Buchrezension: Terry Burrows & Daniel Miller – Mute, die Geschichte eines LabelsGrafikdesign von 1978 bis morgen
6.11.2017 • Kultur – Text: Thaddeus HerrmannDie musikalischen Dimensionen von Mute Records sind umfassend dokumentiert und fester Bestandteil in Platten- und CD-Regalen weltweit – nicht nur wegen Depeche Mode. In einem opulenten Bildband arbeiten Terry Burrows und Label-Gründer Daniel Miller nun die Geschichte der Plattenfirma auf, vor allem aus der gestalterischen und grafischen Perspektive. Dabei geht es um weit mehr als Plattenhüllen. Nach knapp 40 Jahren Bestehen ergibt sich so ein Bild des Kult-Labels, das bislang noch nie im Fokus stand.
Das Logo ist geklaut. Das ist die erste Erkenntnis, wenn man sich auf „Mute. Die Geschichte eines Labels“ einlässt und in die visuelle mit erklärendem Text angereicherte Welt des britischen Plattenlabels eintaucht. Der ikonische „Walking Man“ ist seit 1978, als Gründer Daniel Miller seine eigenen beiden Tracks als „The Normal“ auf 7“ presste, ein steter grafischer Begleiter. Immer in Bewegung, fast schon auf dem Sprung zur nächsten Veröffentlichung, eine abstrahierte Metapher für den Fortschritt und den Glauben daran, dass aus dem musikalisch-konservativen DIY des Punk tatsächlich eine neue Kultur entstehen könnte, die sich konstant an der Gegenwart reibt. Das Logo, die praktisch einzige grafische Klammer der Labelgeschichte, ist geklaut.
Eine große Überraschung ist das freilich nicht, es passt vielmehr perfekt ins Bild. Denn auch wenn der Sound von Mute Records seit den späten Siebziger- bis mindestens in die frühen Nullerjahre mit Bands wie Depeche Mode, DAF, Fad Gadget, Yazoo, Erasure, Nick Cave, Nitzer Ebb, Wire, I Start Counting, He Said, Duet Emmo und später – okay – auch mit Moby, Goldfrapp und Plastikman wichtig und prägend war, spielte das Cover-Design zwar keine untergeordnete Rolle, wurde aber nie über längere Zeit aus einer Hand betreut. 4AD hatte Vaughan Oliver und seine träumerischen und oft farbenfrohen Collagen, Factory glänzte mit der Präzision von Peter Saville. Abgesehen von allen Copycats nahmen erst The Designers Republic mit ihrer Art Direktion für Warp diesen Faden wieder überzeugend auf. Nein, Mute ist nicht Blue Note. Das macht dieses Buch aber umso interessanter. Terry Burrows hat es zusammen mit Daniel Miller zusammengestellt.
Das grafische Tohuwabohu von Mute Records so Revue passieren zu lassen, war überfällig.
In Zeiten, in denen das Artwork zur Musik in der Regel nur noch 1.000 x 1.000 Pixel groß ist, scheint es wichtiger denn je, die grafische und gestalterische Geschichte von Plattenlabels aufzuarbeiten, einzuordnen und als schweres und wertiges Coffee Table Book auf den Coffee Table zu legen. Jenseits von überteuerten Reissues und Gatefold-Sleeves spielt genau diese Komponente der Präsentation von Musik eine immer unwichtigere oder zumindest untergeordnetere Rolle, als damals, als der wöchentliche Gang in den Plattenladen Pflicht und das Cover der Neuerscheinungen mitunter der entscheidende Eyecatcher war.
Auch wenn die Displays in den vergangenen Jahren dramatisch besser geworden sind, eine schwere Inside-Out-bedruckte Kastentasche inklusive Innenhülle stiftet mehr Identifikation als ein Thumbnail bei Spotify oder Amazon. Und das grafische Tohuwabohu von Mute Records so Revue passieren zu lassen, war überfällig: Nächstes Jahr feiert das Label 40. Geburtstag.
