„Draußen war ich ein Rudeltier“Im Gespräch mit Sascha Bisley | Autor von „Zurück aus der Hölle“
19.3.2015 • Gesellschaft – Interview: Jan-Peter WulfZusammen mit einem zweiten Täter verletzte Sascha Bisley vor über 20 Jahren einen Obdachlosen so schwer, dass dieser an den Folgen starb. Bisley war zu dem Zeitpunkt 19 Jahre alt und hatte zum Tatzeitpunkt 3,3 Promille Alkohol im Blut. Trauriger Kulminationspunkt einer langen Reihe von Verbrechen: Gewalt, Kriminalität, Alkohol, Drogen und Waffen. Fluchtlinien aus dem verhassten, kleinbürgerlich-vergesellschafteten Leben am Rande des sauerländischen Waldes.
Sascha Bisley wuchs als jüngstes von sieben Kindern in einer Arbeiterfamilie auf. Zwei weitere Geschwister lernte er nie kennen. Die eine Schwester kam bei einem Autounfall ums Leben, der Bruder wurde von einem Nachbarsjungen mit Stacheldraht gefesselt, mit einem Stein auf den Kopf geschlagen und verscharrt, so dass er später später an einem Blutgerinnsel im Kopf starb. Bisleys Vater saß nach einem Arbeitsunfall bis zu seinem Tode beinamputiert im Wohnzimmer. Und trotz all dieser Tragik schildert Sascha seine Kindheit und Jugend als behütet, Prügel hat er in der Familie nie eingesteckt. Dafür hat er später umso mehr ausgeteilt – in der Schule, im Stadion und auf Partys am Wochenende ging es rund. 17 Straftaten stehen schon auf seiner Liste, als eines Morgens ein Sondereinsatzkommando seine Wohnung stürmt. Sein erster Gedanke: falsche Wohnung – falscher Gedanke. Doch was war am Abend zuvor passiert?
Nun hat er seine Geschichte aufgeschrieben: In „Zurück aus der Hölle“ schildert er seine bedrückenden Erlebnisse im Gefängnis, blendet zurück in seine Jugend. Seine damaligen Gewaltexzesse beschreibt Bisley nicht nur direkt und schonungslos, sondern auch mit dem Gefühl, das er dabei empfand: pure Lust. Der Spaß verging ihm jedoch von einem Moment auf den anderen, als sich nach seiner Verurteilung die Gefängnistür hinter ihm schloss. Wir sprachen mit ihm über sein Buch, wie er zum Gewaltjunkie wurde und seine heutige Arbeit in der Gewaltprävention.
Sascha, ziehst du mit dem Buch einen Schlussstrich unter dieses Kapitel deines Lebens?
Nein, das wird mich mein ganzes Leben lang begleiten. Was ich in gewisser Weise auch verdient habe. In meinem Heimatdorf gibt es eine ganze Menge Mutmaßungen, viele Versionen über diese Geschichte. Mir war es wichtig, sie aufzuschreiben und erzählen zu können: So war es.
So, wie du dein Verhältnis zur Gewalt beschreibst, klingt es nach Lust, nach Sucht gar. Man sagt ja, dass man immer Alkoholiker bleibt, wenn man es einmal war. Gibt es da Parallelen?
Wenn man einmal gewaltaffin ist, dann bleibt man das auch. Ich habe es genossen, wenn ich gewalttätig war. Es ist ein Belohnungssystem, klassische Konditionierung. Ob die nun durch Gewalt oder andere Muster ausgelöst wird, ist erstmal egal. Wenn ich jemanden verprügelt habe, gab mir das ein gutes Gefühl. Wie beim Sport: Ich habe gewonnen, du hast verloren.
Eine latente Gewaltlust ist geblieben?
Ja. Aber heute maßregle ich das. Ich bin nicht mehr in so gewaltbereiten Szenen unterwegs, vermeide bestimmte Situationen und Orte – Straßenfeste oder Bierzelte oder so. Brennt im Club irgendwo die Luft, riecht es nach Ärger, dann werde ich nervös und hibbelig. Mir wird schlecht, ich kriege Herzrasen. Ich muss dann da weg, es ist wie bei einer Panikattacke. Hinzu kommt das Alter, ich bin jetzt 42 und kann mir zum Glück anders helfen als mit 16.
