„Es gibt für jeden etwas zu tun“Ein Interview mit den Berliner Flüchtlingshelfern Jule Müller und Dirk Reinink

Help Dont Hate StartIllu

Auch wenn „Flüchtlinge“ kürzlich erst zum Wort des Jahres gekürt wurde, ist es wichtig zu verstehen, dass die zahlreichen Menschen, die in diesem Jahr und den Jahren zuvor nach Europa gekommen sind, keine temporäre Erscheinung sind. Dass die Situation sich nicht wie ein Trend in Luft auflösen wird. Dass wir alle helfen müssen, diese Menschen dauerhaft zu integrieren und unter allen Umständen zu verhindern haben, dass sie in Isolation und mit Misstrauen ein neues Leben beginnen. Auch müssen wir verstehen, dass das Wort „Krise“ in dem Zusammenhang vor allem auch eine Verwaltungs- und Politikkrise bedeutet, und dennoch sollte jeder von uns einen Beitrag leisten können, um ein besseres Leben für alle zu schaffen.

Das Filter sprach mit den freiwilligen Helfern Jule Müller und Dirk Reinink, die sich in der jüngeren Vergangenheit aus teils individuellen Gründen für Geflüchtete eingesetzt haben. Sei es direkt vor Ort am Berliner LAGeSo oder mit Hilfe von Netzwerken, um Menschen mit Geld und anderen Hilfestellungen zu unterstützen. Jule Müller ist Autorin, Fotografin und Betreiberin der Webseite „Im Gegenteil“, Dirk Reinink ist Soziologe und Referent für politische Bildung. Wir sprachen mit ihnen über die Erlebnisse, Herausforderungen und Missverständnisse beim Helfen. Zwei Helden des Alltags, die stellvertretend für all die vielen Menschen stehen, die sich teils bis zur Erschöpfung dort engagiert haben, wo die Politik bislang schlichtweg versagt hat.

Wie seid ihr dazu gekommen, Flüchtlingen zu helfen?

Jule Müller: Ich erinnere mich gut an den Tag. Es war der 7. August und in den Sozialen Medien kam auf, dass es am LAGeSo in Berlin offenbar Probleme gibt. Meine Mitbewohnerin meinte, wir sollten hinfahren. Gucken, was die Menschen brauchen, besorgen und verteilen. Als wir ankamen, sahen wir eine Katastrophe. Es gab keine Trinkwasserversorgung. Es waren 39 Grad. So viele Menschen – die Helfer waren noch nicht organisiert. Jeder hat blindlings Sachen auf dieses Feld getragen. Es gab schlimme Bilder zu sehen: Menschen, die sich um Wasserflaschen geprügelt haben. Vor Ort wurden wir mehr oder weniger einfach eingespannt. An dem Tag blieben wir zehn Stunden am LAGeSo und sind seitdem jeden Tag hingefahren. Es fühlte sich an, als wäre es wirklich nötig gewesen, sich zu engagieren.

Dirk Reinink: Ich habe mich seit längerem politisch mit der Thematik befasst, habe mich immer als politischen Sympathisanten gesehen, aber mich nicht wirklich engagiert. Dann wurde 2012 der Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg besetzt. Ich war häufiger dort und im Rahmen dessen sind viele Kontakte entstanden. Es gab einfach Probleme, die man schnell und unbürokratisch lösen musste. Es war kalt, Menschen mussten in Zelten schlafen. Als dann die nigerianische Botschaft in Berlin im Herbst 2012 besetzt wurde und viele der Flüchtlingsaktivisten von der Polizei in Gewahrsam genommen wurden, sind wir hin und haben die Aktivisten abgeholt. Viele der Flüchtlinge hatten schlimme Erfahrungen mit der Polizeigewalt in ihrem Heimatland gemacht und waren aufgelöst, als wir sie dort abholten. In dieser Nacht haben dann fünf Leute bei mir geschlafen, woraus Freundschaften entstanden sind. Da Geflüchtete in Deutschland deutlich weniger Rechte haben und es für solche Menschen aufwendiger ist, einen normalen Alltag zu führen, kam es dazu, dass wir versucht haben, Geld und Sachspenden zu organisieren. So entstand ein Netzwerk, in dem wir die gesammelten Spenden verwalteten und verteilten. Zum Beispiel, wenn ein Flüchtlingsheimbewohner in einem Brandenburger Dorf lebt, aber eine Bleibe in Berlin braucht, weil er dringend eine Therapie benötigt. Dann hilft man bei der Suche eines Therapieplatzes und versucht eine Wohnung zu finden. Man hilft nicht nur mit Geld, sondern auch mit seinen Netzwerken und Zugängen.

