Die Düsseldorfer Grandbrothers beweisen mit ihrem Debüt „Dilation“, dass das Piano noch immer das tollste Instrument der Welt ist.
Holen wir ein bisschen aus. Was die Geschichte der Instrumente anbetrifft, war das Tasteninstrument (Klavier, Orgel, Cembalo) das erste, das mit einem – man würde heute sagen – Interface ausgestattet gewesen ist. Egal ob Flöte, Trommel, oder Geige, bis dahin entstand Klangproduktion durch eine direkte körperliche Aktivität des Musikers. Der Schlag auf die Pauke, der Bogenstrich. What you do is what you hear. Bei einem Klavier versteckt sich die Klangerzeugung hinter einem hölzernen Kasten. Der Musiker sieht nur die Tasten und braucht auch nur diese zu betätigen, um Musik zu machen. Er muss nicht wissen, was im Hintergrund zwecks Sounderzeugung genau passiert. Die Technik versteckt sich hinter einer undurchsichtigen Hülle, den momentanen Höhepunkt hat diese Technikevolution bei Smartdevices erreicht.
Bei einem Gitarristen ist das anders. Die gegriffene und gezupfte Saite ist gleichbedeutend mit der Schallerzeugung. Die ersten Musikautomaten waren daher fast logischerweise Lochklaviere, ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass das heute so oft verbreitete Musikmachen mit dem Computer in einem direkten Entwicklungszusammenhang steht. Das sieht man in heutigen Software-Sequenzern: Piano Roll und das MIDI-Keyboard stellen immer noch wichtige Kontroll-Tools dar. Ergo: Das Tasteninstrument war die erste und mit Sicherheit bedeutsamste Interface-Abstraktionserfindung in der Geschichte der Instrumente. Das Piano hat in den vergangenen Jahren im Rahmen der elektronischen Popmusik einige Revivals gefeiert. Musiker wie Hauschka, Francesco Tristano oder Brandt Brauer Frick fusionierten Club und elektronisch-digitale Klangerzeugung mit dem klassischem Klavier. Immer wieder fiel hier der Begriff Neo-Klassik, eigentlich ein Unwort. Aber die popgeschulte Musikjournaille kann bei Pianos offenbar einfach nicht anders als an romantische Autorenschaft der Gattung Schubert oder an spröde Czerny-Etüden zu denken.
Die beiden Düsseldorfer Musiker Erol Sarp und Lukas Vogel widmen sich in ihrer Musik und ihrem gemeinsamen Projekt Grandbrothers ebenfalls dem Klavier. Nach einer EP im vergangenen Jahr auf dem jungen Label Film ist nun ihr Debütalbum „Dilation“ erschienen. Man kann die Grandbrothers durchaus in einer Tradition mit den oben genannten Acts betrachten. Ihr Ansatz unterscheidet sich in Feinheiten dann aber doch. Denn während Erol Sarp elegische Klavierspuren in bester Ryuichi-Sakamoto-Tradition spielt, produziert Lukas Vogel aus Erols Klavierklängen mithilfe verschiedener elektromagnetischer Hammer sowie daran gekoppelter Computern und Effekte Rhythmen, Soundscapes und Synthesizer-ähnliche Sounds, mit dem Unterschied, dass eben keine Synthies zum Einsatz kommen. Anders als beim frühen Hauschka oder Brandt Brauer Frick, die gerne mit mechanischen Pianopräparationen wie bei John Cage arbeiten, handelt es sich hier um eine Art zusätzliches Meta-Klavier.
Der Titeltrack der ersten EP, der auch auf dem Album vertreten ist, „Ezra was right“ wurde unter anderem von der englischen Radio- und DJ-Legende Gilles Peterson gefeiert und hat dadurch vor allem auch für offene Ohren auf der Insel gesorgt. Dass die deutsche Grafiker-Legende Mario Lombardo hinter dem Album- und Labelartwork steckt, sei nur am Rande erwähnt, zeigt aber den Top-Notch-Anspruch des gesamten Unterfangens und ja, Dilation ist eines der spannendsten Klavieralben der letzten Jahre mit laszivem Hang zur experimentellen, neuen Musik wie bei Alvin Lucier und Konsorten. Dilation funktioniert aber auch ganz hervorragend ohne all die vorhin bemühte Einordnung. Es ist trotz der minimalistischen Orchestrierung episch, poppig, cineastisch und gleichsam herzzerreißend. Will heißen, geht blendend ohne Pseudodiskursdenkfalten oder sogar dann vielleicht sogar besonders gut. Bei den Grandbrothers wird das Piano als Musikmaschine neuartig interpretiert. Es ist Songwriting-Instrument und zugleich ein scheinbar unerschöpfliches Trigger-Arsenal für artifiziell wirkende Sounds.
Am Ende ist es einfach eine schöne Platte. Eine, die den Spagat vollbringt, zeitgemäß modernistisch zu sein und zugleich eine Zeitlosigkeit ausstrahlt, so dass ich sie auch auf der nächsten Cabrio-Tour mit meiner Mutter hören würde, was ausnahmsweise mal ohne Einschränkungen positiv zu verstehen ist. Ein Highlight.