
Doch, doch, unbedingt. Ich war überrascht wie stachelig und kratzbürstig einige Tracks sind. Der Duktus von „MG“ erinnert mich sehr an den Umgang mit Elektronik in den frühen 80er-Jahren. Jenseits von Depeche Mode, wenn Sie verstehen. Was ist eigentlich anders, wenn Sie an Instrumentals arbeiten, verglichen mit traditionellen Songs?
Oh, es ist ein großer Unterschied. Bei einem Song stehen Text, der Gesang und vor allem die Gesangsmelodie im Vordergrund. Das sind die wichtigsten Elemente, der Rest der Musik muss sich ihnen unterordnen. Bei einem Instrumental nimmt man diese ganz offensichtlichen Anknüpfungspunkte einfach weg. Das hat Folgen für den Spannungsbogen, der vollkommen anders organisiert werden muss. Wie hält man die Hörer bei der Stange, wenn man sie doch gerade all der normalen Identifikationsmöglichkeiten beraubt hat? Das ist eine ganz andere Herangehensweise an Musik.
„Es dauert auch schon mal zwei Wochen, bis ich mir selbst gegenüber zugeben kann: 'Martin, das ist einfach Scheiße, lösch' das bitte sofort.'“
War das schwierig oder vielleicht sogar befreiend?
Töne und Melodien fallen mir generell leichter als Texte. Das ist das eine. Und ich kann tatsächlich freier arbeiten, wenn Ideen, Loops und Fragmente nicht immer durch den „Da muss noch Text dazu“-Filter laufen. Anders gesagt: Ich schmeiße weniger Ideen weg. Ich bin eigentlich jeden Tag im Studio und probiere Dinge aus, das kann manchmal auch sehr krampfig sein. Es dauert auch schon mal zwei Wochen, bis ich mir selbst gegenüber zugeben kann: „Martin, das ist einfach Scheiße, lösch' das bitte sofort."
Bei Depeche Mode schreiben Sie zwar einen Großteil der Songs, es sind aber auch sehr schnell sehr viele Menschen involviert. Die Band, Produzent, Techniker. „MG“, das sind nur Sie, bis zum Schluss. Arbeiten Sie gerne allein?
Sehr gerne, ja.
Mehr Kontrolle.
Es ist ein ganz anderer Prozess. Den Mix des Albums habe ich jedoch nicht selbst gemacht. Ab einem bestimmten Punkt gebe ich Dinge ganz gerne aus der Hand. „Q“ hat die Platte abgemischt, hier in L.A.. Er hatte auch schon mein Album mit Vince Clark finalisiert.
Erzählen Sie ein wenig mehr über den Aufnahmeprozess.
Die Platte ist eigentlich komplett mit meinem Eurorack entstanden, einer Art Standard für Modularsysteme, mit dem man analoge und digitale Module nutzen kann. Der Großteil meiner Module ist analog.
Wie wichtig ist es Ihnen, dass ihre Instrumente keine Facebook-Benachrichtigungen während der Bassline-Modulation ausspucken?
Für mich gibt es eigentlich keinen Unterschied zwischen analog und digital, wenn Sie das meinen. Umso verblüffter bin ich aber immer noch darüber, dass die alten Kisten und ihre Sounds wieder so populär sind. „Retro“ war doch mal ein Schimpfwort. Das bezieht sich ja nicht nur auf die Musikproduktion. Ich wollte meine Platte eigentlich schon im März veröffentlichen. Ging nicht. Wissen Sie warum? Weil kein Presswerk auf der Welt in der Lage war, das Vinyl schnell genug herzustellen. Alle komplett ausgebucht wegen des Record Store Day.
Hören Sie denn noch Musik auf Vinyl?
Ja, ich habe seit ungefähr vier Jahren wieder einen Plattenspieler. Ich bin also wahrscheinlich nicht ganz unschuldig an der Situation. Aber das kann man mir bestimmt nicht übelnehmen, immerhin bin ich mit Vinyl aufgewachsen. Ich höre ja auch immer noch Alben. Also von A bis Z.
Das musikalische Genre, das Vinyl jahrelang am Leben erhalten hat, ist Dance Music. Da kennen Sie sich ja ganz gut aus, ich erinnere mich noch gut daran, wie Sie vor ein paar Jahren in Berlin den Cookies-Club als DJ professionell zerlegt haben mit Basic Channel und Carl Craig. Und doch ist ihr Album alles andere als eine Dance-Platte. Sogar die Bassdrums fehlen fast komplett.
Aus gutem Grund. Ich wollte unter keinen Umständen eine Techno-Platte machen.
Huch!
Ja, vielleicht bin ich mittlerweile zu alt dafür. Ich will ganz ehrlich sein: Ich höre Musik seit einiger Zeit ganz anders. Ich überlasse das Erzählen von Geschichten lieber den Musikern auf Album-Länge als DJs.
À propos Album: Auf den Tag genau vor 25 Jahren erschien „Violator“, das vielleicht wichtigste Album von Depeche Mode. Feiern Sie das?
Um Gottes Willen, nein. Ich mag das Album immer noch sehr gerne, aber ich feiere lieber aus anderem Anlass.