Helfen kann durch den Stress auch zur Belastung werden. Psychisch wie körperlich. Welche Erfahrung musstet ihr machen?

JM: Zunächst habe ich nicht damit gerechnet, dass ich einen Monat lang täglich dabei sein würde. Es war fast abzusehen, dass ich nach dieser Zeit körperlich zusammenbreche. Ich habe zu der Zeit schlecht geschlafen. Die Situation vor Ort war in vielerlei Hinsicht problematisch. Die ersten beiden Monate gab es keinen einzigen Arzt weit und breit, der hätte helfen können. Trotz der ständigen Notfälle. Menschen sind kollabiert, als sie erfuhren, dass Verwandte in der Heimat gestorben sind. Menschen, die ohne Schuhe ankamen, hilflose Kinder, Selbstmordversuche … Und dann versuchst du ohne jede Ausbildung gemeinsam mit freiwilligen Abiturienten Erste Hilfe zu leisten. Niemand von uns wusste, wie man mit solchen Erfahrungen umgeht. Daher musste ich mein Engagement vor Ort auch zurückschrauben. Die Nachtschichten waren besonders hart. Die jungen Menschen zu sehen, die nach so einer langen Flucht wochenlang im Park schlafen mussten. Wir sind dann mit einer Taschenlampe durch den Park, um den Leuten private Übernachtungsmöglichkeiten zu vermitteln. Ich wusste, der Tag würde kommen, an dem ich nicht nur mehr sagen konnte: „Hier ist eine Decke. Wir sehen uns morgen.“ Später haben wir vorübergehend fünf Personen bei uns aufgenommen.

„Die Situation am LAGeSo war in vielerlei Hinsicht problematisch. Die ersten beiden Monate gab es keinen einzigen Arzt weit und breit, der hätte helfen können. Trotz der ständigen Notfälle. Menschen sind kollabiert, als sie erfuhren, dass Verwandte in der Heimat gestorben sind. Menschen, die ohne Schuhe ankamen, hilflose Kinder, Selbstmordversuche … “ (Jule Müller)

Wie war es bei den anderen Helfern vor Ort?

JM: Vielen ging es ähnlich. Wenn du merkst, du wirst gebraucht, kommst du in eine Art Tunnel. Du hörst einfach nicht auf. Versuchst du den ersten LAGeSo-Antrag mit Händen und Füßen zu übersetzen, stehen direkt zehn weitere Leute neben dir, die das gleiche von dir möchten. Da kommst du nicht weg. Man achtet nicht mehr darauf, genug Essen und Schlaf zu bekommen. „Die Flüchtlinge haben so viel weniger, da kann ich auch später essen und schlafen“, war was die meisten von uns dachten. Nach und nach sind viele von uns heulend zusammengebrochen. Das ging mir genauso. Dann habe ich eine Supervision in Anspruch genommen, die mir helfen sollte, eine bessere Balance zu finden. Die Monate danach fiel es mir schwer, wieder in mein richtiges Leben zurückzufinden. Ins Büro gehen, Texte schreiben, bloggen – ich habe alles in Frage gestellt, was ich zuvor gemacht habe. Selbst Drinks mit Freunden in einer Bar konnte ich nicht mehr genießen. Ich habe meinen Humor verloren.

