Unser digitalisiertes EssenBuchrezension: Foodcode von Hendrik Haase und Olaf Deininger

Foodcode

Essen ist das analogste, was uns noch bleibt in einer durchdigitalisierten Welt? Denkste. Foodcode zeigt, wie es um unsere Lebensmittel heute tatsächlich bestellt ist: Vom Acker bis zum Teller, vom Stall bis zur Lieferbox sind Algorithmen am Werk. Was bedeutet das für uns? Jan-Peter Wulf stellt das Buch vor.

Ein Klassenkamerad von mir hatte einen recht speziellen Job: Immer am Sonntagmorgen musste er in dem kleinen Käsereibetrieb seines Vaters die Laibe wenden. Ich erinnere mich noch dunkel, dass er dafür eine ganze Menge Geld bekam für Mittelstufenverhältnisse, aber es war ja auch eine enorme Verpflichtung damit verbunden, als Teenager, egal wie lang oder kurz die Samstagnacht war, aufzustehen und Käse umzudrehen. Der Klassenkamerad ist heute, soweit ich weiß, tatsächlich in der Lebensmittellogistik tätig, den elterlichen Betrieb gibt es nicht mehr. Müsste er dort immer noch das Käsedrehen managen, würde er sich vielleicht für den Wenderoboter interessieren, den sich die britische Bauernmolkerei Westcombe Dairy zugelegt hat. Die längst nicht mehr das einzige Unternehmen ist, das so einen Roboter betreibt.

Künstliche kulinarische Intelligenz

Der Käse-Umdreh-Roboter ist eines von vielen, vielen Beispielen in Foodcode, das der Berliner Food-Aktivist Hendrik Haase und der Journalist Olaf Deininger, der am Bodensee lebt und arbeitet, kürzlich veröffentlicht haben. Damit wecken die beiden eine schon viel zu lange schlummernde Debatte. Denn wenn wir an Digitalisierung, Automatisierung, Robotik und Co. denken, denken wir an alle möglichen Branchen: an IT natürlich, an Produktionsstraßen in der Automobilindustrie, doch wie programmiert unser Essen ist, vom Ackerbau über die Verarbeitung bis zur Lieferung ins Supermarktregal oder an die Türschwelle und bis in unseren Körper hinein, darüber machen wir uns wohl weniger Gedanken. Doch die Realität sieht anders aus: Am Esstisch, beim Einkaufen und beim Kochen geben uns digitale Assistenten und Smartphone-Apps Rezept-Tipps oder Ernährungshinweise, qualifizieren und quantifizieren, was wir in den Warenkorb legen und in den Mund schieben. Mitunter ist an die Empfehlung gleich der passende Lieferdienst angeschlossen. Die neueste Thermomix-Generation hat einen Vierkernprozessor unter der Haube und 40.000 Rezepte ab Werk, Selbstbrau-Automaten kommen in Kombination mit vorgefertigten Mischungen daher. Einmal mehr, wir kennen es von vielen anderen Bereichen der Konsumgüterwelt, geht es darum, Lockin-Effekte zu erzielen und die Verbrauchenden an ein bestimmtes Ökosystem aus Hard- und Software zu binden. Nur dass die Tintenpatrone hier eben die Hafermilch ist oder das Stout. Auch wenn Essen bzw. Ess-Stile scheinbar Ausdruck von Individualität sind: „Die Küche könnte der nächste Ort sein, in der ungeahnte Oligopole oder gar Monopole entstehen“, konstatieren die Autoren.

Doch es geht noch viel weiter bzw. fängt schon da an, wo Essen entsteht, wächst. Denn auch auf dem Acker gibt es solche Systemlösungen, die Hardware – Erntemaschinen zum Beispiel – mit Analysetools für Wetter und Co. sowie dem exklusiven Bestellportal kombinieren. Oder gemeinsame Nutzung von Drohnen zum Monitoring der Viehbestände. Kälber werden, das könnte man quantified calf nennen, mit Fitnesshalsbändern auf ihre Gesundheit hin überwacht, statt dass präventiv mit Antiobiotika gearbeitet wird. Ebenso bei der Fischzucht, in der Medikamente oft massig ins Wasser kommen: Skandinavische Lachse werden schon heute mit einem ferngesteuerten U-Boot, das mit einer kleinen Laserkanone bestückt ist, von Parasiten befreit. Auch beim Pflanzenschutz auf dem Feld wird auf den Quadratmeter genau Insektizid eingesetzt, statt die Bazooka rauszuholen. Doch wenn Erdbeeren möglichst so beschaffen sein sollen, sprich gezüchtet werden, dass Roboter sie besonders gut pflücken können, dann steht das einer Pflanzen- und auch Geschmacksvielfalt entgegen und macht (Feld)Früchte in Zukunft schlimmstenfalls noch gestreamlinter.

