Endlich EinwanderungslandIm Gespräch mit Christian Jakob, Autor von „Die Bleibenden“
15.4.2016 • Gesellschaft – Interview: Jan-Peter WulfFlüchtlings-Welle, Chaos, Hilfsbereitschaft, Flüchtlings-Sommermärchen, „Wir schaffen das“, 18. März, Türkei-Abkommen, brüchiger Waffenstillstand ... die Geschwindigkeit, mit der Ereignisse, Stimmungen und politische Lagen kommen und gehen, scheint hoch dieser Tage. Der Journalist Christian Jakob hat ein in gewisser Weise „entschleunigendes“ Buch über die Flüchtlings-Debatte geschrieben. „Die Bleibenden“ schildert, wie die – so oft zu Objekten degradierten – Subjekte dieses Sachverhalts, nämlich die Flüchtlinge selbst, Deutschland verändern. Und das schon seit dem „Asylkompromiss“ von 1993. Über zwanzig Jahre haben sie unermüdlich für ihre Rechte gekämpft. Heute, nach fast 1,1 Millionen ankommenden Flüchtlingen im letzten Jahr, ist aus Jakobs Sicht endgültig ein Zustand erreicht, der unumkehrbar ist: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Da können sich AfD und Pegida auf den Kopf stellen, die Gekommenen sind Bleibende. Und modernisieren das Land nachhaltig. Jan-Peter Wulf hat mit dem Autor gesprochen.
Christian, dein Buch ist zweigeteilt: Der erste Teil beschreibt die Entwicklung von 1993, dem Jahr, als der Asylkompromiss in Kraft trat, bis 2010. Du ordnest hier wichtige Begriffe in der Diskussion – Duldung, Residenzpflicht oder Flüchtlingslager – entsprechenden Biografien zu und erläuterst sie anhand der persönlichen Geschichten und Schicksale jener Personen. Wie bist du auf die Idee gekommen, das so zu machen?
Bevor ich Journalist wurde, war ich jahrelang bei einer Unterstützer-Initiative in Bremen tätig. Wir haben Rechtsberatung und eine Sprachschule für Papierlose angeboten und haben Anti-Abschiebungskampagnen unterstützt. Die Personen im ersten Teil des Buchs kenne ich aus dieser Zeit alle persönlich, bis auf Elizabeth Ngari, die ich erst jetzt angesprochen habe, weil ich fand, dass auch Aktivistinnen vorkommen sollten. Das ganze Feld ist ziemlich kompliziert, es spielen viele rechtliche und politische Fragen mit rein. Da erschien es mir am handhabbarsten, die wichtigsten Auseinandersetzungen dieser Phase anhand von Portraits nachzuerzählen.
In Teil zwei geht es um die Veränderung in der Wahrnehmung in der Bevölkerung. Speziell in den letzten beiden Jahren, in denen eine breite Zustimmung für die Flüchtlingshilfe entstanden ist. Wie ist die entstanden?
Aus meiner Sicht sind es drei Faktoren, die hier eine Rolle spielen. Erstens die wirtschaftliche Situation: Wäre Deutschland über die Finanzkrise 2008 nicht so gut hinweggekommen, wäre das Wirtschaftswachstum heute nicht so stabil und gäbe es keinen Arbeitskräftemangel, sähe es vermutlich ganz anders aus. Zweitens der Syrienkrieg: Er hat die Behauptung entkräftet, dass Flüchtlinge in erster Linie Asylbetrüger sind. Vorher wurde das lange Zeit so dargestellt und hat sich auch in den Ablehnungszahlen des BAMF niedergeschlagen. Kürzlich aber habe ich sogar mit NPD-Anhängern über das Thema gesprochen: „Naja, gegen die Syrer kann man nicht so richtig was sagen. Aber alle anderen, die brauchen das nun wirklich nicht!“ Deren Anspruch auf Schutz wird teils bis weit in die Rechte hinein anerkannt. Und der dritte Faktor ist, dass die Migranten selbst diese gesellschaftliche Veränderung hervorgebracht haben.
Das ist ja die zentrale These deines Buchs, dass es ihr Werk ist. Wie haben sie diese Veränderung denn bewirkt?
Es ist die Langzeitwirkung der Gastarbeitsmigration, des so genannten postmigrantischen Milieus. Die zweite Generation ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren in die Institutionen eingezogen, sie hat den Bildungsrückstand aufgeholt und ist jetzt an jenen Schaltstellen, die lange Zeit rein biodeutsch waren, in der Wissenschaft, in den Medien. Diese Heterogenität hat den Diskurs beeinflusst und auch die Bereitschaft, sich zu verändern. Dann kam die politische Organisierung der Migranten, speziell jener, um die es in dem Buch geht: Sie haben versucht, den seit dem Asylkompromiss bestehenden Ausschluss aus der Gesellschaft zu überwinden. Was lange überhaupt nicht funktioniert hat. Bis 2012 war es eine Sisyphos-mäßige Situation: Immer die gleichen Kampagnen, immer die gleichen Forderungen, und immer an der breiten öffentlichen Wahrnehmung vorbei. Dann mit einem Mal ist alles plötzlich gekippt.
