Gysi blickt zurückRezension: „Ein Leben ist zu wenig“ (Hörbuch)
17.1.2018 • Kultur – Text: Jan-Peter WulfGregor Gysi gehört ohne jeden Zweifel zu den beliebtesten Politikern, die Deutschland je hatte. Er ist der Popstar unter den Parteibuchträgern – und zwar weit über Generationen- und linke Parteigrenzen hinweg. Der gute Mann ist seit gestern über siebzig, jung geblieben sind dagegen seine politischen Ideen. Und die pointierte und direkte Rhetorik des langjährigen Linken-Chefs sucht seit mehr als zwei Jahrzehnten ihren ebenbürtigen, politischen Konterpart. Wie Gregor Gysi dorthin kam, wo er heute ist, kann man jetzt nachlesen. „Ein Leben ist zu wenig“ steht auf dem Buchdeckel der Memoiren. Denen man sich auch lauschen kann. Jan-Peter Wulf hat sich die gekürzte Audiofassung angehört und stellt fest: Auch nach 25 Jahren Bundespolitik in erster Reihe linke Seite ist man den Politiker, vor allem aber auch den Menschen Gregor Gysi, mitnichten leid. Schade ist dabei nur, dass Memoiren sich bloß mit dem beschäftigen, was längst zurückliegt. Dem Titel nach könnte es sogar Gysis eigener Gedanke sein, das anders zu machen. Alles Gute nachträglich.
Sommer 1998 in Bochum, ein Saal. Gregor Gysi ist aus Berlin ins Ruhrgebiet gekommen, um wahlzukämpfen, im Herbst steht eine Bundestagswahl an. Seine Partei, die PDS, spielt zu diesem Zeitpunkt im Westen, auch hier im Westen des Westens, so gut wie keine Rolle. Grundlagenarbeit scheint angesagt, Gysi soll sie leisten. Aber erstmal sind die lokalen Kandidaten dran und liefern das Gegenteil zur Steilvorlage. Ganz schwach. Einer von den beiden, erinnere ich mich, sagte sogar, dass er eh keine Chance habe, sich aber freue, wenn ihn der eine oder andere von uns, also jemand aus dem für Gysi gekommenen Publikum, wählt. Gysi macht sich währenddessen durchweg Notizen oder bearbeitet Unterlagen, jedenfalls schreibt er die ganze Zeit und blickt kein einziges Mal auf. Gar nicht ungeschickt, so muss er nicht gequält lächeln, während die lokale Basis rhetorisch dilettiert.
Dann legt er los. Gysi greift das Thema der örtlichen Kandidatin, einer Krankenschwester (glaube ich), gekonnt auf, um eine bis heute bestehende linke Position auszuführen: Krankenhäuser müssen nicht wirtschaftlich sein, Krankenhäuser müssen Kranke versorgen können. Ein sozialer Staat muss sich Soziales leisten können. In einer Dreiviertelstunde arbeitet der kleine Mann mit dem verschmitzten Blick alle Themen und Positionen souverän ab und schlägt dann vor, seine Partei zu wählen. Was das für einen Aufruhr gäbe, den Sozis, hier in der Herzkammer der Sozialdemokratie, die längst vergessen haben, wer August Bebel war, eins auszuwischen. Der Saal ist auf seiner Seite. „Hier in Bochum“, schließt Gysi. Er sagt Bochum, mit kurzem, ganz kurzem o. Ja, weiß er denn nicht, wie diese Stadt ausgesprochen wird? All die Nähe, die er in seinem Sprechflow aufgebaut hat – im Nu dahin. Ein empörtes „OOOOOO“ tönt ihm entgegen. Gysi guckt ein bisschen verlegen. Bei der Bundestagswahl im September 1998 bekommt die PDS in Bochum 1,4 Prozent.
