The Sound Of D, setzkastenmäßige Ästhetik, gemolltonte FresseThe Detroit Escalator Co., Francis Harris, Anadol – 3 Platten, 3 Meinungen

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Wenn der Staub aus der Sahara die nach wie vor wintrigen Fenster in Mitteleuropa noch stärker zustreuselt, ist es Zeit für den Frühling. Die Sonne strahlt strahliger, die Sounds sounden kräftiger. Blumberg, Cornils und Herrmann – die eingegroovten Experten des runden Tisches der Musikkritik – lauschen bei Bio-Pils, Blanc De Blanc und Spaghetti mit Rosenkohl gemeinsam 3 Alben und haben wie immer 3 Meinungen.

Für die vorfrühlingshafte Ausgabe des Roundtables geht es zunächst nach Detroit in die 1990er-Jahre. Dort dachte sich Neil Ollivierra die „Detroit Escalator Co.“ aus – ein Projekt für die ambiente und doch exakt getaktete Verarbeitung des Lebensgefühls in der Motor City jenseits der Bassdrum. Das Album „Soundtrack [313]“ wurde gerade zum ersten Mal seit 1996 wieder veröffentlicht und ist nun auch endlich digital verfügbar. Hält der vermeintliche Klassiker der Gegenwart stand? Francis Harris ist ein Held der House-Music. Und geht auf seinem neuen Album „Thresholds“ doch ganz andere – ebenso ambiente – Wege. Funktioniert das? Ohne die angestammte Bassdrum? Und dann kommt Anadol. Die türkischstämmige Künstlerin Gözen Atila wirft auf ihrem Album „Felicita“ viel um, was schon viel früher hätte umgeworfen werden sollen. Und schafft ein einzigartiges Biotop der Intimität.

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The Detroit Escalator Co., Soundtrack [313], ist auf Musique Pour La Danse erschienen.

The Detroit Escalator Co. – Soundtrack [313] (Musique Pour La Danse)

Thaddi: Ich möchte zunächst über meine Geschichte mit diesem Album berichten. Die LP erschien Anfang Dezember 1996, wirklich mitgeschnitten habe ich das Album jedoch erst ein paar Wochen später. Und machte mich am 31.12. diesen Jahres am Vormittag auf, eine Kopie zu ergattern. Es sah nicht gut aus. Im Bergmann-Kiez war sie überall ausverkauft, schließlich landete ich kurz vor 13 Uhr im Hardwax, wo ich die „Store Copy“ bekam, also das Vinyl, das von zahlreichen Punter:innen bereits gehört worden war. Entsprechend fertig war die LP – mir war das aber zu diesem Zeitpunkt vollkommen egal. Ich ging glücklich nach Hause, legte das Vinyl auf und das Sound-Design vermischte sich mit den Böllern vor meinem Fenster. Ich bin an diesem Abend bestimmt noch ausgegangen – wohin, weiß ich allerdings nicht mehr. Es gibt kaum ein Album – das gilt bis heute –, das mich glücklicher macht und mehr beruhigt. Die Musik von Neil Ollivierra ist so simpel wie komplex. Sein Umgang mit getakteten Delays spannt ein Universum auf, dem sich meine Seele bis heute nicht entziehen kann. Auch wenn ich generell kein ausgewiesener Freund von Reissues bin, freut es mich sehr, dass dieses Album nun neu veröffentlicht wird. Weil: Es ist die Platte von Ollivierra. Wenig genug hat er ja gemacht. Seine erste Maxi – die „Braille EP“ – ließ sich noch organisieren und gern haben. Die etwas krude geratene Auswertung neuerer und älterer Tracks auf Peacefrog aus dem Jahr 2000 und das zweite Album „Black Buildings“ von 2001 packte mich dann nicht mehr so. Trotz Konzept, dem Anschluss an die bildende Kunst. Ein One-Hit-Wonder? Vielleicht. Und weil die Musik dieses Albums eben so rein gar nichts „will“, strahlt sie noch heute so hell. Da ist das Erhabene, das Stille, die Field Recordings aus Downtown Detroit, das musikalisch Freundliche und Freundschaftliche. Mich fasst das alles extrem an. Ich könnte jetzt erzählen, wie ich bei meinem Besuch in Detroit mit Mad Mike im Späti abhing, wir in seinem Jeep auf der Belle Isle rumkurvten und Mojo im Radio hörten und danach noch was essen waren – das würde an meiner Beziehung zu dieser Musik jedoch nichts ändern. Ich bildete mir immer ein, Detroit schon in Berlin verstanden zu haben beziehungsweise mich der Stadt annähern konnte. Und dieses Album hilft mir dabei. Noch heute.

