Leland Melvin ist ein kräftiger Mann mit dunkelblauem NASA-Hemd und einer Stimme, die man gerne für House-Tracks samplen möchte. Er spricht über seinen langen, schweren Werdegang zum Astronauten. Er hatte viele Hürden zu überwinden.
Als schwarzer Junge aus einfachen Verhältnissen stammend wurde er erst NFL-Football-Profi, konnte die Sportlerkarriere aber nicht weiterführen, da sein Oberschenkel nicht mitmachte. Später absolvierte er eine jahrelange Astronautenausbildung. Kurz vor Ende, während eines Trainings im Schwimmbecken, blutete sein Ohr. Kein Arzt konnte erklären, woher das Problem stammen könnte. Melvin wurde ausgemustert, blieb dennoch bei der NASA und brachte Kindern in Schulen die Arbeit der amerikanischen Raumfahrtorganisation näher. Sein Credo: Tu die Dinge, an die du glaubst. Denn Hartnäckigkeit wird belohnt. 2008 flog Leland Melvin erstmalig ins All. Er sagt mit pastoralem Timbre: „This changes your life. Forever!“
Der Astronaut steht auf einer Bühne der Tech- und Start-up-Konferenz Slush in Helsinki. Hunderte Zuhörer hängen an seinen Lippen. Zuckerberg-Wannabes, Studenten, Investoren, Politiker, alte Tech-Hasen und junge Erfinder. „Wir können noch immer mit Technologien die Welt verbessern. Wir müssen nur daran glauben. Und ihr könnt das schaffen.“ Worte, die ein Funkeln in die Augen des Publikums zaubern. Vor allem in der Zeit nach den Enthüllungen von Edward Snowden ist es für die Tech-Industrie schwierig geworden, noch immer diese euphorischen Hurra-Momente wie noch vor ein paar Jahren zu produzieren. Als man noch glaubte, dass Google, Apple, Facebook und Co. die Welt wirklich besser machen. Heute weiß keiner mehr, wem zu trauen ist. Da ist die Rede von Leland Melvin wie Balsam auf der geschundenen Haut der digitalen Branche.
##Sisu aka. Geht nicht, gibt‘s nicht
Denkt man an an das Begriffspaar Technologie und Finnland, fällt vielen eigentlich nur eines ein: Nokia. Denen ging es bekanntlich in letzter Zeit nicht so gut. Die Mobilsparte, einst Aushängeschild der Firma, wurde von Microsoft übernommen und auch ein anderer großer Player, Rovio, die Softwarefirma, die hyperagressive Vögel auf ächzende Schweine fetzt, will nicht so dramatisch wachsen wie ursprünglich gedacht. Man könnte meinen, Finnland befände sich in einem Loch. Tut es gewissermaßen auch. Zahllose finnische IT-Experten suchen neue Jobs und Lebensinhalte, was allerdings nicht einfach ist - in einem Land, das zwar von der Fläche her fast so groß ist wie Deutschland, aber nur 5,4 Millionen Einwohner hat. Ein Finne erklärt mir, dass das oft zitierte „Sisu“, ein Wort, das man eigentlich nicht übersetzen kann, den Charakter der Landsleute definiert. Sisu bedeutet, wenn man sich im Zweiten Weltkrieg standhaft gegen die Russen wehrt, um die Autonomie zu bewahren. Sisu bedeutet, im finstersten Winter zu wissen, dass der Sommer um so heller wird. Sisu heißt auch stoisch weitermachen, niemals aufgeben. Einen Weg gibt es immer. Vor dem globalen Aufstieg von Nokia waren die Wälder Finnlands das Kapital des Landes und die Produktion von Papier eines der wichtigsten Standbeine. Eine mittlerweile museale, ja tote Industrie. Dennoch wurde kürzlich für eine Milliarde Euro eine neue Papierfabrik in Finnland gebaut. Papier im 21. Jahrhundert? In Zeiten von Computern, Displays, Smartphones und ökologischem Bewusstsein? Es scheint absurd, aber die Antwort ist einfach. All die Abermillionen Gadgets, Smartphones und Tablets der Welt brauchen edle und hochwertige Pappkartons. Der Markt brummt wie nie zuvor.