Was ist der Grund für diesen „tipping point“, also dass es auf einmal so umgeschwenkt ist?
In den zwei Jahrzehnten politischer Auseinandersetzung davor hat zwar nie ein Durchbruch stattgefunden, aber es gab eine sehr starke Netzwerkbildung: Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, NGOs, sie alle kannten die Forderungen schon. Es war alles eingesickert und rezipiert. Es fehlte nur der politische Katalysator, und der war dann die Gruppe ziemlich radikaler Iraner aus Bayern (mehr dazu hier, d. Red.) und eben der Syrienkrieg. In der Summe führte das zu dem Hype, dass auf einmal alle etwas mit Flüchtlingen machen wollten.
Wie stehst du zu diesem Hype?
Im Vergleich zu den 1990er-Jahren ist es ein gesellschaftlicher Fortschritt, dass die Leute nicht mehr auf die Straße gehen und fordern, die Leute sollen wieder dahin verschwinden, wo sie herkommen, sondern dass es eine große Gegenbewegung zu Pegida und AfD gibt. Flüchtlingssolidarität ist zur dominierenden sozialen Bewegung geworden. Natürlich wurde er auch zur Modeerscheinung, eine problematischere Entwicklung aber ist der Paternalismus und die „Sozialarbeiterisierung“: Früher haben die wenigen Aktivisten Rechte für Asylbewerber vom Staat eingefordert. Heute geht es der Mehrheit darum, das aufzufangen, was der Staat nicht schafft, quasi freischaffende Sozialarbeiter zu sein. Fluchtursachen zu thematisieren und dem Staat Rechte abtrotzen zu wollen – das ist dabei etwas verloren gegangen.
Verloren gegangen scheint seit dem 18. März, also seit dem Abkommen mit der Türkei, auch dieses ganze Gefühl, das es vorher gab. Oder?
Finde ich nicht. Die Leute haben das, was 2015 passiert ist, noch gar nicht so richtig gewürdigt. Ich glaube, es ist eine große, stabile diskursive Veränderung, die da geschehen ist. Die ist nicht so einfach wieder rückgängig zu machen. Man hat sich jetzt bis weit in die Institutionen und ins Parteiengebilde damit abgefunden: Es wird nach Deutschland eingewandert und die werden nicht alle wieder gehen. Das ist der große Unterschied zu den 1990er-Jahren, damals war Konsens: Deutschland ist ein Nicht-Einwanderungsland. Der Konsens ist jetzt weg. Der kommt auch nicht mehr wieder. Auch wenn die AfD dauerhaft bei 20 Prozent bleiben und sich im Westen etablieren sollte, wird es eine Minderheitenposition sein.
Warum glaubst du, dass es eine Minderheitenposition bleiben wird?
Die Anwesenheit von Migranten in Deutschland hat eine normierende Kraft. Langsam, aber sicher gewöhnt man sich daran, dass Deutschland als homogene soziale Identität keinen Bestand mehr hat. Was in anderen europäischen Ländern schon früher akzeptiert wurde – in Großbritannien zum Beispiel, wo heute natürlich auch ein Schwarzer ein Brite sein kann, das galt in Deutschland bis vor kurzem nicht. Wer einen türkischen Nachnamen hat, der kann doch kein Deutscher sein. Auch wenn er einen deutschen Pass hat. Das ist jetzt anders und dieser Prozess lässt sich nicht revidieren. Deutschland ist spät dran, ich nenne es „verspätete Einwanderungsnation“. Aber die zweite, dritte Generation der Migranten hat so lange auf ihre Zugehörigkeit gedrängt, dass sie den Konsens verändert hat – zugunsten einer offenen, heterogenen nationalen Identität.
Die Gefahr eines „asylpolitischen Rollbacks“, wie du es im Buch nennst, besteht aber trotzdem?
Ich hoffe, dass die bloße Zahl den Pragmatismus erzwingt. In den 1990er-Jahren war die Linie so: Wir halten daran fest, dass diese Menschen nicht hier zu sein haben. Wir schaffen Regularien, die sie auf allen Ebenen ausschließen, über die wir Kontrolle haben: vom Arbeitsmarkt, vom Wohnungsmarkt, vom Bildungssystem. Wir halten sie in der Duldung, und auch wenn sie physisch hier sind, behandeln wir sie als wären sie es nicht wirklich, als gingen sie bald wieder. Was aber nicht passiert ist. Um 2008 herum hat man festgestellt, wie kontraproduktiv das ist und dass es zu sozialer Ghettobildung und Segregation führt. Man züchtet sich damit ein Milieu heran, das dann tatsächlich abgehängt ist. Die Leute sind langzeitarbeitslos, können sich nicht integrieren, weil man ihnen keine Deutschkurse bezahlt hat. Auch ihre Kinder sind benachteiligt. 2008, das war eine Zeit, in der die Zahlen ja sehr niedrig waren, im Allzeit-Tief mit 28.000 Anträgen. Da stießen die Kampagnen langsam auf offenere Ohren, es gab immer mehr Lockerungen der Schikanen des Asylkompromisses – weniger Residenzpflicht, kürzeres Arbeitsverbot, mehr Sozialleistungen. Ein pragmatischer Schritt in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass man jetzt, wo sehr viele Leute da sind und noch viele kommen werden, die Lehre aus der Vergangenheit zieht: Es bringt nichts und kostet viel Geld, wenn man glaubt, dass die Leute zurückgehen, wenn man es ihnen möglichst unangenehm macht. Es hängt sie ab und verweigert ihnen Perspektiven. Macht man das Gleiche nochmal, macht man auch den gleichen Fehler nochmal, nur in einer ganz anderen Größenordnung. Der Weg muss sein, die Leute in eine eigenständige Existenzsicherung zu bringen.
