Review: iPad ProGroße Seelen dulden still – Über Sinn und Unsinn eines Riesen-Tablets

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Tablet, Laptop, Supercomputer? Flugzeug, Rakete, Supergrobi! Das iPad Pro ist zwar nicht das erste Tablet mit einem Notebook-großen Display, aber Apples initialer Vorstoß in diese Richtung von Gerät, die bislang mehr oder weniger erfolgreich von Microsoft mit den Surface-Pro-Tablets besetzt wurde. Und genau wie das Entwicklungs-Team in Redmond spendieren auch die Tüftler aus Cupertino dem iPad Pro zwei Zubehör-Stücke, die das Tablet aus dem Freizeit- in den Produktivitätsmodus hieven sollen: einen Stylus und ein Tastatur-Dock. Reicht das, um aus dem Tablet ein „Pro“-Gerät zu machen? Und was heißt das eigentlich, Pro?

Es gab eine Zeit, da waren Macs die Arbeitsgeräte einer eingeschworenen Gemeinschaft. Marktanteil? Gleich Null. Das war genau die Zeit, in der an Apples schicke Flagship-Stores noch nicht zu denken war und eine Gravis-Filiale den Charme einer Bahnhofswartehalle hatte. Macs waren die Rechner der „Kreativen“, also zum Beispiel der Grafiker und Musiker, Computer für die „Pros“, die auch bereit waren, den verlangten Premium-Preis zu zahlen. Es lebte sich so mäßig gut in dieser Nische für Apple, erst mit dem ersten iMac konnte das Ruder kurz vor knapp wieder herumgerissen werden.

All das ist lange her. 2015 ist das MacBook als Laptop praktisch omnipräsent, das iPhone sowieso. Nur das iPad ist irgendwie auf dem absteigenden Ast. Nicht nur das iPad, das Tablet als Produktkategorie verliert nach kurzer Popkultur-Krönchen-Phase zunehmend an Bedeutung. Ein dritter Screen zwischen Laptop und Telefon wird ob der kontinuierlich größer werdenden Handys für viele zwar nicht überflüssig, fristet aber oft genug ein staubiges Dasein auf der Couch, wird zur Netflix-Quetsche und Gaming-Lösung für Kinder. Das Tablet ist ein Gebrauchsgegenstand, der ohne große Aufmerksamkeit im Alltag mitgeschleift wird. Und genau deshalb oft Jahre lang nicht durch ein neueres Modell ersetzt wird. Einerseits. Andererseits haben viele Menschen das iPad zu ihrem primären Rechner gemacht. Man nennt das wohl casual computing. Funktioniert ja auch wunderbar, wenn nicht 48 Programme und 356 Browser-Tabs zum minimalen Setup gehören. Ein Tablet ist leicht, passt problemlos in jede Tasche und kann meist mit einer Hand auch über längere Hand gehalten werden.

Mit dem iPad Pro geht das alles nicht.

Und doch ist es ein faszinierendes Stück Technik, das das alte Nischen-Dasein des Macs als Erfolgs-Paradigma nutzt. Mit dem Unterschied, dass diese Nische mittlerweile um ein Vielfaches größer und profitabler ist.

Das iPad Pro ist groß, sehr groß, Meine-Fresse-groß. Mit rund 720 Gramm ist es nur noch 200 Gramm leichter als mein aktueller Laptop – in der mir vorliegenden Test-Konfiguration (128 GB Speicher, LTE-Unterstützung, eine Hülle für die Rückseite, ein Cover für vorne und der Apple Pencil) sogar teurer als besagtes MacBook. Na dann mal los.

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Die aktuellen iPads: iPad Pro, iPad Air 2, iPad mini

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Um die schiere Größe noch besser zu illustrieren – von oben nach unten: iPhone 6s, 6s Plus, iPad mini, Air 2, Pro

Revolution von unten

Wer auf der Suche nach einem Tablet für das schon erwähnte Couch-Szenario ist: Bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen. Natürlich ist es Sofa-kompatibel, sitzend, auf dem Schoß, oder auch liegend mit angewinkelten Beinen, im Hoch- oder Querformat, das ist ganz egal. Aber das ist nicht die Bestimmung eines so großen Tablets. Das iPad Pro ist ein Spezialgerät mit meiner Meinung nach klar definierten Einsatzgebieten, die den Kauf rechtfertigen. Dazu ist die technische Ausstattung zu gut und das angebotene Zubehör zu eindeutig richtungsweisend.

