Spanischer und französischer Edelkitsch vom Feinsten, ein koreanischer Meister in alter Höchstform, ein amerikanisches Proll-Masterpiece und italienisches Dolce Vita am See: Unser Filmkritiker Sulgi Lie blickt auf das Filmfestival in Locarno zurück.
Zu den entspanntesten Filmfestivals zählt Locarno ganz gewiss: Zwischen den Filmen kann man in den kristallklaren Lago Maggiore springen. Was bei 35 Grad auch dringend nötig ist. Doch wahrscheinlich finden die meisten Filmkritiker den Weg von der dunklen Kammer ins kühle Nass eher selten. Jedenfalls habe ich mir dieses Jahr vorgenommen, die obsessive tägliche Filmfrequenz von drei bis vier Filmen früherer Festivalbesuche runterzufahren und in etwas wohldosierteren Maßen zu konsumieren. Leider habe ich deshalb die bestimmt tollen Filme von Otar Iosseliani und Andrzej Zulawski beim Chillen am Lago verpasst. Nicht verpassen wollte ich aber den neuen Film des spanischen Regisseurs José Luis Guerin, der mit seinen extrem feingeistigen Cineasten-Werken in den letzten Jahren zu einem Darling des internationalen Festival Circuit geworden ist. Guerin ist ein Kino-Romantiker alter Schule, der im Filmbild die flüchtige Schönheit des einzigartigen Moments zu konservieren sucht. Von einem seiner letzten Filme, einer filmischen Korrespondenz zwischen ihm und Avantgarde-Urgestein Jonas Mekas, ist mir vor allem jene Szene in Erinnerung geblieben, in der Guerin am Grab des großen japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu geduldig die emsigen Bewegungen einiger Ameisen festhält. Die versuchen immer wieder, die steile Wand eines Grabsteins zu erklimmen. Diese Liebe zum Ephemeren, zur Erinnerung und zum Eros hat bei Guerin aber einen dezenten Hang zum Kitsch, der sich in seinem neuem Film L’Academia delle Muse nun leider doch etwas unangenehm breitmacht.
Dort geht es um einen spanischen Philologie-Professor, der seine Lehre ganz der Rehabilitation der mythologischen Figur der Muse verschrieben hat. Ganz der Einheit von Theorie und Praxis verpflichtet, hat er dazu eigens eine „Akademie der Musen“ gegründet, in der allerlei schöne Frauen den gelehrten Ausführungen des nicht ganz so attraktiven Professors lauschen und zugleich seine geistige Produktivkraft ankurbeln. Um den nicht völlig unbegründeten Verdacht einer anti-feministischen Altherrenfantasie zu kontern, macht sich der Professor für die Souveränität der Muse stark und auch Guerin gibt sich alle Mühe, den gender-kritischen Einwänden der Frauen zu ihrem Recht zu verhelfen.
Trotzdem hinterlässt der Film bei aller diskursiver Sublimierung den Eindruck einer Apologie eines alternden Lustmolches, der seine Horniness unter bildungsbeflissenem Geschwafel nur mühsam in Zaum halten kann und eigentlich den hübschen Studentinnen an die Wäsche will.
Intellektuell verbrämter Sleaze halt.
##Immergleiche Beziehungskisten
Auch Guerins französischer Kollege Philippe Garrel macht es nicht unbedingt besser: In L’ombre des femmes (der in Cannes seine Premiere hatte) hat die Post-Nouvelle-Vague-Ikone auch nichts Besseres zu erzählen als das, was unzählige französische Filme, ob nun arty oder nicht, eh immer schon erzählen: die außereheliche Affäre. Als ob es keine anderen Sujets gäbe, kreist das französische Kino wieder und wieder um Beziehungskisten und kleine Affären, oh là là, am liebsten in der Variante „mittelalter Mann in einer Lebenskrise trifft auf ein sexy Lolitagirl“. In L’ombre des femmes ist der Mann gar nicht so alt, aber auch Garrel hat diesem infra-fiktionalen Schema nichts entgegenzusetzen: Ein Paar, er Doku-Filmer, sie ihm hingebungsvoll untergeben. Gemeinsam arbeiten sie an einem Film über einen alten Résistance-Kämpfer (ein bisschen politisches Alibi muss sein, obwohl es dem Film eigentlich scheißegal ist), anscheinend sind beide arm (ihr Pariser Apartment sieht trotzdem sehr schick und geräumig aus, ist aber auch scheißegal). Er hat eine Affäre mit einer jüngeren Frau und sie eine mit einem jüngeren Mann. Irgendwann fliegt die Chose auf, doch die Subjektivität ist immer auf Seite des Typen, der seiner Frau die Affäre trotz seiner eigenen nicht verzeiht. So sind sie halt, die Männer, können auch nix dafür — gibt dann und wann eine anonyme Erzählerstimme mit der Weisheit eines Lebensratgebers zum Besten. Sie trennen sich, am Ende kommen sie doch wieder zusammen: „Du bist die Liebe meines Lebens.“ Echt räudig!
All das ist natürlich wieder im sublimsten Schwarzweiß gefilmt. Ich muss ehrlich sagen, dass ich von diesem pseudo-ästhetizistischen Affärenkino gründlich die Schnauze voll habe. Da freu ich mich doch eher auf einen unverblümt pädo-erotischen Arthouse-Film wie Un moment d’égarement (ab September im Kino), in der sich die ziemlich besten Freunde Francois Cluzet und Vincent Cassel an die jeweilige Teenie-Tochter des anderen heranmachen.