Das Slush ist in den sechs Jahren seines Bestehens zur wichtigsten Branchenveranstaltung in den nordischen Ländern geworden. Anfänglich mit gerade mal 300 Besuchern, hat die Veranstaltung 2014 bereits mehr als 300 Speaker. Erstmals wird die große Messe „Messukeskus“ in Helsinki genutzt, mehr als 10.000 Besucher tummeln sich zwischen kleineren Ständen, hoch zeitgemäßen Pulled Pork-Streetfood-Etablissements und den großen Bühnen, die wie amerikanisches Kabelfernsehen unter Hochdruck bespielt werden. Von Katerstimmung ist nicht viel zu spüren. Und früh merkt man: Es schwingt ein ganz spezieller Vibe. Einer, der deutlich macht, wo die Stärken der lokalen Industrie sind (vor allem Mobile Games sind in Finnland populär und erfolgreich), aber alles dennoch von internationaler Bedeutung ist. Der chinesische Internet-Riese Alibaba hat hier einen großen Stand aufgebaut. Kleine koreanische Start-ups präsentieren sich an kleinen Partystehtischen. Hochrangige Politiker schütteln sich hier medienwirksam die Hände. Die englische Regierung hat gleich einen Londoner Doppeldeckerbus in einer Halle geparkt, um gute Fachkräfte aus Skandinavien für die britische Insel zu rekrutieren. Vielleicht erhofft man sich mit dem besseren Wetter punkten zu können. Anbieter von Webservices wie Amazon buhlen um talentierte Startups, um Deals abzuschließen. Egal ob Soundcloud oder Spotify, alle haben klein angefangen und wer einmal Daten und Traffic bei einem Dienstleister hosten lässt, zieht nicht so schnell wieder um. Der Aufwand ist einfach zu groß.
Die Zeit der wilden Goldgräberstimmung ist vorbei. Dafür zeigt sich das Slush im hypermodernen, abgeklärten, man könnte fast sagen Cyber-Metal-Gewand (auch wenn ich weiß, dass Heavy Metal noch so ein Finnlandklischee ist). Bunte Laser und komplexe Beleuchtungskonzepte wabern über den Köpfen. Vom Eventlayout und der technischen Umsetzung her ist hier alles ziemlich perfekt. Auch das Team der 1.300 bestgelaunten Freiwilligen bettelt nahezu darum, einem helfen zu können und sei es nur mit Wasser oder Schokolade. Sorry to say, und ohne die inhaltliche Bedeutung schmälern zu wollen: Die re:publica wirkt dagegen wie ein anachronistischer Viehmarkt.
Auch interessant: Organisiert wird das Slush von der Aalto Entrepreneurship Society, kurz Aaltoes, einer von Studenten betriebenen Non-Profit-Organisation. Man wollte mit Aaltoes ein besseres Klima für Absolventen schaffen, die nach dem Studium Firmen gründen wollten, da die Universitäten selbst zu wenig Unterstützung anboten. Dabei ist Slush nur eine von hunderten Veranstaltungen und Programmen, die Aaltoes organisiert. Und wenn nach nur so kurzer Zeit so etwas auf die Kette gekriegt werden kann: Chapeau. Und da ist es vielleicht wieder, dieses Sisu. Wenn‘s nicht passt, wird‘s passend gemacht. Kann nur gut werden. Auf dem Heimweg Richtung Flughafen sehe ich die dichten Nadelholzwälder an den Stadtgrenzen Helsinkis. Ich stelle mir kurz Smartphone-Kartons vor, die hier ihren Ursprung haben könnten, aber vor allem frage ich mich, ob es vielleicht doch noch nicht zu spät ist, Astronaut zu werden. Einmal die Erde von ganz weit oben zu sehen.