„5,6 Millionen Pixel sind für Größeres bestimmt als Binge-Watching.“

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Das ist die Kausalkette des iPad Pro. Auf einem Toughbook von Panasonic kann man auch YouTube schauen, nur würde man es deshalb nie kaufen. Wobei: Das iPad Pro ist ein verdammt sympathischer 13“-Fernseher. Dank des wirklich fantastischen Displays (mehr Pixel gibt es aktuell in keinem mobilen Apple-Produkt: 2.732 x 2.048) und auch der vier kraftvollen Lautsprecher, die das Stereobild automatisch der jeweiligen Orientierung des Tablets anpassen, ist das große iPad im Medien konsumierenden Alltag ein ernstzunehmender Kinosaal mit angeschlossener Roller-Disko. Doch die 5,6 Millionen Pixel sind für Größeres bestimmt als Binge Watching. Deshalb stehen wir jetzt auch von der Couch wieder auf.

„Kein Laptop-Ersatz, aber nah dran.“

Das iPad Pro ist die Manifestation dessen, woran Apple in den vergangenen Jahren an der iOS-Front gearbeitet hat. Mit der aktuellen Version – iOS 9 – wurden der Tablet-Familie diverse neue Features spendiert, die die systemimmanenten Grenzen von Apples mobilem Kosmos erstmals im Positiven aushebeln, zumindest ansatzweise. Eine Revolution von unten sozusagen, ein Startpunkt, um die Grenzen zwischen Desktop und mobilem Gerät verschwimmen lassen. Zwei Apps gleichzeitig, in freundlicher Koexistenz, gleichberechtigt nebeneinander auf dem Display. Auf dem großen Screen des iPad Pro macht das erstmals Sinn. Links Slack, rechts die Textverarbeitung, links der Browser, rechts E-Mail: Ich hatte das eingefordert, danke fürs Zuhören. So kann das iPad Pro den Laptop zwar nicht zu 100 Prozent ersetzen (dazu müsste man iOS erst den Stock im Software-Hintern ziehen), in vielen Situationen jedoch eine veritable Arbeitsumgebung bieten, in der man unter Umständen sogar mehr gebacken bekommt als mit dem Notebook. Stichwort Fokus. Konzentration, kreativer Tunnelblick. Für solche Deadline-Momente ist das iPad Pro der perfekte Begleiter. Viel Fläche auf dem Display und dennoch so gut wie keine Ablenkung.

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Zwei Mal aufgeklappt: Das iPad Pro (links) ist größer als das 12"-MacBook (rechts) ...

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... und bietet im Split-Screen beiden Apps mehr Fläche

Reiseschreibmaschine, verzweifelt gesucht

Nicht nur, aber vor allem für uns Text produzierende Maniacs bietet Apple erstmals für das iPad Pro eine Hülle mit integrierter Tastatur an: das Smart Keyboard. Wie mit dem Formfaktor des neuen Tablets hat man sich auch in Sachen Zubehör viel Zeit gelassen und die Mitbewerber (Microsoft) genau beobachtet. Die haben für die Surface-Tablets auch Tastaturen im Angebot, die über die Jahre sogar immer besser wurden. Nun hat Apple eine eigene. Das Problem ist nur: Man kann sie aktuell nicht kaufen. Vapourware. Wer einen Apple Store in seiner Stadt hat, kann sie dort ausprobieren, nur das Mitnehmen des – zugegebenermaßen mit 179 Euro zu teuren und nur mit englischem Tastatur-Layout verfügbaren – Zubehörs ist aktuell unmöglich. Die meisten Journalisten haben das Keyboard sowieso schon als untauglich abgekanzel. Ich weiß nicht genau, warum. Mir bereitete das Schreiben auf dieser Tastatur keinerlei Probleme, ganz im Gegenteil. Sehrclicky, harter Anschlag, genau richtig für eine Reiseschreibmaschine. Wie geschaffen für das ultraschnelle Runterhacken von Ideen, Fragmenten, kurzen Stücken. Wenn ich sie doch nur kaufen könnte!

„Wo ist das Trackpad? Und der Maus-Zeiger?“

Natürlich kann man jede Bluetooth-Tastatur mit dem iPad koppeln, aber ich will ja kein separates Keyboard im Rucksack mit mir rumtragen. Einzig verfügbare Case-Alternative aktuell: das Create von Logitech. Aber das ist hässlich und schwer wie ein Panzer. Meh. Wer mit dem Mac arbeitet, fühlt sich zudem sofort zuhause. Viele Tastatur-Shortcuts wurden für das iPad übernommen, weitere für das Tablet punktgenau zugeschnitten. Das ist so nah dran am Mac, dass man sich eigentlich nur fragt: Wo ist das Trackpad? Und wo der Maus-Zeiger? Warum muss ich bestimmte Dinge eben doch auf dem Touchscreen erledigen? Fragen, die mindestens in dem kommenden zwei Jahren aktuell bleiben werden. Denn der Erfolg eines solchen Tablets inklusive Zubehörs wird auch davon abhängen, ob und wie Apple iOS als Betriebssystem weiter aufbohrt und vom Desktop bekannte Funktionen integriert. Wenn dies geschieht, führt das zu keiner Kannibalisierung oder einer verstärkten Konkurrenz zwischen iOS und OS X, sondern schlicht und einfach zu einem harmonischeren Miteinander: developing story.