Christian: Mit persönlichen Geschichten kann ich nicht aufwarten. Als dieses Album auf unserem runden Tisch landete, dachte ich zunächst: Och, jetzt müssen wir hier auf so ollen Detroit-Kamellen rumlutschen, nur weil ein Reissue-Label wieder eine tote Kuh melken will. Dann war ich dankbar, denn beim Hören gefiel mir das Album sehr. Weil es trotz seiner sehr zugänglichen Melodiösität so etwas stets im Vagen bleibendes, Schwebendes hat. Obwohl es kaum auf diesen Effekt hinarbeitet, schließlich sind die Tracks recht simpel und nachvollziehbar gebaut. Ich vermute, dass dieser Schwebezustand neben den von Thaddi erwähnten Delays vor allem Gründe im Harmonischen hat, in den Chords, und wie die jeweils geclustert sind. Vermutlich ist das wiederum eine Eigenart der Hardware, mit denen die Stücke damals produziert wurden? Mehr noch als die benutzten Maschinen würde mich aber interessieren, was dieses Album 1996 für einen Impact hatte. Es klingt für mich älter als es ist. Man kann das ja auch als Krautrock hören, oder? Kann mir nur schwer zusammenreimen, wie sich das damals angefühlt hat. Anyone?

Thaddi: Über die Einflüsse, die zu dieser Produktion führten, habe ich auch viel nachgedacht – kam dabei aber nicht wirklich weiter. Ein Jahr zuvor, 1995, erschien das Album „Landcruising“ von Carl Craig. Darauf gibt es den Track „A Wonderful Life“, der systemisch im Ansatz ähnlich funktioniert, also mit vergleichbaren Techniken arbeitet, dann jedoch vollkommen anders abbiegt. Ollivierra war Intimus der alten Detroit-Gang, arbeitete als Label-Manager bei Transmat. Vielleicht hat sich da etwas gegenseitig inspiriert oder befruchtet. Das ist aber eine schlichte, bestimmt falsche Mutmaßung. Für mich ist Detroit bis heute viel weniger Jeff Mills als der Sound von Ollivierra. Moody und vergänglich. Zerbrechlich, wenn ihr so wollt. Ich komme aus der Tradition von Jamie Hodge (Born Under A Rhyming Planet) und Dale Lawrence aka Theorem. Auch wenn das drei ganz unterschiedliche Entwürfe sind, spüre ich einen verbindenden Vibe.

Kristoffer: Ich war noch niemals mit Mad Mike am Späti, nicht ein einziges Mal in Detroit und habe die Motor City bei Veröffentlichung des Albums auch noch nicht verstehen können – damals lebte ich allerdings in Buxtehude, nicht Berlin, und ging noch zur Grundschule. Mir sagte der Name nun wirklich nichts, aber Carl Craig war auch eine meiner Assoziationen, als die Platte hier dann drei, vier Mal durchlief. Durchlaufen kann sie ja toll, fast unmerklich, aber doch irgendwie pulsgebend. Ich mag sie irgendwie, aber finde fast, dass mir der Zugang tatsächlich etwas verwehrt bleibt, weil ich schlicht die historische Dimension so gar nicht mitdenken oder besser noch -fühlen kann. Also das Dabeigewesensein, das vielleicht schon ein wichtiger Schlüssel ist. Was mir allerdings auffiel beziehungsweise was ich interessant fand: Würde nicht der fette Detroit-Stempel draufprangen, hätte ich schätzungsweise aufs UK getippt. B12, so die Ecke. Oder bin ich da musikhistorisch-geografisch völlig verwirrt?