Die Migration wird auch weiterhin ihrer Einhegung voraus bleiben.
Du formulierst am Ende des Buches Empfehlungen, von einem Grundrecht auf Sprachkurse bis zur schnelleren Anerkennung von Qualifikationen. Die Wirtschaft ruft nach Arbeitskräften. Gastarbeiter sollten damals die geburtenschwachen Jahrgänge nach dem Krieg auffüllen; wie die demografische Entwicklung heute aussieht, ist bekannt. Da müsste sich ein Land doch, rein aus ökonomischen Interessen, noch viel mehr von sich aus öffnen?
Die Union hat sich immer als Hüterin des Wirtschaftswachstums verstanden, das war ihre Hauptkompetenz. Vor ein paar Jahren ist eine seltsame Situation entstanden: Die Wirtschaftsverbände, wirklich alle, haben gesagt: Was das Wachstum bremst, ist der Arbeitskräftemangel, und was wir brauchen, sind Zuwanderer. Die Union ist aber nicht darauf eingegangen, weil da eine gespaltene Interessenlage vorlag und die CSU an ihrem Selbstverständnis, nämlich dass nicht eingewandert wird, festhielt. Irgendwann war das kaum noch darstellbar. Jetzt, nach der hohen Einwanderung der letzten Jahre, sagen die Wirtschaftsverbände: Gut so. Aber eigentlich brauchen wir noch viel mehr Leute. Auf pragmatischer Ebene wird das Thema schon von vielen Seiten ganz anders diskutiert als vor zwanzig Jahren. Da war es ein komplettes Tabu, Asyl- und Arbeitsmigration zu vermischen, das wurde als Entwertung des Asylrechts gesehen. Heute sagen viele: Wenn wir schon Leute brauchen, ist es Quatsch, sie mit großen Kosten abzuschieben und mit großen Kosten andere Leute wieder reinzuholen.
Zeitgleich mit deinem Buch ist die deutsche Übersetzung von „Die Eingewanderten“ erschienen, geschrieben hat es der niederländische Soziologe Paul Scheffer. In einem Interview sagte er kürzlich, der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland fehle es an einer Vorstellung, an einem Bild, wie eine Einwanderungsgesellschaft überhaupt aussehen könnte.
Ich weiß nicht, ob es das wirklich geben kann. Das klingt für mich so, dass es erst das Konzept braucht und dann kommen die Leute und füllen das auf. Aus meiner Sicht ist es anders herum: Die gesellschaftliche Identität formiert sich im Prozess immer wieder neu. Was ja auch umstritten und umkämpft ist, damit ist die AfD wahnsinnig stark geworden.
Du bist gerade für einige Monate in Indien. Bekommt man außerhalb von Deutschland und Europa, herausgetreten aus dem Kontext, einen anderen Blick auf das Thema?
Ich war auch genau zu der Zeit weg, als das Thema in Deutschland durch die Decke ging. Das war Glück und Unglück zugleich, denn sonst hätte ich das Buch nicht schreiben können, dazu hätte ich gar keine Zeit gefunden. Die Distanz hat mir erst die Möglichkeit gegeben, mich eingehender mit der Thematik zu beschäftigen. Man kriegt hier schon mit, wie anders über Europa und Deutschland gesprochen wird.
In Europa kommt Europa wahnsinnig schlecht weg, überall sonst sind die Leute eigentlich sehr angetan davon. Man entwickelt, trotz allem, die Tendenz, Europa zu verteidigen, das Fortschrittliche daran stark zu machen. Und nicht die Gleichung aufzumachen, dass die EU nur vorstellbar als Frontex, als Idomeni, als Lesbos oder als Lampedusa ist – ein Zurück zur Nationalstaatlichkeit und weniger Supranationalität würden die Sache ja nicht besser machen. Das vergessen viele Leute. Von einem entfernteren Punkt betrachtet hat man ein anderes Verhältnis dazu, als aus der Innenperspektive.
Entwickelt man auch ein zuversichtlicheres Gefühl?
Ja, schon.
„Die Bleibenden“ von Christian Jakob ist im Christoph Links Verlag erschienen, hat 260 Seiten und kostet 18 Euro.