DR: Erstmal meinen großen Respekt vor dir und denjenigen, die sich vor Ort so engagieren. Ich war selber nicht oft da. Auch weil es, wie eben beschrieben, immer um konkrete Fälle ging. Dennoch musste ich stets frustrierende Erfahrungen machen. Mit einer 60-jährigen Frau und ihren drei Kindern habe ich einige Nächte dort verbracht, um ihnen bei der Registrierung zu helfen. In der ersten Nacht sind wir naiv um vier Uhr morgens hin, haben uns angestellt, gewartet, ohne Erfolg. In der zweiten Nacht dachten wir, wir wären klüger und sind um ein Uhr hin. Auch das hat nicht gereicht. In der dritten Nacht waren wir organisierter. Wir haben die Aufgaben verteilt. Ich habe versucht, mit meiner deutschen Staatsbürgerschaft und meinem seriösen Auftritt Eindruck bei den Sicherheitskräften vor Ort zu schinden, was auch ein Stück weit geklappt hat. Der älteste Sohn hat sich währenddessen in den umliegenden Gebüschen versteckt, um, wenn die Tore endlich geöffnet werden, so schnell wie möglich durchzurennen und eine Wartenummer zu erhalten. Irgendwann hat es wirklich geklappt. Wir bekamen Warteplatz 7. Ich war euphorisch, dass wir endlich unsere Registrierung abschließen konnten. Am Ende wurde aber auch daraus nichts.

Wieso?

DR: Das Amt war einfach nicht in der Lage, den wartenden Menschen mitzuteilen, dass an jenem Tag eine ganztägige Personalratsversammlung stattfindet. Auf meine Frage, wieso man das nicht hätte kommunizieren können, hieß es nur: Es gebe einen Aushang – im LAGeSo. Genau dort, wo faktisch keiner reinkommt. Zudem war der Aushang auf Deutsch. Ich hörte von vielen, wie unklar die Situation der allermeisten ist. Keiner wusste, was zu tun ist. Es wurden ungenaue Ansagen gemacht, teils falsche Versprechungen. Keiner verstand die Sprache auf den Anträgen. Es hat mich fertig gemacht und am Ende konnte auch ich nur noch weinen. Ich fand das unwürdig. Ein Schild hätte ja gereicht: „Morgen keine Termine“. Ich war in solchen Fällen nicht nur in Berlin unterwegs und es gibt Ausländerbehörden in anderen Städten, die kriegen das besser hin. Vor allem auch, weil Bürokratien aufs Wesentliche reduziert wurden. Wenn das LAGeSo offiziell mitteilt, dass täglich 500 Leute bestellt würden, aber maximal 200 Anträge geschafft werden: Wie soll so etwas gut gehen? Das kann nur im Chaos enden.

Help Dont Hate Portrait 1

Jule Müller und Dirk Reinink

Flüchtlinge und Asylbewerber werden in deutschen Ämtern wie Menschen zweiter Klasse behandelt?

DR: Absolut. Die Lage ist eindeutig und es gibt viele Einschränkungen. Die Wohnsitzauflage ist so ein Thema. Das bedeutet, dass man sich nur dort eine Wohnung suchen darf, wo der Staat es festlegt. Man darf also nicht dahin, wo vielleicht die restliche Familie schon ist, wo ein Job sein könnte, wo Netzwerke sind. Das wird teils willkürlich festgelegt. Dann die Arbeitsverbote. Die wurden rechtlich zwar gelockert, haben aber praktisch noch immer Bestand. Die Behörden entscheiden über eine Arbeitserlaubnis nach Ermessen. Ich weiß von viel mehr Absagen als Genehmigungen. Da muss man von Entrechtungen sprechen. Hinzu kommt für viele die Isolation. Stell dir vor, du wartest fünf Jahre darauf, dass dein Asylantrag abgelehnt wird. Dann wirst du nur geduldet, weil du nicht abgeschoben werden kannst. Dann lebst du zehn Jahre in Kettenduldung in irgendwelchen Heimen auf dem Land. Keiner interessiert sich für dich. So was hat natürlich Auswirkungen. Das endet in Frustration. Ein Freund erzählte mir kürzlich, dass er es im griechischen Gefängnis – dort kamen die meisten Flüchtlinge vor einiger Zeit noch kategorisch für 18 Monate rein – noch immer angenehmer fand als in deutschen Flüchtlingslagern. Er sagte zu mir, dass die Stimmung in den Lagern einfach viel schlimmer als im Gefängnis ist. Viele sind verzweifelt. In den Lagern, die ich besuche, gab es schon mehrere Suizide und Suizidversuche. Menschen springen aus dem Fenster, wenn ihnen die Abschiebung droht. Es herrscht dort eine wirklich bedrückende Stimmung.