##Eine neue Nuance
Um das ewige Männer-Frauen-Thema geht es auch bei Hong Sangsoo. Aber was der Koreaner daraus macht, ist trotz der dezidiert maskulinen Perspektive seiner Filme weit von dem Edelkitsch seiner beiden europäischen Kollegen entfernt. Seine Filme sind dafür viel zu analytisch und auch viel zu witzig. Witzig sind auch seine Filmtitel: In Right now, wrong then entlockt der Meister der Variation seinem Formenrepertoire wieder einmal eine neue Nuance. Die Plots bei Hong gleichen sich eh meist zum Verwechseln: Ein Regisseur fährt zur Vorführung seines Filmes in eine Kleinstadt, macht dabei einer somnanbul-kapriziösen Frau unbeholfen den Hof, besäuft sich mit ihr, um dann im Suff unfreiwillig preiszugeben, dass er eigentlich verheiratet ist, womit er die Frau bitter enttäuscht. Hong hat schon immer mit narrativen Zweiteilungen und metafilmischen Verschachtelungen experimentiert. In seinem neuen Film lässt er aber nach der Hälfte den ersten Teil fast eins zu eins neu beginnen, zwar mit minimal anderen Kameraansichten, jedoch mit nahezu identischen Dialogen. Nach und nach schält sich eine minimale Differenz zwischen Teil eins und Teil zwei heraus, die in Hongs Universum durchaus ein Unterschied ums Ganze ist. Während im ersten Teil der Mann (grandios: Jung Jae-Young) die ganze Zeit nur rumlügt, versucht er im zweiten Teil ehrlich, vielleicht zu ehrlich zu der Frau zu sein. Auch diese Ehrlichkeit ist nicht ohne ihre Tücken, aber wie der für Hong-Verhältnisse optimistische Schluss andeutet, ist sie der erbärmlichen Lügerei doch vorzuziehen: Die Frau guckt sich schließlich den Film des Mannes an, den sie im Teil eins nicht sehen wollte. Nach dem etwas schwächelnden Vorgänger Hill of Freedom ist Hongs unnachahmlich komischer Formalismus back to form: Eine Stripszene im Totalsuff gehört zum Lustigsten, was er je gedreht hat. Super, dass Hong mit dem Goldenen Leoparden endlich mal einen Festival-Hauptpreis bekommen hat!
##Gyllenhall: der de Niro des zeitgenössischen Method-Acting
Das Tolle an Locarno ist aber auch, dass neben der cinephilen Crème de la Crème auch Hollywood nicht zu kurz kommt. Dieses Jahr zollte man mit der Sam-Peckinpah-Retrospektive und der Hommage an Michael Cimino zwei Mavericks des gewalttätigen US-amerikanischen Genrekinos ihren Tribut. In diese illustre Reihe fügt sich nun zwingend ein weiterer Name: Antoine Fuqua. Sein neues Werk Southpaw ist eine Bombe von einem Film, der einem wirklich in die Fresse schlägt. Nun war ich vielleicht etwas von der grandiosen Sommernachtsatmosphäre und der Riesenleinwand auf dem Piazza Grande berauscht, aber Southpaw hat eine filmische Power, die Seinesgleichen sucht. Schon Fuquas ultrabrutaler The Equalizer vom letzten Jahr war brillant — die finale Schlachterei in einem Baumarkt, in der Denzel Washington mit allen verfügbaren Werkzeugen seine Gegner malträtiert, ist eine Sternstunde perverser Action-Pragmatik. Nun setzt Fuqua noch einen drauf:
Die Boxszenen in Southpaw sind eine wahre Wucht zwischen Go-Pro-Close-Ups und superschnellen Zooms in die Totale. Viszeraler und trotzdem kontrollierter kann man es nicht inszenieren.
Überhaupt wahrt Fuqua die perfekte Balance zwischen Disziplin und Delirium: In straight klassischer Manier nimmt der Film die vollkommen vorhersehbare und schematische Geschichte des Underdog-Boxers Billy Hope (Aufstieg-Fall-Aufstieg) völlig ernst und erfüllt damit diese tausendmal gesehenen erzählerischen Klischees wieder mit mythischer Kraft. Darüber hinaus gibt es einige betörend barocke Kamerafahrten (nach hinten, nach oben, nach unten oder irgendwie kombiniert), die Fuquas Kameramann Mauro Fiore schon in The Equalizer eingestreut hat. Aber Southpaw wäre nichts ohne Jake Gyllenhall, der sich nach seiner Magerdiät in Nightcrawler einen monströsen Hardbody antrainiert hat und eine Performance hinlegt, die in ihrer hyper-prolligen Intensität an Al Pacinos Tony Montana in Scarface erinnert. Da wird in der neureichen Luxusvilla mit Cartier-Uhren und dicken Autos rumgeprotzt, als wär’s ein HipHop-Video, aber nach dem Abstieg beginnt der Neuanfang unter den Fittichen von Forest Whitaker mit mönchischer Askese. Gyllenhall, der mich früher mit seinem sanften Hundeblick eher genervt hat, ist vielleicht der de Niro des zeitgenössischen Method-Acting. Nichts an seiner Performance ist subtil, alles ist hyperbolisch, krass und exzessiv. Aber das ist gerade das Geile: Southpaw (jetzt im Kino) ist ein Proll-Masterpiece.