Neil Ollivierra

Neil Ollivierra / The Detroit Escalator Co. | Foto: Nick Koudis

Thaddi: Das Dabeigewesensein spielt für mich in der Rezeption dieses Album auch absolut gar keine Rolle. Music Is Music – ein alter Spruch, der hier aber gilt. Natürlich spült mein musikalisches Erwachsenwerden in diese LP mit rein, aber auch ohne das angeschlossene Wissen würde ich diese Tracks lieben. Weil sie meine Erwartungen bedienen an Musik im Allgemeinen und Deepness im Besonderen. Das betrifft all die Stichworte, die ich oben bereits angesprochen habe. B12 ist als Referenz interessant. Ich kann das nachvollziehen, gleichzeitig aber auch gar nicht. Doch: Die Banderole der Reissue nennt The Black Dog – also nicht weit weg von B12 – als Referenz, dazu Tangerine Dream, Klaus Schulze und – natürlich – Manuel Göttsching. Da bin ich raus. Für mich ist das doch schon ein eigenständiger Entwurf.

Kristoffer: Göttsching kann ich noch ein bisschen raushören – diese merkwürdig verzahnten Wiederholungen. Tangerine Dream oder Klaus Schulze aber? So gar nicht. Wie gesagt dachte ich natürlich auch an Carl Craig, aber irgendwie passte mir das maximal in Hinsicht auf die Atmosphäre, den Vibe dieser Platte, während die eigentliche Machart und der Umgang mit Raum und Rhythmus – auf eine Art ja das Hauptthema dieses Albums, oder? – mich dann aber doch eben an verkiffte Brits denken ließ, die gerade von der Party beim Orbital M25 nach Hause gekommen waren. Was schon spannend ist, weil das Album ja sehr ortsspezifisch ist, nicht wahr? Kann mir jemand das Konzept erklären, sollte es eins geben – inwiefern ist das hier auch auf inhaltlicher Ebene eine Detroit-Platte?

Ich wäre jedenfalls beim bloßen Hören kaum auf die Idee gekommen, dass es sich hier um einen heiligen Gral aus Detroit handelt.

Christian: Ich wäre jedenfalls beim bloßen Hören kaum auf die Idee gekommen, dass es sich hier um einen heiligen Gral aus Detroit handelt. Aber vielleicht ist es eben auch das Ohr von 2022, das die Verknüpfungen zu Göttsching et al herstellt. Man hat die ja auch beigebracht bekommen. Der Kraut-Anteil ist eher eine Signatur. Verkifft ist es schon, ja. Aber auf eine eigenartig nüchterne Weise, wenn das überhaupt geht. Es ist meilenweit von den schlimmen Verquastheiten entfernt, die jemand wie Göttsching zum Teil verantwortet hat. Ollivierras Album ist dagegen sehr on point, es mäandert in festgesteckten Rahmen. Bin mir aber nicht ganz sicher, wo die herkommen. Ist das jetzt Detroit-spezifisch?

Thaddi: Ich höre diese Platte zunächst ganz losgelöst von ihrem Ursprung. Detroit, Berlin, Bremen, Milwaukee – scheißegal. Hier kommen Tracks zusammen, die in ihrer Entität Sinn ergeben und eine Geschichte erzählen. Und ich mag diese Geschichte sehr. Natürlich bekommt das Album durch seine Detroiter Herkunft eine andere Bedeutung – das geht ganz automatisch, davon können wir uns wohl alle nicht ganz befreien. Denn natürlich denken wir ab und an die Stadt, in Verbindung mit ihrer musikalischen Bedeutung für den Techno. Vielleicht mag ich das Album genau deshalb so gerne. Weil es die Seite von Detroit erzählt, die ich immer besonders mochte.