Tohuwabohu weil: Daniel Miller wollte von Anfang an keine feste Art Direction, dieser Posten wurde erst 1990 besetzt. Als Anfang der Achtziger jedoch klar wurde, dass sich Mute zu einem „echten“ Label entwickeln würde, schon längst entwickelt hatte, hatte er kein Interesse daran, dass sich die Künstler mit ihrer Musik einer alles bestimmenden Designsprache des Labels unterordnen müssen. So entstanden mit den Jahren vielmehr Partnerschaften auf Zeit zwischen Musikern und Grafikern bzw. Fotografen, die die Musik der Bands während bestimmter Perioden visuell begleitet und unterstützt haben: Vielfalt im Großen, Stringenz im Kleinen. Diese Phasen komprimiert nachverfolgen zu können, ist eine der Stärken des Buchs.
Anfangs, 1978, herrschte hingegen Chaos. Wie könnte es auch anders sein. Mit einfachsten Mitteln entstanden die Cover, in der Frühphase erdacht und umgesetzt von Simone Grant, einer Fotografin und Freundin von Daniel Miller, die mit Rubbelbuchstaben von Letraset die Typo der 7“-Hüllen und erste Anzeigen gestaltete und von irgendwo her passende Bilder und Illustrationen organisierte. Auf einem dieser Bögen fand sie auch den „Walking Man“, das Logo des Labels.
Ein Logo, das schon bald auf den Covern von Depeche Mode prangte und von den heute durchaus ikonisch anmutenden Fotografien von Brian Griffin begleitet wurde, bizarren Konstrukten, bedeutungsschwangeren Kompositionen, voller referrenzieller Überdehnungen, die so gar nicht zum anfangs naiven Synth-Pop von Vince Clarke, Martin Gore & Co. passen wollten. Wer mit Mute Records in den Achtziger- und Neunzigerjahren aufgewachsen ist, der findet hier viel Material, das so noch nie zugänglich war. Von der Skizze zur Reinzeichnung, unterschiedliche Varianten des Artworks und der Fotos, Konzert-Flyer, Promo-Experimente, unbekannte Fotos der Künstler selbst. Diese „Making-Ofs“ aus der prädigitalen Ära sind nicht nur wichtige Artefakte, die es unter allen Umständen zu bewahren gilt. Sie erklären auch, wie Grafikdesign vor der Erfindung des Mac und unter prekären Umständen umgesetzt und auf Lofi-Hochglanz gebracht werden konnte. Wen diese Frühphase weder grafisch noch musikalisch interessiert, blättert weiter nach hinten. Wir bleiben für den Moment noch in der klassischen Phase des Labels.
„Mute. Die Geschichte eines Labels“ ist aber kein Buch, dass sich nur an Grafik- und Design-Nerds richtet, und daran scheitert es manchmal. Natürlich ist es geboten, die visuelle Geschichte von Mute mit der musikalischen zu verknüpfen und so ein möglichst rundes Gesamtbild des Labels zu präsentieren. Doch leider ist hier wenig Neues zu erfahren. Ein guter und solider Einstieg für diejenigen, die sich bislang noch nicht mit der Plattenfirma auseinandergesetzt haben, ist es allemal, Auskenner werden textlich aber über weite Strecken enttäuscht. Und auch ohne das englische Original gelesen zu haben, wirkt die deutsche Übersetzung von Bernhard Schmid eher lieblos und unscharf.
Unscharf ist auch das heutige musikalische Profil von Mute Records. Nach dem Verkauf des Labels an die EMI und der großen Krise der Musikindustrie verblasste der einst heilige Gral der vornehmlich elektronisch geprägten Indie-Kultur zusehends. Doch Miller lizenzierte die Rechte am Namen und am Logo – dem „Walking Man“ – zurück und begann von vorne. Seitdem ist Mute einer von vielen Dinosauriern von britischen Traditionslabels, die kontinuierlich versuchen, sich wieder zu finden und zu alter Relevanz zurückzukehren. Die Zeiten haben sich geändert. Das geht 4AD nicht anders und ist auch vollkommen okay. Welcher Lebensabschnitt eines Labels, das es schon so lange gibt, als das goldene Zeitalter bezeichnet wird, ist mittlerweile eine Generationenfrage. Musikalisch und gestalterisch. Hier werden alle bedient. Immerhin: Der „Walking Man“ hat bislang noch jede Krise überstanden.