Die digitale Bohème auf dem Weg in den BurnoutUnderstanding Digital Capitalism II | Teil 8
5.9.2016 • Gesellschaft – Text: Timo Daum, Illustration: Susann MassuteVor zwei Wochen hat sich unser Autor Timo Daum das vor zehn Jahren erschienene Buch „Wir nennen es Arbeit: Die digitale Boheme oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung“ vorgenommen. Die Autoren Holm Friebe und Sascha Lobo beschrieben darin was Digitalisierung auch bedeuten kann: neue, flexible Arbeitsverhältnisse, die in einer neuen urbanen Klasse münden. Die Digitale Bohème schickte sich an, Arbeit neu zu definieren: als cooles, selbstbestimmtes und kreatives Gegenmodell zur grauen Angestellten-Kultur zwischen Festanstellung, Kantine und Herzinfarkt. Timo Daum mit einer Ideengeschichte der Arbeit und einer kritischen Bestandsaufnahme der Arbeit von heute.
Die digitale Boheme und das selbstbestimmte Arbeiten: Zehn Jahre später findet sich dieser Trend im gesellschaftlichen Mainstream wieder:
„Ich bin auch gegen eine diktatorisch von oben herab geregelte Abgrenzung von Privat- und Berufsleben. Das soll und darf jeder selbst bestimmen. (...) Selbstbestimmung macht viele eher glücklicher und zufriedener, und damit auch produktiver, was dann wieder gut für alle, das Individuum und das Unternehmen ist.“
Der Titel des Buchs von Lobo und Friebe machte klar: Gefaulenzt wird nicht! Im kecken Slogan „Wir nennen es Arbeit“ ist sowohl der Affront gegen, als auch die Anbiederung an die Wirtschaftswunder-Generation spürbar, für die Arbeit vorrangiger Lebensinhalt gewesen war. Aber warum wollen alle immer bloß arbeiten?
##Die Arbeit – ein Folterinstrument
Die Bohème des 19. Jahrhunderts wusste es noch: Arbeit ist Mist. Sie nahm viel Entbehrung, Armut und Unsicherheit in Kauf, nur um nicht arbeiten zu müssen. Schon die Herkunft des Wortes „Arbeit“ ist wenig ermutigend: Die ursprüngliche Bedeutung des germanischen Wortes arbejo lautet etwa: „Bin verwaistes und daher aus Not zu harter Tätigkeit gezwungenes Kind.“ Eine geradezu poetische Beschreibung heutiger Digital-Arbeit! Das englische labor stammt vom lateinischen labore ab, das zunächst einmal „Mühe, Entbehrung“ bedeutet. Das französische Wort travail leitet sich gar von einem mittelalterlichen Folterinstrument ab. Bis in die Moderne hinein war Arbeit als Sklavenarbeit oder Fronarbeit ausschließlich den niederen Klassen vorbehalten und diese mussten mit Gewalt dazu gezwungen werden. Auch unserer Tage ist die Arbeit vorrangig Mühsal und führt zu Krankheit und Tod: Mehr als zwei Millionen Menschen sterben jedes Jahr weltweit an den direkten Folgen ihrer arbeitenden Tätigkeit. In Erhebungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) stehen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten ganz oben auf der Liste.
Die Umwidmung der Arbeit zu einem erstrebenswerten Lebensinhalt, zur verallgemeinerten Pflicht und Aufgabe, setzt erst in der Moderne ein – sie ist keineswegs schon immer da gewesen. Der Theologe und Reformator Martin Luther definierte die Arbeit als gottgefällig und schuf damit die Voraussetzung für eine positive Besetzung des Begriffs – die moderne Arbeitsmoral wird aus der Taufe gehoben:
„Der Mensch ist zur Arbeit geboren, wie der Vogel zum Fliegen.“
Zu den Grundelementen des protestantischen Arbeitsethos gehören die universelle Pflicht zur Arbeit, Treue und Fleiß in der Arbeit und Ergebung in die vorgefundenen Arbeitsbedingungen. Das passt natürlich zum entstehenden Kapitalismus wie die Faust aufs Auge. Er benötigt Arbeiter, die selbständig und ohne unmittelbaren Zwang bereit sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Arbeitswelt wird geboren und etabliert sich als eigenständige Sphäre:
„Die Arbeit entfaltete und universalisierte sich, produzierte die Gesellschaft als einen Zusammenhang indirekt vergesellschafteter Subjekte und richtete sich schließlich ihrer Form nach als eigenständige Sphäre in ihr ein. Die neue Welt war gespalten in Privatheit und Öffentlichkeit und brachte weitere Sphären wie Recht, Politik, Ordnungsmacht, Gesundheit, Ökonomie etc. hervor, die der Gewährleistung der Arbeitsverwertung dienten.“
