Pageturner – Juli 2024: Displaced PlacesLiteratur von Cal Flyn, Anne Weber und Olga Ravn
1.7.2024 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteOrte und ihre Geschichten – im Pageturner für den Juli empfiehlt Frank Eckert Bücher, in denen Autorinnen hinter die Kulissen blicken. Mensch, Natur, Interdepedenzen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Cal Flyn unternimmt einen globalen Streifzug auf der Suche nach der Resilienz der Natur. Anne Weber streift derweil durch die Pariser Vorstädte und beobachtet den Umbau für die Olympischen Spiele, bei dem die Menschen vor Ort keine Rolle spielen. Und Olga Ravn widmet sich dem spekulativen Fortbestand der Arbeit an Bord eines fiktiven Raumschiffs.
Cal Flyn – Islands of Abandonment (Viking, 2021)
Womöglich ist es gerade nicht die von Menschen „unberührte“ Natur, die für das Überleben und die Vielfalt des Lebens unseres Planeten am wichtigsten ist, sondern die je nach Zählweise dritte, vierte oder gar fünfte „Natur“, die zurückbleibt, wenn sich der Mensch temporär von diesen Orten zurückgezogen hat. Zum Beispiel weil sie für Menschen Müllhalden oder Brachland sind, weil sie chemisch, radioaktiv oder bakteriell kontaminiert sind, weil sie in den sogenannten „demilitarisierten Zonen“ zwischen verfeindeten Ländern liegen, oder weil eine natürliche oder menschengemachte Katastrophe dort bereits stattgefunden hat.
Diese Inseln, die nicht unbedingt physische Inseln sein müssen, sucht und besuchte die schottische Autorin Cal Flyn und fand Leben aller Art. Oft seltenes, anderswo bedrohtes, artengeschütztes Leben, oft aber auch eines, das nicht den gängigen ästhetischen Ansprüchen, die der Mensch an Natur stellt, entspricht, aber bei genauem Hinsehen mindestens ebenso wertvoll und besonders ist wie etwa ein Wald tausendjähriger Eichen. In dieser Betrachtung und Umdeutung der Funktion wie der Ästhetik der von Menschen aufgegebenen, in verschiedenster Hinsicht kontaminierten Orte, die gar nicht mal so abgelegen oder unzugänglich sein müssen, ist Flyn ein überaus informativer und gut zu lesender Gegenentwurf gelungen zu den abenteuertouristischen Forschungsreisenden des Nature Writing, denen die beschriebene Natur nicht unberührt genug sein kann, deren kartierte Inseln nicht abgelegen genug sein können.
Was die Qualitäten der von Flyn explorierten Orte angeht, bleibt sie deutlich realistisch, aber eben nicht ohne Hoffnung. Die Resilienz der Natur selbst an den vergiftetsten, verseuchtesten, lebensfeindlichsten Orten hat ihren Preis und entschuldigt keineswegs das, was dort jeweils passiert ist, zeigt aber wie trickreiche Evolution und simple Anpassung überraschend schnell wieder für Leben sorgen. Es wird nur nicht unbedingt so aussehen und sich so verhalten, wie es unserem von Tausenden Naturdokus medial kuratierten Natürlichkeitsempfinden typischerweise entspricht.
Anne Weber – Bannmeilen (Matthes & Seitz, 2024)
Die abgelegenen, vergessenen Ecken sind nur von uns vergessen, von anderen werden sie bewohnt. Bittere Erkenntnisse über die Welt und die je eigenen Selbstverständlichkeiten kommen den beiden Psychogeografen und zeitgenössischen Flaneuren der Nicht-Orte, der leicht autofiktional verfremdeten Literatin und Übersetzerin Anne Weber und ihrem Begleiter dem Dokumentarfilmer Thierry. Zwischen zuverlässig-vernachlässigten Hochhaussiedlungen, Industrieparks, Schrottplätzen, Umschlags- und Konsumplätzen für Drogen, Baumärkten, Hinterhofmoscheen, modrigen Unterführungen und konsequent vermüllter Restnatur finden sich nun mal vorwiegend die Prekären, Illegalen, Außenseiter, Hängengebliebenen und Abhängigen, die an Religion oder Sozialismus Strengläubigen, all die sichtbaren Unsichtbaren, die hier in sichtbarer Unsichtbarkeit ihre eigenen Nischen belegen, ihre eigenen Lebenswelten erschaffen haben, in die die Autorin ohne ihren Begleiter französisch-algerischer Herkunft oft nicht eingelassen würde.