Pointiert und schlitzohrig, wie zu erwarten war
2018 hört sich Bochum richtig an bei Gysi, irgendwann ertönt ein klares, langes „O“ in der natürlich von ihm selbst eingesprochenen Hörbuch-Variante von „Ein Leben ist zu wenig“, seinen Memoiren. Gysi ist gerade 70 Jahre alt geworden, ein guter Anlass um zurückzublicken. Es ist interessant, ihm dabei zuzuhören, mal mehr, mal weniger, aber insgesamt, ja, interessant. Die Kindheit in Ost-Berlin, die familiären Wurzeln, seine Mutter, die DDR-Kulturministerin war, seine Tante, Doris Lessing, die 2007 den Literaturnobelpreis erhielt. (Worauf Gysi, wie er sagt, sehr stolz ist, ohne etwas dazu beigetragen zu haben. Worte, die er schon 2007 bei Stellungnahmen exakt so verwendete.) Er spricht über seine, völlig dem Zufall erwachsene, Ausbildung zum Rinderzüchter, über seine Tätigkeit als Jurist und die Verteidigung von Dissidenten wie Bahro oder Bohley. Gysi erzählt pointiert und schlitzohrig, wie man es von ihm kennt.
Die Mauer fällt, und auf einmal, als ob er von irgendwem nach vorne geschoben worden wäre, steht das SED-Mitglied Gysi ganz vorne und soll retten, was zu retten ist – im Kern den guten sozialistischen Grundgedanken, die Außenhülle (Krenz und andere Funktionäre) muss weg. Wie Gysi diese Zeit Revue passieren lässt, wirkt ein bisschen wie der Kommentar vom Spielfeldrand, nicht live allerdings, eher die eine Zusammenfassung fürs Sportstudio: Was passieren wird, ist dem Kommentator schon bekannt, doch hier kommentiert der offensive Mittelfeldspieler sein eigenes Tun, als stände jemand anderes auf dem Feld.
Das klingt befremdlich, aber vermutlich ist es doch authentisch, denn auf einmal ordnungspolitische Entscheidungen treffen zu müssen, ein Land mitzuleiten (zumindest bis zur ersten Volkskammerwahl im März 1990 war die SED quasi-geschäftsführende Regierung und Gysi Vorsitzender der SED), das scheint ihm nie so richtig geschmeckt zu haben. Opposition mag für manche Mist sein, nicht für ihn. Sonst betriebe er sie ja nicht bis heute.
Am interessantesten ist das (Hör)Buch, wenn sich Gysi an Momente abseits des politischen Alltags erinnert. An seine Treffen mit Nelson Mandela, für ihn eine der wichtigsten Personen unserer Zeit, und Fidel Castro – der Máximo Líder hörte ihm anderthalb Stunden zu und wollte ganz genau wissen, warum die DDR gescheitert sei, das habe er nicht verstanden im Gegensatz zu Rumänien. Gysi liefert ihm plausible Gründe. Zurück denkt er auch an den Hungerstreik mit Lothar Bisky, den vielleicht letzten großen Kulturmenschen der deutschen Politik, und das große Fressen danach. An die Treffen mit den Eichsfelder Kumpeln, die verzweifelt und erfolglos für die Rettung ihrer Arbeit kämpften.
Die Zukunft kommt zu kurz
Weniger interessant ist es hingegen, wenn er erklärt, warum er mit Lafontaine und vor allem Wagenknecht heute seinen Weg des Umgangs gefunden habe. Wem erklärt er das? Und warum? Ist die Spaltung der Linkspartei, die in diesen Tagen wieder in den Journaillen besprochen wird, doch schon so tief? Zudem bleibt der biedere Nachgeschmack, dass Gysi hier auch eine Liste von Leuten nennen muss, abarbeiten quasi. Nicht ungewöhnlich für politische Autobiografien, aber für Parteiexterne recht entbehrlich.
Viel mehr hingegen hätte ich, ganz persönlich, gerne über die Zukunft erfahren. Wie kann Sozialismus im zweiten Viertel des 21. Jahrhunderts aussehen? Und wie ist es um die Kapitalismuskritik 2020 bestellt? Was gibt ein politischer Denker wie Gregor Gysi denen, die kritisch denken, mit auf den Weg? Hat Pazifismus noch eine Chance? All das wird im Nachwort nur kurz angerissen, viel zu kurz. Zukunft mag nicht das Zentrum einer Memoire sein, aber einem wie Gysi geht es doch immer um mehr als nur sich selbst. Zum Beispiel um die Jugend. Ihr wendet er sich sonst, in Video-Interviews und -Statements, ja immer wieder und ausführlich zu, hier vertut er diese Chance. Nun ja, vielleicht macht er ja bald einen Podcast. Ich würde ihn abonnieren.