Arbeit als Lohnarbeit wird zum wichtigsten Treibstoff der kapitalistischen Ökonomie. Marx‘ Theorie des Kapitals kreist um den Mechanismus der Ausbeutung „lebendiger Arbeit“, in dem das Kapital erst Mehrwert und damit Profit erzeugen kann. Dabei werden alle stofflichen, konkreten Aspekte der Tätigkeit unerheblich. Die Einverleibung abstrakter Arbeit wird zum wesentlichen Mechanismus des Kapitals. Abstrakte Arbeit, also Arbeit, verausgabt unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen, wird zum allgemeinen Maß: „Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich.“
##Arbeit als Fetisch
Der Deutsche Gewerkschaftsbund verkündet weithin sichtbar an seiner Hauptstadtzentrale: „Würde hat ihren Wert, Arbeit hat ihren Preis.“ Hier wird die Würde des Menschen aus Grundgesetz Artikel 1 zitiert und gleich aus dem Universum der universalen Menschenrechte auf den Boden der realkapitalistischen Tatsachen gezerrt. Ihr wird ein (Tausch-)Wert zugesprochen, sie zur Ware. Um gleich danach eine Binsenweisheit zu bekräftigen, dass Lohnarbeit auf dem Markt einen Preis erzielt. Dieser als Plädoyer für „gerechte Löhne“ gedachte Slogan offenbart in Wirklichkeit die menschenverachtende Seite des Arbeitsethos: Ein Leben ohne Arbeit ist unvorstellbar, unwürdig und wertlos (um nicht zu sagen: unwert).
„Wir werden alles tun, was Arbeitsplätze schafft und alles vermeiden, was keine Arbeitsplätze schafft.“
Arbeit wird vollends zum Fetisch: Eine von gesellschaftlich organisierten Menschen produzierte Form erlangt als Sachzwang hinterrücks Macht über ebendiese. So ist auf einem Transparent eines Berliner SPD-Ortsvereins zu lesen:
„Welche Arbeit ist egal – Hauptsache Arbeit!“.
Die Berliner SPD-Arbeiter stehen nicht allein, in ihrer Akklamation der Arbeit als identitätsstiftenden, gleichzeitig ihrem konkreten Inhalt gegenüber gleichgültige Form. Die Arbeiterbewegung, der Marxismus-Leninismus und auch der Real-Sozialismus standen für eine Verallgemeinerung und Hypostasierung der Arbeit als höchste Verwirklichung des (zumeist männlich gedachten) Individuums: „Was Kirche und Bourgeoisie begonnen, setzte die Arbeiterbewegung mit unausgesetztem Impetus fort. Gegen ihre Ausbeutung führte sie nun einen säkularisierten Protestantismus in Gestalt der sozialistischen Ideologie ins Feld. Opfer der kollektiven Vergeßlichkeit, konnte sie sich ein Leben jenseits der Arbeit nicht vorstellen. Folgerichtig sollten lediglich die KapitalistInnen abgeschafft werden, um der Arbeit den Ausbeutungscharakter zu nehmen und sie weniger leidvoll gestalten zu können. Wieder fanden sich Geist und Intellekt, Muße und Schlendrian an den Pranger gestellt und jede unproduktive Arbeit geächtet.“
Der Sozialismus schließt also mit seiner Arbeitsmoral nahtlos an die kapitalistische an, in der Arbeit verwirklicht sich das Proletariat. Seine notorische Verachtung für Gammler, Hippies, Arbeitsscheue überrascht in diesem Zusammenhang auch nicht weiter.
##Kritik an der Arbeit
Wenige sozialistische Autoren wie Paul Lafargue stellten sich diesem Arbeits-Mainstream entgegen und lobten demgegenüber den Müßiggang. Sie stellen sich unter Sozialismus etwas Entspannteres vor als die Verallgemeinerung der Fabrikarbeit:
„Die kapitalistische Moral, eine jämmerliche Kopie der christlichen Moral, belegt das Fleisch des Arbeiters mit einem Bannfluch: Ihr Ideal besteht darin, die Bedürfnisse des Produzenten auf das geringste Minimum zu reduzieren, seine Genüsse und Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, aus der man ohne Rast und ohne Dank Arbeit nach Belieben herausschindet.“
Auch Marx selbst stemmt sich gegen die Vorstellung, der Mensch habe schon immer gearbeitet:
„Es ist eins der größten Missverständnisse, von freier, gesellschaftlicher menschlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die ‘Arbeit’ ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, von Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der Arbeit gefasst wird.”