In eine solche Gegend, nämlich die mit den Postleitzahlen, die mit 93 beginnen und jenseits der nicht-so-magischen Grenze des Autobahnrings um Paris liegen, wird nun die ganze grandiose Infrastruktur für die Olympischen Spiele 2024 gebaut. Was Weber und ihr Freund zum Anlass nehmen, die Gegend zu Fuß erkunden zu wollen, um Drehorte und Interviewpartner:innen für einen Film über den Kulturenclash von Banlieu und Sportkonsum zu machen. Immerhin gab es vor sechs Dekaden schon einmal einen Olympiasieger aus der „93“. Doch die winterlichen Spaziergänge, die eher Gewaltmärschen ähneln an Straßen ohne Bürgersteig, entlang von Zäunen, abweisender Logistik-Architektur, unmarkierten Trampelpfaden und zahllosen wilden Sperrmüllhalden, werden kurzerhand zum Selbstzweck. Und mehr als nur Anlass und Antrieb, die durchwegs tieftraurigen Geschichten der Orte und Menschen – die ganz wenigen schon erzählten, und die vielen unerzählten – nicht nur wiederzugeben, sondern verstehen zu lernen, letztendlich in eine Form zu bringen, die trotz der unendlichen Tristesse der Vororte, trotz der nicht enden wollenden Schäbigkeit und Verwahrlosung eine immense Würde und melancholische Schönheit hervorbringen.
Das Ergehen der Metropolen-Peripherie ist in den vergangenen Jahren zum eigenen literarischen Genre geworden. Mit Anne Weber (und der charakternahen Esther Kinsky) hat es eine bislang unerreichte Kunstfertigkeit erlangt.
Olga Ravn – Die Angestellten (MÄRZ Verlag, 2022)
Eine schöne Entdeckung, die sich der immergrüne März Verlag da gesichert hat. Die Spekulationen der Dänin Olga Ravn sind nämlich tatsächlich etwas Besonderes. Formal milde avantgardistisch, lyrisch im Ton und thematisch akut an der modernen Arbeitswelt der Zukunft (also der Gegenwart). Das hat den interessanten Effekt, dass der Roman, der im Original 2018 erschien, aus zahlreichen kleinen und nur sehr lose aufeinander bezogenen Fragmenten (hier Zeugenaussagen genannt) viel älter klingt – nach der klassischen Avantgarde oder mittleren Moderne vor hundert Jahren.
Das klaustrophobische Setting erinnert zum Beispiel an E.M. Forsters „The Machine Stops“, auch Kafka ist ein nicht zu weit entfernter Nachbar, selbst wenn sich die Geschichte in einem Raumschiff abspielt. Dieses Schiff der Sechstausend befindet sich auf dem Weg in extraterrestrische Kolonien und wird von geborenen und gemachten Menschen bevölkert, die auf verschiedenste Weise technologisch und psychologisch augmentiert sind, zum Beispiel mit künstlichen Erinnerungen an die Erde, denen aber vor allem jegliche Empathie, jegliches Gefühl für sozialen Zusammenhalt und Interaktion abtrainiert wurde, aber paradoxerweise durch den artifiziellen Wunsch nach althergebrachter heterosexueller Paarbeziehung ergänzt. Diese eintönige Welt aus exakt 19 Dingen, die in jedem Zimmer vorhanden sind, wird durch den Fund dreier Alien-Artefakte, so einer Art lebender Steine, die über Oberflächentextur und Duft kommunizieren, langsam unterlaufen. Es zeigen sich individuelles Aufbegehren gegen die Zumutungen des strikt kontrollierte Systems, und das stabile hierarchische System gerät aus dem Gleichgewicht.
Der Auslöser – und hier ist Ravn ganz heutig – ist also eine Inter-Spezies-Beziehung im Sinne von Donna Haraway. Das Thema ist aber klassisch, wie aus einem Emanzipationsstück der Frühmoderne. Ein Aufwachen, die Menschlichkeit wiederfinden, zu sozialen Wesen zu werden. Es liest sich also wie das Aufwachen aus einem Wachkoma oder einer kollektiven Depression als zeitgemäß futuristische Variation über die Frage, was es bedeutet Mensch zu sein – vermittelt durch eine Beziehung zu Objekten.