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Digitaler Kuli

Dass es Apple nicht schafft, zum Marktstart des iPad Pro das Smart Keyboard und den – noch deutlich wichtigeren – Apple Pencil in die Regale zu stellen, ist bemerkenswert.

Denn ja: Auch den Stylus sucht man im Moment noch vergebens in den Läden. Aktuelle Lieferzeit: vier bis fünf Wochen. Bei diesem kleinen, wohl gewichteten Wunderwerk kann man vielleicht noch nachvollziehen, dass es zu Engpässen kommt. Was heute gerne vergessen wird: Apple kennt sich aus mit dem Prinzip Stylus und nur weil Steve Jobs erklärter Gegner dieser digitalen Stifte war, bedeutet das noch lange nicht, dass er auf einem Gerät wie dem iPad nicht sinnvoll einzusetzen wäre. Ist er. Gerade dann, wenn er so gut ist wie der Apple Pencil.

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Zwei Generationen Stylus-Design von Apple. Links: der Stift des Newton (1997), rechts: der Apple Pencil (2015)

Es ist bei weitem nicht der erste Stylus für Apple-Tablets, die Auswahl ist riesengroß. Der vielleicht beste kommt von FiftyThree und heißt genau so wie das Apple-Pendant: Pencil, kostet die Hälfte (aktuell rund 50 Euro) und funktioniert im Gegensatz zum Apple-Stift auf allen iPads und sogar auf dem iPhone. Wer den Apple Pencil nutzen will, braucht ein iPad Pro. Und das hat Gründe. Einerseits ahmt der Apple Pencil tatsächlich einen traditionellen Bleistift nach (da kennt man sich aus), hat genau das richtige Gewicht und eine perfekt austarierte Spitze. Der eigentliche Clou liegt aber – wie so oft – im Zusammenspiel von Hard- und Software. Obwohl ich alles andere als begabt bin, wenn es um Malen und Zeichnen geht, habe ich diverse dieser Stifte ausprobiert. Ist ja ein verlockendes Angebot, das klassische Notizbuch gegen ein digitales Pendant zu tauschen. Praktisch alles Mist. Das Hauptproblem ist zweigeteilt: Latenz, also die Verzögerung zwischen dem eigentlichen Schreiben auf dem Display und dem Zeitpunkt, wo die Bewegung eben dort dargestellt wird, und die Erkennung des aufliegenden Handballens auf dem Screen. Die Verbindung Apple Pencil und iPad Pro machen diese Probleme zunichte.

„Warum Pro? Pencil ausprobieren!“

Nein, es fühlt sich nicht genauso an, als wenn man auf Papier schreibt, die Präzision des Stifts ist jedoch mehr als beeindruckend. Dass das so gut funktioniert, ist auch der Grund dafür, warum der Pencil nur im Zusammenspiel mit dem iPad Pro einsetzbar ist. Zwar nimmt der Stylus wie alle anderen auch Kontakt via Bluetooth zum Tablet auf, das Display jedoch fragt 240 Mal pro Sekunde ab, ob eine Berührung mit der Stift-Spitze stattgefunden hat. Das erzielt jene Präzision, die den Apple Pencil so gut funktionieren lässt. Andere Sensoren erkennen und regeln die Darstellung dessen, was man gerade tut: schreiben, schraffieren etc. Sogar der Neigungswinkel des Stylus zum Display wird erkannt. Mit dem Apple Pencil lässt sich das Pro im Namen des neuen iPads durchaus rechtfertigen, weil hier zum ersten Mal systemweit ein Versprechen eingelöst wird, das dem Tablet einen tatsächlichen Mehrwert neben seiner schieren Größe verpasst. Und sogar jemand wie ich, der den Stift gar nicht richtig wertschätzen kann, freut sich an den kleinen Details des Apple Pencil. Zum Beispiel am gewichteten Design, dass das Runterrollen vom Tisch verhindert und den Stylus immer mit dem Logo nach oben abstoppt.

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Die Batterie wird über den Lightning-Stecker aufgeladen ...

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... direkt über das iPad Pro. Wenn das mal gut geht. Alternativ funktioniert aber auch ein normales Lightning-Kabel.