Arbeit wird nicht etwa als überhistorische Tätigkeitsform angesehen, sondern als genauso historisch bedingt wie das Kapital selbst.
##Post-Arbeit
Heute wollen alle arbeiten, und immer mehr Bereiche werden mit Arbeit in Verbindung gebracht, in einem Versuch, diesen Tätigkeiten ähnliche Anerkennung (und Vergütung) angedeihen zu lassen: Beziehungsarbeit, Arbeit an der eigenen Biografie, ehrenamtliche Tätigkeit, Familien-Arbeit. Die Liste ist lang. Auch die Autoren von „Wir nennen es Arbeit“ wollen den Lifestyle der digitalen Boheme mit dem Arbeitsbegriff adeln. Der Titel des Buchs gibt es vor: Das was wir machen, ist auch Arbeit, auch wenn wir an unserem Blog schreiben, networken, an unserer Außendarstellung feilen etc. Die Grenzen von Arbeit und Privatleben verwischen, und ebenso die Grenzen zwischen bezahlter fremdbestimmter Arbeit und selbstgewählter Betätigung. Ist das Leben jenseits der Festanstellung ein Ausbruch aus dem fetischistischen Universum Arbeit? Im Gegenteil: Das Management der Ressource Arbeit wird aus Sicht des Kapitals outgesourced in die Individuen hinein. Diese verwalten ab sofort ihre Arbeitskraft selbst.
All die Freelancer, Solo-Selbständigen und bei sich selbst Angestellten müssen nicht mehr von einer Festanstellungs-Maschinerie ausgebeutet werden: Das besorgen sie ab jetzt selbst. In Eigenregie und eigenverantwortlich.
So werden alle vom Topmanager bis zum Obdachlosen von Sachzwängen getriebene Manager der Ressource „Ich“. Auch die Flaschensammler strukturieren schließlich ihren „Arbeitsalltag selbstbestimmt“. Obwohl Armutslöhne, Armut trotz Arbeit, Mini-Jobs, prekäre Beschäftigung, Freelancer ohne soziale Absicherung, Scheinselbständigkeit und viele weitere Verfallsformen des klassischen Vollzeit-Arbeits-Verhältnisses gesellschaftliche Realität und in aller Munde sind, folgt daraus keine grundsätzliche In-Frage-Stellung der Arbeit überhaupt.
Wie wäre es, wir würden mal so langsam anfangen, damit aufzuhören, arbeiten zu wollen? Befreit von monetären Fesseln und sogenannten Sachzwängen, jenseits der fetischistischen Form Arbeit, gibt es genug für uns zu tun.
Im nächsten und vorerst letzten Artikel der Reihe „Understanding Digital Capitalism“ geht es um die Subjektivität: Wie schafft es der (digitale) Kapitalismus, uns so umzuprogrammieren, dass wir widerstandslos zu Unternehmern des eigenen Ichs werden?
##In eigener Sache: Online-Befragung zu Digitalisierung und Arbeit
Algorithmen verändern die Ökonomie und Arbeitsverhältnisse gleichermaßen – was wir tun und wie wir es tun. In allen Wirtschaftsbereichen sind die Veränderungen spürbar, und neue Felder ökonomischer Aktivität sind entstanden. Arbeitsverhältnisse sind einem radikalen Wandel unterworfen, immer weniger Menschen finden sich in einem Festanstellungsverhältnis wieder – Lobo und Friebe haben diese Tendenz vor zehn Jahren schon beschrieben. Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der SRH Hochschule Berlin haben Timo Daum und Prof. Dr. Ian Towers eine anonyme Umfrage (auf Englisch) zu diesem Themenbereich entwickelt, die wir für unsere Analyse auswerten möchten, die Antworten sind anonym.
Online survey „Digitization and Work”
Falls Fragen auftauchen oder jemand für ein Interview im Rahmen der Umfrage zur Verfügung steht, bitte eine Mail an Timo Daum (timodaum@2pir.de) oder Prof. Towers (ian.towers@srh-hochschule-berlin.de) schicken. Danke für die Unterstützung!
Quellen/Links
Gaston Valdivia: Arbeit und Wahn, in karoshi – Zeitschrift für den plötzlichen Arbeitstod Nr. 1. Hamburg 1996
Fetisch Arbeit, Blog-Eintrag
Sascha Lobo, Holm Friebe: Wir nennen es Arbeit. Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, Heyne, 2006
Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit, 1883
Robert Kurz: Postmarxismus und Arbeitsfetisch. Zum historischen Widerspruch in der Marxschen Theorie. Zeitschrift Krisis, Horlemann Verlag 1995
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