Es muss nicht immer Samsung sein: HTC bringt mit dem U11 ein neues Smartphone der High-End-Klasse in den Handel. Ab dem 1. Juni ist es in Deutschland erhältlich. Es kann alles, was die Flaggschiffe der Mitbewerber auch können – und noch viel mehr. Dinge, die man bei der Konkurrenz vergeblich sucht. Ein erster Blick auf das neue Telefon des Android-Pioniers, der mittlerweile kaum noch eine Rolle spielt. Spoiler: Es lohnt sich.
Die Geschichte von HTC kann man auf zweierlei Weise erzählen: als Gewinner oder als Verlierer. Beides stimmt. 20 Jahre wird das Unternehmen dieses Jahr alt. Anfangs baute man im Taiwan Geräte für andere Hersteller, den eigenen Namen traute man sich noch nicht auf die Front zu drucken. Vielleicht gar keine schlechte Idee, denn was war damals schon los im Telefon-Land, das krampfhaft versuchte, smart zu werden. Dabei gehen aber das erste Telefon mit Windows überhaupt genauso auf das Konto von HTC wie – fast ein Sprung in die Jetztzeit – das erste Android-Smartphone.
Wenn es um Android ging, kam man ein paar Jahre lang nicht an HTC vorbei. Aus guten Gründen. Die Telefone waren durchdacht, oft brillant, meist solide und nur selten wirklich dämlich. Es lief rund, der Aktienkurs stieg, alle happy, bingo bongo. Dass es so gut lief, lag vor allem daran, dass die anderen (Samsung) einfach noch nicht so weit waren. Und Apple eh das tat, was das Unternehmen immer machte und nach wie vor tut: sein eigenes Ding.
Dann kam der freie Fall.
Nach HTC kräht kein Hahn mehr, höchstens noch ein paar Küken.
Das Portfolio wurde zu groß, wirkliche Innovationen wurden seltener. Viele Geräte hätte man sich auch einfach sparen können. Und doch: Vieles von dem, das man heute in einem Smartphone einfach voraussetzt, gehen auf das Erfindungskonto von HTC. Stereo-Lautsprecher zum Beispiel oder die Dual-Kamera. Und wer weiß: Hätte HTC nicht Aluminium als Werkstoff für sich entdeckt, wären Android-Telefone heute vielleicht immer noch aus Plastik. Geholfen hat es alles nichts. Nach HTC kräht kein Hahn mehr, höchstens noch ein paar Küken. Das ist so skurril wie ungerecht, denn mehr Fehler als andere Hersteller hat man sich auch nicht geleistet. Doch die Verkäufe gingen erst zurück und blieben dann aus. Die Quartalszahlen verursachen selten mehr als kalte Schauer auf dem Rücken. Wieder weniger. Von allem.
Ich bin ein Prototyp
Aufgehört Smartphones herzustellen hat HTC dennoch nicht. Bislang jedenfalls. Immer, wenn ein neues Modell angekündigt wird, frage ich mich: Wird dieses denn nun wirklich das letzte sein? Wundern würde es mich nicht, aber traurig machen. Ich mag HTC. Auch wenn es lange her ist, seit ich mit einem dieser Smartphones unterwegs war. Vielleicht bin ich also der prototypische Grund dafür, warum man mittlerweile bei HTC eher an VR als an Telefone denkt.
In den vergangen Jahren hat sich das Smartphone-Business fundamental verändert. Hersteller aus China – Huawei, Honor, Oppo, OnePlus, Xiaomi, Meizu, Lenovo bedienen den Markt mit sehr preisgünstigen Geräten. Mal lokal, mal international. Und sobald der Marktanteil gesichert war, legte man den Schalter ganz sachte um und drehte die Preisschraube nach oben. Nächste Haltestelle: Samsung, also Flaggschiffe und S8-Preise. Ob diese Strategie aufgeht, gilt es noch eine Weile zu beobachten. Der Punkt ist jedoch: Die Billigheimer und Plastikbomber spielen mittlerweile ohne Billig und Plastik in einer Liga, in der sich HTC immer bewegt hat. Und wenn die Kunden ergo bereit sind, viel Geld für ein Telefon auszugeben, könnte doch HTC auch wieder eine Chance haben? Zum Beispiel mit dem neuen U11? Das kostet 750 Euro und kommt am 1. Juni in den Handel. Vor rund einer Woche hat es der Hersteller schon mal auf den Tisch gelegt. Nicht ohne Stolz, aber auch nicht ohne eine gewisse Nervosität. Erst gab es Schokokuchen und dann, mit Zuckerschock, die Präsentation.
