Pageturner – April 2024: Stadt, Land, FlussLiteratur von Olga Bach, Nicolas Mathieu und Sheila Heti
4.4.2024 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteVergessen im Berliner Kulturbetrieb, Ausharren in der französischen Provinz und die Welt als Ganzes als schöpfungsgeschichtliche Neuerzählung: Die Autor:innen Olga Bach, Nicolas Mathieu und Sheila Heti nehmen das Leben und seine Grundlagen aus ganz unterschiedlichen Sichtweisen in den Blick. Wer wir sind, wer wir waren, was wir wollten und wollen: Die Geschichten mögen immer andere sein, die Fragen und Zweifel ähnlich sich hingegen landauf, landab. Frank Eckert nimmt uns mit auf eine literarische Partie Stadt, Land, Fluss.
Olga Bach – Kinder der Stadt (Kiepenheuer & Witsch, 2023)
Das Romandebüt der Berliner Juristin und Theaterautorin Olga Bach beschäftigt sich mit Berlin, Theater und Gedächtnis. So weit nicht allzu überraschend nimmt der anfangs eher milde satirische „Berlin nach der Jahrtausendwende“-Text dann doch ein paar unerwartete Abzweigungen. Die zu einer theatralisch-filmischen Auftragsarbeit, für eine Performance-Museumsinstallation zusammengestellten Memoiren der Erzählerin (ebenfalls Juristin und Dramatikerin) klingen mit und reiben sich an dem einbrechenden Realen: der beginnenden Demenz des Vaters, der trotz Erfolg doch ziemlich generellen ökonomischen Planlosigkeit aller Beteiligten, den Auswirkungen der Pandemie. Die generelle Unsicherheit (eben nicht nur ökonomisch) einer solchen projektbezogenen, privatstiftungsfinanzierten und doch seltsam prekär wirkenden Kulturarbeit.
Zum scheiternden Gedächtnis des Vaters kommen die Zweifel an der eigenen (Re)konstruktion einer Vergangenheit, die noch nicht so lange zurück liegt, die die befragten Freund:innen und Weggefährt:innen dennoch anders bewerten. Toll ist, wie Bach das fast ohne Nostalgie, Dramatik, oder Melodramatik erzählt. Stattdessen leichte Melancholie, gelassene Lakonik. Wie Kunst und Bildung einen retten könnten, man letztendlich aber doch irgendwie erwachsen werden muss, davon erzählt dieser Roman ziemlich lässig. Keine schlechte Ergänzung zu der schönen arte-Doku „Capital B“.
Nicolas Mathieu – Connemara (Hanser Berlin, 2023)
Einmal die Seen von Connemara sehen. Der alte Schlager von Michel Sardou markiert den Sehnsuchtshorizont dessen, was man wünschen und hoffen können soll (und will) in der Halbprovinz, weder Stadt noch Land, zwischen wohlhabend und abgehängt, im unwirtlichen Osten von Frankreich. Die eine wollte sich nicht fügen, nicht demütig den Platz einnehmen, der von Lehrern, Eltern und denen, die im Dorf „etwas zu sagen haben“, für sie vorgesehen war und ist fortgegangen, um sich mit den Zöglingen des französischen Elitesystems zu messen, mit überschaubarem Erfolg. Der andere, Eishockeystar und Mädchenschwarm in der Schule, ist geblieben, träumt in den Scherben einer frühen Ehe und einem öden Vertreterjob von einem Comeback am Puck. Zu alt, zu verwurzelt und letztlich zu träge für einen Neuanfang hier. Von der obligatorischen Selbstverleugnung der Selbstoptimierungskultur in der Unternehmensberatung und der Familienverpflichtung, die auf so magische Weise doch immer an ihr hängenbleiben, zermürbt da.
Nicolas Mathieus neuer Roman fragt sich, ob bei dem Aufeinandertreffen dieser auf je eigene komplizierte Weise unglücklichen Menschen etwas noch etwas möglich ist, ein Anfang, ein Ende vielleicht? Mathieu bleibt also im lebensweltlichen Kontext seiner weiteren Romane, speziell „Wie später ihre Kinder“, der eines der überzeugendsten Dokumente einer neuen, jungen, klassenbewussten, sozialrealistischen französischen Literatur war. Das Sujet, ansonsten eher ein Konzentrationspunkt der autofiktionalen Schreibweisen, wird von Mathieu auf fiktive, in ihrer komplizierten Bodenständigkeit ähnliche und doch sehr unterschiedliche Charaktere verteilt. Sowohl der Ablösungsschmerz wie auch die Auf- bzw. Ausstiegsangst haben dieselbe Quelle von Herkunft, Milieu, Habitus. Mathieu hat mit den französischen Autofiktionalen nicht nur die Themen gemein, von denen er erzählt – auch seine Sprache ist wie die von Annie Ernaux oder Edouard Louis täuschend einfach, banal und reich an Stereotypen. Doch gerade darum kommt er dem Schmerz der Figuren sehr nahe.
Sheila Heti – Pure Colour (Vintage, 2023)
Die kurze, kaum halbseitige Bildinterpretation Walter Benjamins zu Paul Klees „Engel der Geschichte“ ist in ihrer kristallinen Klarheit und dem wehmütigen Nachhall des profunden Schmerzes der Erkenntnis eventuell die einsichtsvollste Kunstkritik, die je geschrieben wurde. Das erfreulich unkategorisierbare neue Buch von Sheila Heti beginnt mit einem ähnlich fulminanten Absatz über den (möglicherweise ewig dauernden) Moment, in dem Gott vor der Schöpfung zurücktritt und sie kontemplierend betrachtet. Heti, die lange als eine der Ikonen einer nachmodernen New Yorker Post-911-Hipstergeneration herhalten musste, hat dieses spezifisch passiv-aggressive Sentiment, dessen letzte Ausläufer vielleicht noch in der TV-Serie „Girls“ zu erkunden waren, allerdings lange hinter sich gelassen und stattdessen die „großen“ Themen Religion, Politik, und Mutterschaft in ihr Schreiben (re-) integriert. Jetzt also mit judäo-christlicher Schöpfungsgeschichte als ästhetischer Weltbetrachtung.
Was allerdings bei der Bezeugung der Welt als Kunstwerk eventuell auf der Strecke bleibt, sind so vermeintlich triviale Dinge wie Fairness und Intimität. Weswegen es in dieser ersten (aber nicht unbedingt besten) aller Welten – in der wir alle uns mutmaßlich befinden, die Protagonist:innen des Romans aber ganz bestimmt – zu allerlei Seltsamkeiten und Missverständnissen kommt. Was nun aus einer Neuerzählung einer (der?) Schöpfungsgeschichte der Welt und einer Person (Hauptfigur, geliebte Tochter und ungeliebte Geliebte) eine enigmatische Reflexion über das Wesen aller Kunst und die Essenz der Dinge, den Charakter der Menschen macht. Einen Text aus fragmentierten wtf-Momenten im Tonfall von Mythen, Märchen und philosophischer Selbstbefragung. Ein Floß aus selbstgebastelter Esoterik, treibend auf einem Fluss aus Rätseln. Ein quantenverschränktes Wunderuhrwerk, dem es sich erstaunlich leicht hingeben lässt – wie Benjamins Engel im Sturm der herumfliegenden Trümmer die Flügel nicht mehr schließen kann. Also Flow statt Analyse? Wer noch nie mit dem Geist des gestorbenen Vaters im Blatt eines Baums gelebt hat wie die Protagonistin, werfe den ersten Stein.