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Was aber noch längst nicht das einzige Problem ist: Wenn Anbau immer digitaler organisiert wird, dann kann er auch immer leichter gehackt werden. Vielleicht setzt die Kriegsführung der Zukunft gar dabei an, Düngeroboter zu manipulieren und Erträge auszuschalten, fragen sich die Autoren. Und einmal mehr stellt sich hier die zentrale Frage digitaler Innovation: Wer hat die Hoheit über die Daten? Dass gerade die Player der Agrarindustrie enorme Abhängigkeitsverhältnisse schaffen, indem sie ihre Kunden dazu verpflichten, u.a. Saatgut Jahr für Jahr zu kaufen statt es selbst neu zu erzeugen, ist bekannt. Da wäre es nur konsequent, auch die digitalen Strukturen zu diktieren.

Food Code macht deutlich, wie viel Druck auf dem Kessel ist: Foodtrend-Früherkennung nicht über Influencer, sondern über Speisekarten-KI. Chinesische Bauern, die ihre Erzeugnisse in Taobao Villages digital selbst vermarkten. Afrikanische Kolleg*innen, die ihre Marktanteile mit Softwarelösungen bündeln. Fleisch aus dem Drucker oder dem Bioreaktor – keine Spinnerei, daran wird zurzeit in Israel, den USA und anderswo hart gearbeitet und bald könnte es günstiger zu haben sein als das frei von Tierwohl erzeugte Hack aus dem Discounter. Blockchain-Codes in den Lebensmitteln, die Fakefood vermeiden. Supermärkte, in denen niemand mehr an der Kasse bezahlen muss – der Betrag wird beim Verlassen automatisch abgebucht – hat Amazon mit Go ja bereits installiert.

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Natürlich – und das ist dann die Kehrseite – treiben in vielen Fällen die Tech-Giganten diese Innovationen voran und machen nicht nur dem herkömmlichen Lebensmittel-Einzelhandel Konkurrenz, sondern arbeiten sich die Wertschöpfungskette rückwärts immer weiter in den Nahrungsmittelkreislauf hinein. Mithin werden Verkaufsräume zu den am besten überwachten Orten der modernen Welt überhaupt, vermuten Haase und Deininger. Dass es auch Apps gibt wie Buycott, die verraten, welcher Konzern hinter dem so handmade aussehenden Produkt steht, ist ein kleines deviantes Werkzeug in der Hand widerständiger Konsument*innen, aber das reicht natürlich nicht. Apps und Startups kann man auch aufkaufen, was im Foodbusiness genauso munter passiert wie anderswo.

Kurz: Das „Internet of food“ hat Regulierungsbedarf, so die Autoren. Wenn sich Food so deep kodieren lässt, dann muss klar sein, wer das Programm schreibt. Sonst droht ein weiterer digitaler Paternalismus. Doch leider scheint daran kaum Interesse zu bestehen. Lokale Food-Startups werden im Gegensatz zu Gründungen anderen Branchen oft nicht berücksichtigt, wenn es um Förderung geht, und die (deutsche) Diskussion um die Zukunft der Technologie finde weitgehend ohne Auswirkungen auf Landwirtschaft und Ernährung statt, stellen Haase und Deininger fest. Wenn die ohnehin ständig irrlichternde Landwirtschaftsministerin die „Ackerbaustrategie 2035“ wie im Buch geschildert, mit einer Drohne vor sich auf dem Tisch symbolisiert, die sich bei genauerer Betrachtung als veraltetes Freizeitmodell der Marke DJI entpuppt, dann ist damit eigentlich alles gesagt. Formulieren wir es positiver: Wir müssen reden.

„Food Code“ ist im Antje Kunstmann Verlag erschienen, hat 265 Seiten und kostet 25 Euro.

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