Neulich erst, da proklamierte ich an dieser Stelle, dass Specs nicht alles sind, dass man Facebook zur Not also auch auf einer Schreibmaschine bewältigen könnte. Das wäre sowieso mehr als angemessen. Fakt ist aber: Aktuell redet die Welt über exakt drei Telefone. Die beiden S8-Modelle von Samsung und das G6 von LG. Innen Panzer, außen Ballett, also schiere Eleganz. Glas vorne, Glas hinten, beste Ausstattung, neuestes Android, Killer-Kameras und so weiter und so schnarch. Tolle Geräte, gar keine Frage. Nichts anderes erwartet man von Samsung und von LG eigentlich auch. Das Bruttosozialprodukt von Liechtenstein als Marketing-Budget draufgeschmissen und fertig ist der LTE-Blockbuster.
HTC hat genau so ein Telefon gebaut, hat aber leider nicht (mehr) das Marketing-Budget zur Verfügung.
HTC U11
- Prozessor: Snapdragon 835
- Display: 5,5" (1.440p)
- 4 GB RAM
- 64 GB Speicher (erweiterbar)
- OS: Android 7.1.1 (mit HTC Sense und Edge Sense)
- Hauptkamera: 12 MP, OIS und EIS, f/1,7, HDR, 4K-Video
- Frontkamera: 16 MP, 1080p-Video, f/2.0
- IP67 zertifiziert
- Akku: 3.000 mAh
- Anschluss: USB Type-C
- BoomSound-Lautsprecher
- InEars mit aktiver Geräuschunterdrückung
- Farben: schwarz, weiß, blau, silber, rot
- Geräte im freien Handel sind Dual-SIM-fähig
- Geräte von Telekom, o2 und Vodafone schlucken nur eine SIM
Das U11 hat vorne und hinten Glas. Es hat den neuesten und vermeintlich besten Prozessor. Ein knackiges 5,5"-Display. Das neueste Android. 4 GB RAM. 64 GB Speicher. Es ist wasserdicht, hat gute Kameras und laute Lautsprecher: eben all das, was man in so ein 170 Gramm schweres Kommunikationsdingens einbauen muss, um „Flaggschiff“ draufschreiben zu und 750 Euro dafür verlangen zu können. Aber das U11 hat auch ein paar Dinge, die die Konkurrenz nicht hat. Und die sind eigentlich ganz geil. Oder haben zumindest Potenzial.
Edge Sense
Da ist zunächst der untere Teil des Rahmens, links und rechts des Displays. Dieser Teil ist berührungsempfindlich und reagiert auf Druck. HTC nennt das „Edge Sense“ und will so eine noch bessere Bedienung des Telefons ermöglichen. „Edge Sense“ greift auf keinen Sensor im klassischen Sinn zurück, funktioniert also auch unter Wasser, mit Handschuhen oder auch dann, wenn das Telefon in einem Case steckt. Mit einem squeeze kann zum Beispiel erst die Kamera aktiviert und dann ein Bild geschossen werden. Oder der Google Assistant aufgeweckt werden. Oder die Diktierfunktion, sobald die virtuelle Tastatur ausgeklappt ist. Kurzer Druck, langer Druck? Unterschiedliche Funktionalitäten. In einer App, die schon bald von HTC nachgereicht werden wird, soll sich das dann alles frei konfigurieren lassen: Apps starten oder was auch immer. Auch festgelegte Workflows will man so automatisieren, vom Snapchat-Quatsch bis zu deutlich nützlicheren Dingen. Eine Beta-Version soll im Juli zur Verfügung stehen. „Edge Sense“ hat durchaus Potenzial, den Umgang mit unserem Telefon nicht nur zu verändern, sondern auch vieles einfacher zu gestalten. Wenn es denn wirklich so funktioniert. Die Basics machten bereits einen überzeugenden Eindruck, aber Basics reichen selten, um etwas nachhaltig zu verändern oder zumindest eine Veränderung anzustoßen. Daumen drücken, dass das klappt.
