Die umzäunten Gärten der Plattform-ÖkonomieUnderstanding Digital Capitalism II | Teil 3
13.6.2016 • Gesellschaft – Text: Timo Daum, Illustration & Infografiken: Susann MassuteWer Apps auf dem Smartphone oder Tablet nutzt, bezieht diese Programme in der Regel aus den App Stores der Firmen, die die Betriebssysteme der mobilen Geräte entwickelt haben und kontrollieren. Über das, was dort angeboten wird, haben also nicht die Entwickler das letzte Wort. Private Unternehmen bestimmen derzeit also über alle Aspekte eines Angebots, das gerne als Dienst an der Allgemeinheit vermarktet wird. Eine überaus komfortable Situation für diese Firmen. Ohne messbares finanzielles Risiko, dafür aber mit fast despotischen Kontrollmöglichkeiten. Früher war der Verkauf von Software anders geregelt. Timo Daum analysiert diese Ökonomie der umzäunten Gärten.
Benjamins Passagen
Von 1927 bis zu seinem Tod 1940 arbeitete Walter Benjamin an einer Sammlung von Texten über das Pariser Stadtleben des 19. Jahrhunderts, dem berühmten Passagenwerk. Er beschäftigte sich insbesondere mit den passages couvertes, den überdachten Passagen aus Glas und Stahl, die für das Paris des Stadtplaners Haussmann so charakteristisch sind. So zitiert er aus einem Reiseführer seiner Zeit: „Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so dass eine solche Passage eine Stadt, ja eine Welt im Kleinen ist.“
Benjamin charakterisiert die Passagen als dem Warenfetisch huldigende Orte der Verführung, die die lärmige Straßenwelt mit spektakulären, privaten Innenräumen verbinden.
Passagen der Smartphone-Welt
In mehrfacher Hinsicht erinnern die App Stores der mobilen Plattform-Betreiber an Benjamins Passagen: Apples App Store, Googles Play Store, Amazons App Store oder Microsofts Windows Phone Store – diese virtuellen Ladenpassagen sind eine Halbwelt, in der – wie auch in der privaten Shopping-Mall – öffentliche Zugänglichkeit und freie Nutzung nur simuliert werden. Ein Zwischenraum zwischen öffentlich und privat ist hier entstanden, walled gardens (umzäunte Gärten), in denen nur ein Gesetz gilt: das des Konsums, des schönen Scheins im Dienste des Umsatzes der privaten Betreiber.
Walled gardens sind eingegrenzte technologische Plattformen, bei denen der Betreiber der Plattform die Kontrolle über die Anwendungen, den Inhalt und die Medien behält: Ergebnis ist ein geschlossenes Ökosystem. Der Zugang zu diesen wird nach Gutdünken erlaubt, eingeschränkt oder verhindert. Ganz wie in einem echten umzäunten Garten können User diese nur durch bestimmte Ein- bzw. Ausstiegspunkte betreten oder verlassen.
Der IBM-Deal
In der Frühgeschichte der Computer gehörten Betriebssysteme und Programme meist zum Lieferumfang der Hardware. Führende Computerhersteller wie IBM oder DEC verkauften oder vermieteten Hardware und Software im Paket an Großkunden aus der Industrie, Verwaltung und dem Militär. Dann kam das Jahr 1980 und der vermutlich wichtigste Moment in der gesamten Software-Geschichte der vergangenen 50 Jahre: IBM benötigte ein Betriebssystem für die neue Sparte der Personal Computer. Da die eigene Entwicklung zu lange gedauert hätte, IBM das Potential des aufkommenden PC-Marktes total unterschätzte und sich auch vor kartellrechtliche Probleme gestellt sah, beauftragten sie kurzerhand eine kleine Firma namens Microsoft damit, das PC-DOS-Betriebssystem zu liefern.