Wann hast du zum ersten Mal gemerkt, dass Gewalt dich kickt?
Als Kind in der Jungsbande, als wir Toni, den kleinen portugiesischen Jungen in unserem Dorf, im Winter in die Lenne (ein kleiner Fluss im Sauerland, d. Red.) geworfen und dann später wieder rausgezogen haben. Er hatte Todesangst und ich habe gemerkt, wie geil ich das finde, diese Macht über jemanden zu haben. Interesse an Gewaltbildern hatte ich schon früher. Mein Bruder hatte damals den „Spiegel“ im Abo. Ich habe mir die Kriegsberichterstattungen mit krassen Fotos ausgeschnitten und gesammelt.
Heute sind es keine „Spiegel“-Fotos, sondern Exekutionsvideos, die aus dem Internet „ausgeschnitten“ und auf dem Schulhof geteilt werden.
Du kannst durch das Internet alles viel einfacher konsumieren, auch Gewalt. Verbote bringen meiner Meinung nach nicht viel. Du kommst an alles ran, wenn du willst. Wichtiger ist zu fragen: Warum interessieren die Leute und gerade Kinder und Jugendliche Sachen, die im TV nicht gezeigt werden – Hinrichtungen, Videos von Menschen, die mit Autoreifen überstülpt und angezündet werden? Die Videos haben Millionen Klicks. Warum?
Stellst du die Frage in deiner Arbeit mit straffällig gewordenen Jugendlichen?
Täglich. Man muss bei jedem Einzelnen schauen, wie es zu dieser Verrohung gekommen ist. Ich habe es mit Dreizehn- und Vierzehnjährigen zu tun, die haben Sachen hinter sich, da war ich in dem Alter nichts dagegen. Es hat immer mit den Prägungsmustern zu tun. Mediale Überreizung ist zuträglich für einen Nährboden, auf dem Gewalt gedeihen kann. Und immer berichten die Kids von einer emotionalen Vernachlässigung durch die Eltern. Nicht, dass sie stets Gewalt erlebt hätten, aber sie wurden nicht mit dem ausgestattet, was sie gebraucht hätten. Als Lehrer kannst du nicht gerade biegen, was zu Hause versaut worden ist.
Kannst du ihnen helfen, eine Unterscheidung treffen zu können: Das ist richtig, das nicht?
Ich bin nicht so blauäugig zu glauben, ich sei der Heiland, der zu ihnen kommt und danach ist alles gut. Viele sind nicht reflektiert, sodass du sie nur durch praktische Übungen dazu bringen kannst, Konflikte zu erkennen und anders zu lösen. Die Erfolgsquote ist nicht so dolle. Aber wenn nach den Seminaren zwei Leute auf dich zukommen, die vorher vom Betreuer als völlig beratungsresistent beschrieben worden sind, dann ist das schon ein Erfolg. Wenn es nur einen gibt, dem es was bringt, hat es sich schon gelohnt.
Wie bewertest du generell die Arbeit in der Gewaltprävention?
Wenig Mittel gibt es hier wie überall, vor allem aber viel zu viele Standardverfahren. Jemand wird kriminell, muss irgendwo vorstellig werden, bekommt eine Art Bewährungshilfe aufs Auge gedrückt. Es findet dann eine Alibi-Sprechstunde in einem Jugendzentrum statt und danach schickt man die Kids wieder in ihre Hölle zurück. Mit der Kuschelpädagogik der Achtziger kommen wir heute aber nicht weiter. Projekte neuer Art ersticken oft im Keim, bekommen keine Kohle. Das ist schade, denn Sozialarbeiter, die motiviert sind und gute Ideen haben, gibt es da draußen viele. Die brauchen Freiraum.
Wie müsste es eigentlich laufen?
Persönlicher und zugeschnittener auf die Bedürfnisse. Man muss Optionsmodelle schaffen für die Action, die die Jungs sich da draußen suchen, in rechtsextremen Gruppen, Rockergangs, Drogenbanden oder wo auch immer. Da wünsche ich mir mehr Kreativität.
Ein Beispiel aus deiner eigenen Arbeit?