Kristoffer: Und an die müssen wir ja auch in ganz konkreter Hinsicht denken, denn zwischendurch gibt ja jemand eine Wegbeschreibung. Und überhaupt: „Soundtrack [313]“, dieser Titel allein ist ein Statement. Das ist er also, der Soundtrack von Detroit. Klare Ansage. Ich glaube aber letztlich, dass ich mir in diesen Klängen doch vor allem wie ein Tourist vorkomme. Nicht wie jemand, den sofort beim ersten Ton das Gefühl des Zuhauseseins erfasst. Aber das kann viele Gründe haben. Solange zumindest würde ich trotzdem sagen: mindestens vier von fünf Sternen für einen rundum guten Aufenthalt.

Thaddi: Dann wechseln wir die Ambient-Seiten und hören Francis Harris!

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Francis Harris, Thresholds, ist auf Scissor & Thread erschienen.

Francis Harris – Thresholds (Scissor & Thread)

Thaddi: Ich oute mich mal, wenn das okay ist. Wie immer sind wir ja unter uns. Ich hatte vergessen, dass Francis Harris auch Adultnapper ist, zahlreiche Solo-Alben produziert hat und das Label Scissor & Thread betreut und betreibt. Darüber habe ich ihn aber kennengelernt – durch die zahlreichen 12"s, die er dort gemeinsam mit Anthony Collins als Frank & Tony veröffentlicht hat. Da machte mein House-Music-Herz einen großen Sprung gen Himmel. Natürlich hat „Thresholds“ rein gar nichts mit House zu tun – vielleicht abgesehen von hier und da aufflackernen Blitzern im Side-Channel. Und vielleicht sind wir damit auch schon mitten im Thema. Das ist Ambient, klare Sache. Die Zutaten sind bekannt und erprobt. Und doch erlebe ich hier eine Art der Spurensuche mit vielleicht nicht klaren oder eindeutigen, für mich aber doch merklichen Referenzen. Music Is Music – hatte ich oben ja bereits gesagt. Aber das ist meine Tunnelmündung, durch die ich in dieses Album hineinfahre. Komfortabel eingekuschelt in der 1. Klasse eines fast schon obszön modernen Zugs, der mich in rasender Geschwindigkeit von A nach B bringt und mich dabei doch komplett entschleunigt. Will sagen: Ich höre Echos. Besonders auffällig bei einem Track wie „Rebstock Fold“, der für mich nicht weniger als eine Coverversion von Shuttle 358s „Frame“ ist – eine meiner deepesten Wohlfühl-Oasen aller Zeiten. Wie geht es euch mit diesem Album?

Wir sitzen hier nicht etwa im rumpeligen Zug von Detroit nach Chicago, sondern im Shinkansen von Kyoto nach Tokyo.

Kristoffer: Ich sitze im Vierer gegenüber! Ich habe sowieso einen ähnlichen Zugang zu Harris’ Schaffen – am Anfang standen Frank & Tony. Letztens erst habe ich im Plattenschrank vergeblich deren Kollaboration mit DJ Sprinkles gesucht, die ich wohl verkauft haben muss. Schande über mich! Aber nun dieses Album. Es fließt dahin – wir sitzen hier nicht etwa im rumpeligen Zug von Detroit nach Chicago, sondern im Shinkansen von Kyoto nach Tokyo – und schreibt sich unmerklich in den Raum ein. Zwischendurch hatte ich sogar den Gedanken, dass das fast schon Musik als (angenehmer, klar) Geruch ist: Irgendwas, das kaum merklich an der Wahrnehmungsgrenze flimmert und doch einen wahnsinnig großen Impact auf die Stimmung hat. Zumal Harris dann zum kleinen großen Finale doch anklopft, sich bemerkbar macht und sagt: Hi Leute, ich bin noch hier! Und ihr seid’s auch! Und tja, dann ist er ein willkommener Gast.