Alexa
Wer Android sagt, sagt ja auch Google. Gerne auch „Ok, Google“ für die Sprachsteuerung. Das U11 wird das erste Telefon sein, das Google und Amazons Alexa parallel unterstützt. Auf Zuruf. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Huawei versucht aktuell, Alexa auf einem Telefon zu implementieren und erntet dafür vor allem Schelte. Weil das mit dem Zuruf eben nicht funktioniert, sondern man erst in die App und dann einen Knopf drücken muss und spätestens dann keine Lust mehr hat. Das U11 hat vier Mikrofone. Die sind für vieles gut, zum Beispiel für Richtmikrofonie bei Videoaufnahmen, aber auch, um Alexa mit dem Zauberwort zu aktivieren. Wer schon einen Echo zu Hause stehen hat und Konfusionen vermeiden will, kann den Amazon-Assistenten ebenfalls über einen squeeze aktivieren.
Stille, ganz laut
Wie Apple (und mittlerweile auch einige andere Hersteller) verzichtet HTC beim U11 auf den Kopfhörerausgang: SKANDAL. Anders als Apple (und einige andere Hersteller) hat man sich in Taiwan aber eine schlaue Lösung überlegt: InEars. Klar, über USB-C angeschlossen, auch klar, aber mit aktiver Geräuschunterdrückung – und das ist nicht so klar, beziehungsweise wurde so noch nie umgesetzt. Zudem werden die Ohrhörer auch noch an die eigenen Ohren angepasst, das Klangprofil wird also an der persönlichen Schwerhörigkeit ausgerichtet. Das macht HTC nicht erst seit gestern, der Prozess war bislang aber eher langwierig. Beim U11 wird einfach ein kurzes Rauschen produziert, das bereits alle notwendigen Informationen sammeln soll. Das Resultat: Die aktive Geräuschunterdrückung funktioniert gut, die Ohrhörer selbst klingen überzeugend. Leider gab es nur AC/DC zu hören, da kenne ich mich nicht so aus mit der versteckten Deepness. Die InEars liegen dem U11 bei, ohne Aufpreis. Kein schlechter Deal. Einen Adapter für konventionelle Kopfhörer gibt es auch dazu. Der dort integrierte DAC – Audiowandler – soll klasse sein. Ausprobieren ließ sich das noch nicht.
Die integrierten Lautsprecher des U11 verteilen die Höhen in die Hörmuschel und den Rest in den klassischen Speaker auf der Unterseite des Telefons. Es klang ganz überzeugend, besser als bei Samsung allemal, aber die haben eh keine Ahnung von Audio. Alternativ können beide Lautsprecher auch das „gesamte“ Frequenzspektrum bedienen. Klassisch stereo, klassisch links/rechts.
Was bleibt
Das U11 von HTC scheint – basierend auf 45 Minuten Ausprobieren – vieles richtig zu machen. Ob’s hilft? Abwarten. Dass das angeschlagene Unternehmen gegen die Marketing-Macht von Liechtenstein aka Samsung ankommen wird, ist eher unwahrscheinlich. Anders als Samsung setzt HTC aber nicht auf einen eigenen Sprachassistenten, sondern hängt sich vielmehr an den erfolgreichen Alexa-Zug dran. Das ist schon mal gut, logisch und nachvollziehbar. Auch wenn die verbaute Technik den Preis von 750 Euro bestimmt rechtfertigt, ist HTC aber faktisch nicht mehr in der Position, genau diesen aufzurufen. 150 Euro weniger und das U11 wäre eine echte Ansage mit reellen Chancen. So wird es zwar nicht zu einem Rohrkrepierer werden, aber aller Voraussicht nach im Grundrauschen des MediaMarkts untergehen. Voll schade.
Viel Glück, HTC! I mean it.