Microsoft wiederum kaufte selbst ein Betriebssystem mit allen Nutzungsrechten von Seattle Computer Products, strickte es ein wenig um, und gab es als IBM-DOS an IBM weiter. Microsoft verlangte für jede Kopie seines Betriebssystems eine Lizenzgebühr. IBM war der Meinung, sie hätten die Exklusivrechte an Microsofts Betriebssystem, dem war jedoch nicht so. Microsoft behielt die Rechte an der Software und lizenzierte sie in der Folgezeit an alle IBM-Konkurrenten unter dem Namen MS-DOS. In den Verteilungskämpfen um PC-Marktanteile in den 80er-Jahren („clone wars“) ging einzig Microsoft als Sieger hervor. Die Preise für Hardware fielen dramatisch und doch hatten alle PCs eines gemeinsam: Microsofts Betriebssystem. Die Hardwarehersteller hatten Microsoft den Weltvertrieb abgenommen, und das erste, was User beim Booten zu sehen bekamen, war das Logo von Microsoft.
Als Folge des IBM-Deals wurde Microsoft zum bis heute dominierenden PC-Betriebssystem-Anbieter und Bill Gates nebenbei zum reichsten Mann der Welt.
Das Konzept App Store
Die PC-Betriebssysteme sind Paradebeispiel für das Geschäftsmodell, das sich als Gelddruckmaschine entpuppen sollte: proprietäre Software an Endkunden lizenzieren. Allerdings waren die Plattformen der Personal Computer für Entwickler offen und sind es bis heute: Jeder und jede kann für diese Systeme Software entwickeln und vermarkten, ohne dass der Betriebssystem-Hersteller darauf Einfluss nehmen oder daran mitverdienen kann.
Apple trat im Jahre 2008 an, das zu ändern. Ein Jahr nach der Vorstellung des iPhones, führte CEO Steve Jobs eine gleichfalls wichtige Neuerung ein: das Konzept App-Store. Jobs Idee war, sämtliche Software und Inhalte, die das Gerät bereitstellen würde, der Kontrolle Apples zu unterwerfen. Es sollte nicht mehr möglich sein, Software zu installieren und zu benutzen, Inhalte abzurufen, ohne dass Apple darüber die Kontrolle behielte und dabei mitverdienen könne. Anonyme Nutzung, Entwicklung freier Software und die Verbreitung nicht-zensierter Inhalte sollten grundsätzlich und by design verhindert werden.
Im Gegensatz dazu erlaubt eine offene Plattform uneingeschränkten Zugang zu Inhalten, Anwendungen etc. Beispiel: Im World Wide Web kann jeder sowohl anonym surfen, Inhalte publizieren, Anwendungen entwickeln und bereitstellen als auch bereitgestellte Anwendungen und Inhalte nutzen.
Bei den App Stores, oder auch bei Streaming-Diensten wie Spotify oder Netflix, ist der Zugang nur für registrierte Nutzerinnen und Nutzer möglich. Des Weiteren entscheidet der Betreiber, welche Inhalte bzw. Apps veröffentlicht werden und genutzt werden können. Die Bereitstellung und Nutzungsmöglichkeit kann jederzeit verändert oder widerrufen werden. In einer Studie der Harvard Business School werden verschiedene Plattformen im Hinblick auf ihre Offenheit/Geschlossenheit gegenübergestellt:
App Store: Die Nutzer-Perspektive
Die Plattform gibt technische, inhaltliche und funktionale Standards vor, denen jede App genügen muss. Für den Endkunden wird das Risiko, etwas Unbrauchbares zu installieren, sich Schadsoftware einzuhandeln oder in die Irre geführt zu werden, minimiert. User finden alles unter dem Dach der kuratierten Plattform, der Installationsprozess ist immer gleich, Sicherheit und Komfort sind ungleich höher als z.B. bei Windows-PCs. Dank des Bewertungssystems der Apps wird ab einer kritischen Masse gewährleistet, dass nützliche und qualitativ hochwertige Apps im Ranking nach oben gespült werden – ein zusätzlicher Qualitätsfilter: eine App, die millionenfach heruntergeladen wurde und 4,5 von 5 Sternen als Durchschnitt aller User-Bewertungen erhält, kann so schlecht nicht sein!
Ohne eine Anmeldung geht hingegen gar nichts, jeder Schritt wird protokolliert, keine Software kann installiert oder benutzt werden, ohne die Erlaubnis und die Mitwisserschaft der Plattform: Totale Transparenz ist die Folge. Und es gibt nur einen einzigen Anbieter, Alternativen sind nicht vorgesehen.