Christian: Über das Finale müssen wir vielleicht gesondert sprechen. Bis zu jenem ist es das erstmal ein sehr gediegenes Ambient-Album mit jazzigen Untertönen. Und ich würde behaupten: Es ist gut gearbeitet, es klingt jedenfalls super professionell. Sehr wertig irgendwie. Stimmig ist es zunächst auch, trifft dabei aber Entscheidungen, mit denen ich mich nicht recht anfreunden kann. Es haben nur ganz wenige Elemente Platz, die so ein bisschen aus dem Stream ausbrechen und mal so ein bisschen den Raum öffnen. Diese zuckenden Synth-Geräusche in den ersten Minuten „Rebstock Fold“ vielleicht, die schätze ich, weil sie sich ein bisschen widerspenstig ausnehmen. Die werden aber auch schnell von einer sanft plätschernden Gitarre abgelöst, die Pan American zu verantworten hat. Eh eine Referenz für den ersten Teil der LP. Etwas später räkelt sich dann ein Saxofon über genretypischen Soundflächen, da wird es schon sehr schmierig und ich wollte skippen. Habe aber durchgezogen. Und wisst ihr was? Alles wiederholte sich. Das Synth-Zucken (in „Threshholds“), die tröpfelnden Gitarren, das laszive Saxophon (in „Speculative Nature…“). Naja, das fand ich dann gar nicht so speculative, sondern doch etwas ideenlos. Und dann, ja dann kam das Finale.

Thaddi: Bin total bei dir. Und feiere das trotzdem hart.

Francis Harris

Frank Harris | Foto:Charles Lyons

Kristoffer: Ich wollte gerade sagen: Thaddi, du bist doch der große Verteidiger von Wiederholungen überhaupt! Das Schöne an dem Album ist für mich, dass mir das alles wie gesagt kaum auffällt. Klar sehe ich, dass da einige Motive wieder aufgenommen werden und zwar nicht einer kompositorischen Stringenz folgend, sondern weil Harris vermutlich einfach Bock drauf hatte. Das kann vielleicht schon störend für alle sein, die genau hinhören. Aber ich finde es gerade toll, das nicht zu tun. Und so kann ich auch nachlässig sein in Hinsicht auf die manchmal doch etwas sehr setzkastenmäßige Ästhetik. Hier muss ich mal an den typischen 12K-Ambient denken, dort mal an Dave Harringtons (unterschätztes) Solo-Schaffen, dann wieder an Nullerjahre-IDMbient – da werden Stück für Stück alle Register gezogen und eben nochmal ein paar Gitarren oder eben ein Saxofon draufgeschmiert. In künstlerischer Hinsicht vielleicht nicht der große Wurf, aber stimmungsmäßig bin ich komplett dabei. „Thresholds“ gibt mir in dem Sinne genau das, was „Soundtrack [313]“ mir nicht geben kann: Das Gefühl, im Hier und Jetzt zu sein. Die Mittel dafür sind mir erstmal schnurz.

Christian: Dass Harris Ambient neu erfindet, erwarte ich gar nicht. Ich warte aber trotzdem auf den Punkt, an dem nicht einfach Altbewährtes nochmal durchgespielt wird. Vielleicht ein kleiner Twist, oder dass da irgendwie mal ein Kommentar gemacht wird, statt nur auf Atmosphäre zu setzen. Gute Kunst setzt sich ja immer zu anderer Kunst in Verhältnis, das ist bei Musik – sogar bei Ambient – nicht anders. Music is not just music, wenn ich den alten Spruch von vorhin mal umkehren darf. Aber okay, Harris macht das nicht. Muss er auch nicht. Aber deswegen ärgert mich diese Tonne Pathos, die da in den letzten Stücken ausgekippt wird, als wolle Harris jetzt auf einmal doch nochmal alles umwerfen. Warum denn auf einmal? Jetzt soll es also mächtig werden, also nimmt Harris Streicher und viel Hall, und dazu erklingt ein flatternder Klagegesang, das verleiht Gravitas. Und dazu ein bisschen Wall of Sound, plötzlich ist da Schmerz. Die Mittel mit denen das passiert, die sind halt auch so offensichtlich, wie aus dem Lehrbuch. Das ist Deepness durch Masse, du kannst aber trotzdem noch bis zum Grund sehen.

Thaddi: Empfindest du diese Platte wirklich so? Ich halte das Presseinfo und den vermeintlichen „Background“ oder den Hintergrund zu diesem Album mal kategorisch raus.