Pad sucht App

Das Pro steckt aber auch im Inneren des iPads.

Der Prozessor ist der schnellste, den Apple jemals in einem iOS-Gerät verbaut hat. Mal wieder, – klar –, und natürlich braucht es Chip- und vor allem Grafik-Power, um ein derart pixelbepacktes Display zu bespielen. Faktisch hat man es hier aber mit einem Gerät zu tun, das nicht nur größer ist, sondern auch für Großes bestimmt ist. Genauer: bestimmt wäre, gäbe es die Apps dafür. Es gibt zahllose brillant gemachte Programme, die die Möglichkeiten der CPU nachdrücklich unter Beweis stellen. Es fehlt nicht an Pro-Apps. Oder doch?

„4K rendert das iPad Pro auf der linken Tablet-Backe. Aber reicht das?“

Diese Frage müsste sich Apple zunächst selbst stellen. Einige Pro-Apps für OS X hat man noch im Programm: Final Cut zum Beispiel, den Video-Editor oder auch Logic für die Musikproduktion. Unter iOS gibt es aber nur die „Schmalspur-Varianten“ iMovie und GarageBand. Warum ist das so? Ja, iMovie kann auf dem iPad Pro 4K-Material auf der linken Tablet-Backe rendern, beim Funktionsumfang fangen die Pros aber nur nervös an zu kichern. Das Gleiche gilt für GarageBand. Apple darf sich nicht ausschließlich auf die Kreativität der Entwickler verlassen, die ihre Apps im Store anbieten. Denn dort gute Ideen nachhaltig zu monetarisieren, ist schwierig bis unmöglich. Da gibt es kein Photoshop. Adobe stellt zwar mehrere Einzel-Features als separate Apps zur Verfügung, die alle gut funktionieren, aber sie müssen immer wieder in Adobes eigene Cloud zurückgespielt und am Desktop fertiggestellt werden.

Natürlich hat sich in den vergangenen Jahren das Bild des „Pros“ nachhaltig gewandelt. Apple ist daran nicht ganz unschuldig. Je mehr gute Apps es gibt, zu einem erschwinglichen Preis oder sogar umsonst, desto besser. Am Ende zählt ohnehin nur die eigene Kreativität und der ebenso kreative Umgang mit den Tools, die man zur Verfügung hat. Die Art und Weise, wie Apple seinen eigenen Software-Laden organisiert, könnte aber bald eine Verweigerungshaltung der Entwickler bewirken. Was dramatische Folgen hätte. Stellenweise ist das jetzt schon der Fall. Preisdruck, keine Demo-Versionen, nur über Umwege zu realisierende bezahlte Updates. Das tut Apple im Allgemeinen und iOS im Besonderen nicht gut. Für das mobile Betriebssystem ist der App Store faktisch der einzige Weg, um Software auf den Geräten zu installieren.

Aber es gibt sie, diese Vorzeige-Apps. Ich habe mich in den vergangenen Wochen an allerhand für mich und meine Begabungen skurrilen Dingen versucht: zeichnen, illustrieren, 3D-Designs erstellen, Bilder retuschieren. Alles cool, hätte ich nur Talent. Ich mag das iPad Pro und ich mag vor allem den Apple Pencil. Einzig als digitales Notizbuch taugt das Tablet nicht besonders. Dafür ist es einfach zu groß. Und: Um mich vollständig zu überzeugen, müsste Apple systemweit eine Handschrifterkennung einbauen. In den 1990er-Jahren konnten das die Newton-PDAs auch sehr gut. Genau das ist das Killer-Feature, das dem iPad Pro im Moment noch fehlt. Dass der Apple Pencil im kommenden Jahr auch mit kleineren iPads funktionieren wird, dürfte klar sein. Man gebe mir ein iPad mini mit Pencil und Handschrifterkennung und der Laden läuft. Bis es soweit ist, bleibt das große Pro-Tablet eine brillante, aber auch teure Medien-Maschine und ein mehr als gutes Tool für die kreative Nische, die Bock auf das Digitale hat. Und mit der Nische kennt sich Apple traditionell ja aus.

iPad Pro PR

iPad Pro
Display: 12,9“ (2.732 x 2.048 Pixel) / Prozessor: A9X / Gewicht: 713 / 723 Gramm / Maße: 305,7 x 220,6 x 6,9 mm / Farben: gold, silber, spacegrau

WiFi-Modell: 32 GB: 899 € / 128 GB: 1.079
WiFi + LTE: 128 GB: 1.229 €

Apple Pencil
109 € inklusive Lightning-Adapter und Reserve-Spitze

Smart Keyboard
179 €

iPad Pro 11

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