Mit dem Museumspädagogen Fabian Olaf Knöpges aus Hattingen spiele ich „Die Welle“ in Schulen quasi in klein durch: Eine Klassenhälfte verkörpert die Zwangsarbeiter, die anderen die Kapos. Die Zwangsarbeiter müssen den berüchtigten „Gefrierfleischorden“ aus flüssigem Zinn herstellen. Das Soll der Stückzahl setzen wir so hoch an, dass es nicht geleistet werden kann. Die „Kapos“ bestrafen: Liegestützen, Alphabet rückwärts aufsagen, Marschieren auf dem Schulhof – Demütigungen vor den Augen der anderen. Das geht über vier Stunden, man kann jederzeit aussteigen. Natürlich ist das sehr kontrovers, es wird doppelt und dreifach kontrolliert. Und es ist realitätsnah. Nach zehn Minuten hast du perfekte Täter und perfekte Opfer. Egal in welcher Klasse und bei welchem Bildungsstand.
Ich habe von jemandem, der sowohl im Jugend- als auch im Erwachsenenknast gesessen hat, gehört, dass es überhaupt kein Vergleich ist, was die Gewalt angeht.
Im Jugendknast gibt es wesentlich mehr Gewalt! Die Zeit im Erwachsenenknast war damit verglichen wie ein Urlaub für mich.
Warum?
Im „normalen“ Knast hast du Typen, die alle wissen, was sie gemacht haben, warum sie da sind und wann sie wieder gehen können. Eine ganz gute Voraussetzung, um einen einigermaßen entspannten Weg zu gehen. Die sind geerdet und reifer. Im Jugendknast geht es ums Eierzeigen: Wer hat die größten? Die denken wirklich, sie sind in einem Sylvester-Stallone-Film und müssen sich Messer aus Seife basteln und anderen auf dem Hof ständig auf die Schnauze hauen, um den coolen Macker zu zeigen.
Es ist so gewalttätig, dass man es kaum glauben kann. Mich hat es – selbst als Gewaltjunkie – total überfordert. Ich dachte, ich zerbreche daran, das schreibe ich ja auch.
Du beschreibst das „Einfahren“ sehr körperlich: Dir ist kalt, fängst an zu schwitzen, hast Angst. Und zwar sofort. Da fragt man sich als Leser: Wie kommt das jetzt von einem Moment auf den anderen? Nach allem, was du vorher voller Lust getan hast.
Bei mir war der Auslöser ganz einfach: Draußen war ich ein Rudeltier. Ich hing mit Jungs ab, die einen ähnlichen Hang zur Gewalt hatten, ich hatte einen Gruppenverband als Rückversicherung. Da konnte man sich auch mal gemeinsam an jemandem rächen, wenn ich mal was abgekriegt habe, ich konnte immer jemanden rufen und der war kurz darauf da. Dann kommst du in die JVA. Du bist allein, von einem Tag auf den anderen. Du dachtest, du bist der Allergrößte und merkst dann, was für eine Wurst du bist. Und das ist gut, denn dann wird Gewalt wieder das, was es eigentlich ist, was ganz Schreckliches nämlich.
Nicht für alle.
Das hat mich ja auch so erschrocken, weil viele andere das eben nicht bei sich gesehen haben. Die waren noch verrohter als ich, auf einem ganz anderen Level. Das war okay für die, so zu leben, die kamen mit der Hierarchie gut klar, besser als draußen vielleicht sogar. Mir ist ganz schnell klar geworden: Ich bin nicht der harte Typ, der ich draußen gerne gewesen wäre. Die anderen dort, die scheißen drauf, die stechen dich auch ab, wenn es sein muss. Versucht worden ist es ja.
Ist Gewalt im Jugendknast systemisch, wird bewusst weggeschaut?
Nicht bei wirklich schweren Taten – vor allem nach den Ereignissen in Herford. Die Beamten sind sensibilisiert einzugreifen. Aber es gibt ja diesen Ehrenkodex: Es wird nicht gezinkt, also nicht verpetzt. Wenn du das tust, hast du den ganzen Knast gegen dich, dann hauen dir auch die Friedliebendsten eins auf die Fresse. Deswegen ist es für die Beamten super schwer zu ermitteln, woher die Verletzung, das blaue Auge kommt. Sie müssen schon selbst gesehen haben, wie es passiert ist, und das ist schon zeitlich ein Problem. Die Knäste sind überfüllt, es gibt zu wenig Personal, die Wahrscheinlichkeit ist gering, das rauszukriegen.