Christian: Schon, ja, ich höre da ein musikalisches Vokabular, das sich in den letzten Jahrzehnten eben bewährt hat. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Wenn ich versuche, die LP zu lesen, anstatt sie zu empfinden, gehen die Probleme für mich los. Jetzt bringe ich mal die Paratexte kategorisch rein, denn die ärgern mich auch: Im Infotext wird etwas pseudophilosophisch über Raum, Zeit und Ächz gesprochen, über Nervositäten und Unsicherheiten als angeblichen „Angelpunkt der LP“. Aber was an dieser Musik ist nervös oder unsicher? Ich höre hier sehr viel Sicherheit. Dann gibt es noch Leibniz-Zitate („Die Falte“), und diese Beigaben fühlen sich an, als sollten sie das Gesamtpaket irgendwie aufdonnern. Vielleicht „überinterpretiere“ ich, aber sogar das Artwork behauptet so einen medialen Twist: Da ist dieser Fernseher, im Wartezimmer eines Krankenhauses. Das Foto ist aber mit viel analogem Korn aufgenommen, was sich irgendwie gegen die glatte TV-Ästhetik stellt, und ich weiß gar nicht, was das jetzt mit Leibniz oder mit der Musik zu tun hat. Es wird auf allen Ebenen Bedeutung suggeriert, die musikalisch überhaupt nicht eingelöst wird. Das sind so hingeworfene Versatzstücke. Und dieses Pathos-Finale, so kommt es mir vor, soll irgendwie vergessen machen, dass das Album über weite Strecken gar nichts zu erzählen hatte.

Kristoffer: Harte Worte! Da bin ich umso froher, dass ich nicht oder nur kaum auf den Pressetext gelinst habe. Schon der Titel macht natürlich vorsichtig, diese ständige Faszination von Musiker:innen an sogenannten liminal spaces könnte mittlerweile ja auch von diesem Meme-Template aufgefangen werden. Aber ich habe mich in diesem Fall einfach dazu entschlossen, das zu ignorieren. Und das hilft, denn das Finale wirkt dann nie wie ein großer Cop-Out auf mich, sondern holt mich sehr gut ab. Vorbereitet wird es ja allerdings schon hier und dort durch den Einsatz von Stimme und das immerhin musst du schon zugeben, denke ich: Komplett klischeehaft ist es definitiv nicht, ein paar wirklich gesungene Vocals in eine Ambient-Platte einzubauen. Zumindest kommt nicht die Ansage der Yamanote, das ist doch was.

Christian: OK, den Punkt hast du. Hab’ mich ein bisschen reingesteigert. Was ist die Ansage der Yamanote?

Kristoffer: Hör dir einfach jedes x-beliebige Ambient-Album der letzten zwanzig Jahre und du findest es raus!

Thaddi: „The next Station is Shinagawa. The doors on the right side will open.“ Und wir schwenken zu Anadol.

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Anadol, Felicita, ist auf Pingipung erschienen.

Anadol – Felicita (Pingipung)

Kristoffer: Ich weiß noch genau, wie es war, als vor vier Jahren „Uzun Havalar“ erschienen ist. Irgendwo hat immer irgendjemand einen Track davon aufgelegt und dann kam jemand anderes hinzu und beide haben sich sehr darüber gefreut, dass sie diese Musik so freut und niemand jedoch konnte so wirklich erklären, was daran eigentlich so geil ist. Deswegen war sie ja so geil. So geht’s mir nun auch mit dem Nachfolger ein bisschen, „Felicita“ finde ich toll und nochmal irgendwie sehr anders als den Vorgänger. Nur was genau mich daran so reizt, das checke ich beileibe nicht. Es ist alles kratziger, psychedelischer, wie heißt’s auf Englisch immer so schön?, abrasive, auf eine Art. Dazu lässt sich nicht mehr so gut mit dem Kopf mitnicken. Und trotzdem: Es nimmt mich mit. Dich auch, Christian, oder?