App Store: Die Entwickler-Perspektive
Die Store-Inhaber stellen die Apps nicht selbst her. Selbstständige Entwicklerinnen und Entwickler sowie Software-Firmen können Anwendungen für die Plattform entwickeln, gänzlich auf eigenes Risiko, und bekommen im Gegenzug den Zugang zu einem Millionenpublikum in einem werblich und technisch etablierten Umfeld – ganz ohne Kosten für Marketing, Werbung, Vertrieb.
Das ist wie bei einem Verlag: Die gesamten Vertriebsaktivitäten übernimmt die Plattform. Gegen eine geringe Gebühr (100 $ bei Apple, 25 bei Android) kann jeder sich anmelden und Software publizieren. Diese wird überprüft und – werden technische und inhaltlichen Vorgaben der Plattform erfüllt – innerhalb weniger Tage veröffentlicht.
App-Entwickler verdienen 70% des Verkaufspreises, 30% behält die Plattform. Die Plattform liefert ein Minimum an Marketing mit und gewährleistet gleiche Zugangsbedingungen für alle. Das Schalten von Werbebannern ist jedoch möglich: bei Google schon seit längerer Zeit, bei Apple demnächst – mit einem Auktionssystem.
Allerdings sind nur die wenigsten Apps wirtschaftlich erfolgreich, 90% machen Minus, 10% machen Gewinn. Nur die besten 900 Apps bringen signifikante Einnahmen. Bei ca. 1,2 Millionen Apps in den App Stores bedeutet das, dass sich 99,93% der Apps im „long tail“ wiederfinden, dem tiefen Jammertal der Nieten. Anders ausgedrückt: 0,07% der Apps machen 40% des Einnahmen der App Stores. Dagegen erscheint selbst die One-Percent-Gesellschaft wie Sozialismus.Das System funktioniert bestens für ein paar große Player, die insbesondere Spiele-Hits in Serie veröffentlichen – Schätzungen zufolge entfallen ca. 75% der Einnahmen aus Apples App Store auf Spiele.
Schluss: gated communities, Flaneure und Prostituierte
App Stores sind Paradebeispiele für Plattformen, sie treiben das Prinzip der allmächtigen monopolistischen Zentralinstitution, nach deren Bedingungen alle tanzen, auf die Spitze. Die Plattform lässt andere agieren, übt dabei aber despotische Kontrolle aus.
Die Forderung nach öffentlicher Kontrolle der App Stores wie auch vieler anderer Plattformen des Digitalen Kapitalismus werden laut: Wenn es sich um einen public service (Dienst an der Allgemeinheit) handelt, sollte der auch öffentlich kontrolliert sein. Derzeit bestimmen private Firmen ohne rechenschaftspflichtig zu sein, über alle Aspekte eines quasi-Standards: Software für mobile Endgeräte.
Der Flaneur und die Prostituierten sind laut Benjamin urbane Charaktere, die in den Arkaden der neuzeitlichen Shopping-Malls neu aufgetaucht sind. Wer sind die Charaktere, die die walled gardens der Smartphone-Welt bevölkern? Zum einen die vielen Entwicklerinnen und Entwickler, die auf das große Geld mit der Killer-App hoffen, die digitale Boheme der App Stores. Und zum anderen das Heer der Smartphone-Besitzer, die dankbar die Services der Plattform nutzen, dabei auf Schritt und Tritt beobachtet werden, deren Daten analysiert und vermarktet werden, und die keinerlei Einblick in, geschweige denn Mitspracherecht über die zugrundeliegenden Mechanismen haben. Einmal eingetreten in die umzäunten Garten, finden sie nie wieder heraus.
Quellen und Links
Igor Faletski Apple’s App Store: An economy for 1 percent of developers
Walter Benjamin, Das Pasagenwerk (PDF)
Matt Baxter-Reynolds, What are app stores and content ecosystems actually for?
Thomas R. Eisenmann, Geoffrey Parker, Marshall Van Alstyne, "Opening Platforms: How, When and Why?" (PDF). Harvard Business School
The shape of the app store dazeend.org
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