So, wie es von dem vorhin genannten ehemaligen Häftling geschildert wurde, erlebte er sogar eine Aufforderung, Gewalt auszuüben.
Kommt aufs Delikt an. Handelt es sich um einen Kinderschänder oder Vergewaltiger, dann ist es Usus, dass da auch Beamte mitmachen. Im Westen auch bei Nazis, im Osten weniger, weil dort viele Rechte einsitzen. In meinem West-Knast saß ein 15-Jähriger, der hatte ein Auto geklaut und eine Polizeisperre durchbrochen. Ein Polizeibeamter war sofort tot, der andere verstarb im Hubschrauber auf dem Weg ins Krankenhaus. Einer, der zwei Polizisten getötet hatte – für die Kriminellen ein Held, für die Beamten ein mieser kleiner Wichser. Der hatte die Arschkarte gezogen. Ein kleiner Junge, der den ganzen Tag geweint hat, der kam mit der Situation überhaupt nicht klar. Das war den Beamten aber egal. Wenn der mal wieder eins draufgekriegt hatte und entsprechend aussah, wussten wir: Weil es von uns keiner getan hatte, musste es ja jemand von denen gewesen sein.
Sprechen wir über die Situation im Gerichtssaal. Das ist im Buch eine fast fiktional anmutende Szene, filmisch: Das Opfer reicht dir die Hand und bittet den Richter um eine milde Strafe für dich.
So richtig erklären kann ich mir das bis heute auch nicht. Ich habe diesen Menschen später durch seine Betreuerin, mit der ich heute zusammenarbeite, kennen lernen können. Er hat gezeichnet, sie hat mir seine Bleistiftzeichnungen gezeigt. Er war ein offener Mensch, konnte aggressiv und jähzornig sein, aber auch verzeihen und Leute annehmen, wie sie sind. Eine seiner großen Fähigkeiten. Ich würde nicht soweit gehen zu sagen, deswegen hat er es zu schätzen gewusst, dass ich ihm in meinem Brief aus dem Gefängnis versucht habe zu erklären, warum gerade er es sein musste. Und er war an diesem Tag sturzbesoffen. Dann sitzt da dieser Typ, den er das erste Mal sieht, er will irgendwas machen. Ich glaube, ich tat ihm sogar ein bisschen leid. Die Art, wie er meine Hand getätschelt hat, nach dem Motto: „Och Junge, nimm es jetzt nicht so schwer. Das kriegen wir schon hin.“ Als er um milde Strafe bat, fiel mir alles aus dem Gesicht. Der Richter hat später zu meinem Anwalt gesagt, das habe er in all seinen Berufsjahren nicht erlebt.
Der Mann ist später an den Folgen der Verletzungen gestorben. Auch da fragt man sich warum: Wieder zurück auf die Straße, in die Kälte.
Verständlich ist das nicht, aber nachvollziehbar. Er ist behandelt worden und wurde als gesund entlassen. Andere gehen dann nach Hause. Er hatte aber keins. Er hatte nur einen Sohn, der nichts mit ihm zu tun haben wollte. Er hat 30 Jahre auf der Straße gelebt, es war selbstverständlich für ihn, dass er wieder auf Platte geht. Er kannte gar kein anderes Leben. Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass er so angeschlagen ist, dass er das nicht überleben wird.
Seinen Tod notierst du im Buch eher kurz.
Diesen Part habe ich selbst noch immer nicht verpackt, deswegen konnte ich das nicht weiter ausführen. Ich wusste nicht, wie ich das beschreiben soll. Damals fing eine Riesen-Verdrängungsnummer an. Ich war am Ende, nahm extrem viele Drogen, hatte Albträume vom Allerfinstersten. Eine Zeit der Leere und Sinnlosigkeit, die mich fast umgebracht hat. Ich war kurz davor zu versuchen, mir ein weiteres Mal das Leben zu nehmen.
Wer ist schuld an seinem Tod?
Wenn wir ihn nicht so verletzt hätten, hätte er gar nicht erst behandelt werden müssten. Wir sind, indirekt, schuld an seinem Tod.