Christian: Yup, schon weil es das Gegenteil von Harris tut, es schafft neue Allianzen. Ein Blick auf die Zutatenliste: schunkelkiger 6/8-Takt, Chansoneskes, dieser fast komische Outsider-Heimorgel-Sound. Aber auch: schwerfälliger kreisender Quasi-Psych-Rock mit Dub-Note, gleich im Opener, oder wenig später ein spaciges Jazz-Rock-Ungetüm. Die türkischen und griechischen Einflüsse, die Gözen Atila verarbeitet, kann ich leider nur erahnen, aber nicht genauer benennen. Und ich bedauere sehr, dass ich die Texte nicht verstehen kann. Laut Pressetext fallen sie wohl ins Register des Tragikomischen, was wiederum perfekt mit der Heimorgel resoniert, aber gar nicht mit dem rockistischen Anteil des Albums. Das ist irgendwie alles wild und hinterlässt viele Fragezeichen, und solche Fragezeichen mag ich.

Kristoffer: Tatsächlich bekommen wir in den ersten Minuten ja mehr Tangerine Dream in die Ohren gespült als auf der gesamten „Soundtrack [313]“, aber danach legt eben die Rhythmussektion los und plötzlich ist’s eher ein psychedelischer Post-Rock-Song. Dann der nächste Schwenk: Drummachine-Preset-Dub. Hä? Diese Stilbrüche, die ja wirklich sehr überraschend kommen und deshalb sehr unkalkuliert scheinen, sind schon irre. Ich verstehe auch überhaupt nicht, mit welcher Haltung da eigentlich musiziert wird. Ist das absichtlicher Dilletantismus? Mit Doppel-L, versteht sich. Oder doch irgendwie eine Art von Konzeptkunst, die ich nur nicht schnalle? Ja, die Fragezeichen, sie sind da. Aber auch ein Ausrufezeichen: Wenn ich demnächst mal wieder in einer Bar auflegen sollte, kommt mindestens einer der Tracks auf den Teller und dann kommt jemand anderes zu mir hin und und und. Ihr wisst schon. Weil: Ist grandios!

Thaddi: Ich kann mich euch beiden nur anschließen. Ich mag diese Platte sehr, kann meine Faszination und Begeisterung aber nur schwer in Worte fassen. Da geht einfach zuviel. Und zu viele Dinge passen dabei auf der Oberfläche nicht zusammen. Da bin ich ja eigentlich immer sofort im „Yeah“-Department, hinterfrage das aber selbstverständlich auch. Hier aber hinterfrage ich rein gar nichts. Ich verstehe diese Platte als uniquen Entwurf, der genauso für sich stehen bleiben muss. In aller Weirdness (entschuldigt, ich bin ein alter Sack und an ebenso etablierte Strukturen gewohnt), und gleichzeitig beeindruckender Konsistenz. Meine Güte, macht mir diese Platte Freude. Auf die gemolltonte Fresse. Bestens!

Anadol

Anadol / Gözen Atila | Foto: Niclas Weber

Kristoffer: Ich habe verstanden: Wir verstehen nichts. Ich hoffe nur aber, dass niemand ankommt und sie uns erklärt. Weil das ist doch die schönste Musik überhaupt: Die, die ich überhaupt nicht begreife. Sowieso durchzieht dieses Album ja eine fast Lyncheske Traumlogik, da geht’s von einem Modus in den nächsten und irgendwie passt gar nichts zusammen und fließt doch ineinander. Das ist ganz fantastisch. Ich glaube, sonst würde mich auch der Sound stören. Es ist schon irgendwie lo-fi, irgendwie Achtziger, irgendwie Minimal-Synth-Platte-die-Veronica-Vasicka-neu-ausgegraben-hat. Aber dann wieder eben genau das doch nicht, sowohl in Stil als auch in der Haltung (welche auch immer das ist). Das rettet für mich alles.

Christian: Ja, es ist viel Versatz unter neuen Vorzeichen, aber nirgends liegt die Gebrauchsanweisung, in der steht, welche Vorzeichen das sind. Aber das ist gerade geil, diese Rekontextualisierungen, und du denkst: Ach guck, so lässt sich das also auch flippen und montieren.

Kristoffer: Pssst, das erklärt es mir zu gut.

Thaddi: Dann schubbern wir mit diesem Entwurf einfach in den schon längst untergegangenen Sonnenuntergang? Kein Widerspruch? Umso besser.

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