Wie geht man mit der persönlichen Frustration um und wie kanalisiert man so etwas? Auf wen schiebt ihr eigentlich nach all den Erfahrungen den größten Hals? Man sagt ja, Grund für diese Katastrophe sei eigentlich eine Verwaltungskrise.

JM: Am LAGeSo hat man sechs Wochen gebraucht, um einen einzigen Trinkwasserbrunnen für das gesamte Gelände zu bauen. Was am Ende hingestellt wurde, war eine kleine Trinkwasservorrichtung mit einem kleinen Wasserstrahl, wie man sie von Unis oder Flughäfen kennt. Da fragt man sich natürlich, wie bescheuert man eigentlich sein kann. Ich habe jeden Tag Tausende Becher abgefüllt, die wir mit Postkisten zu den Warteschlangen geschleppt haben, damit die Wartenden was zu trinken bekommen. Dann wurde irgendwann ein Platz zubetoniert, auf dem Zelte errichtet werden sollten. Endlich sollte es einen vor Sonne und Regen geschützten Wartebereich geben. Bis das aber stand, vergingen Wochen. Momentan werden die Zelte nur tagsüber genutzt. Da kommt es zu absurden Situationen: Nachts stehen sie beleuchtet leer und Menschen lungern müde vor dem Zaun, weil sie kein Dach über dem Kopf haben. Wie kann das sein, dass Privatmenschen Kältebusse organisieren, damit wenigstens die Kinder nicht draußen im nasskalten Winter schlafen müssen? Da schiebe ich absolut auf alle einen Hals, die das organisieren. Anderthalb Monate lang mussten die Menschen auf ein leeres beheiztes und beleuchtetes Zelt hinter einem Zaun glotzen. Jetzt erst hat Berlins Sozialsenator Czala versprochen, diese Zelte auch nachts zu öffnen.

„Ein Freund erzählte mir, dass er es im griechischen Gefängnis angenehmer fand als in deutschen Flüchtlingslagern. Er sagte, dass die Stimmung in den Lagern schlimmer als im Gefängnis ist. Viele sind verzweifelt. Menschen springen aus dem Fenster, wenn ihnen die Abschiebung droht. Es herrscht dort eine wirklich bedrückende Stimmung.“ (Dirk Reinink)

Die Sache mit den Wartenummern haben die Wenigsten verstanden.

JM: Als ich am LAGeSo anfing, wurden die Wartenummern aufgerufen, indem man Post-its auf ein Flipchart geklebt hat. Da stehen 800 Menschen um ein weißes Brett und es gab keine logische Reihenfolge dieser Zahlen. Wochenlang habe ich nicht verstanden, wie dieses System funktioniert.

DR: Dazu kam, dass man dennoch jeden Tag kommen musste, um zu sehen, ob deine Wartenummer drauf stand oder nicht. Das haben Menschen über mehrere Wochen lang gemacht. Wenn sie krank waren oder einen Tag ausgesetzt haben, konnte es passieren, dass ihre Termine einfach gestrichen wurden und das ganze Prozedere von vorne begann.

JM: Das ist Psychoterror. Ein paar Mal habe ich mich für Flüchtlinge angestellt und merkte schnell, wie schlimm das wirklich ist. Und dann kommt auch noch ein Typ mit Deutschland-Merchandising vorbei und sagt zu dir: „Du wirst bald eine Burka tragen!“ Ich bin kein wütender Mensch, aber es gab in der Zeit einige Situationen, die mich auf die Palme gebracht haben. Ein Typ vom Amt meinte zum Beispiel ernsthaft: „Geht weg! Eure Hilfe ist hier nicht erwünscht.“ Dabei musste man sich nur das Leid und das Versagen der Behörden anschauen. Ich bin sicher, dass diese Situation nicht so sein müsste. Und dass sie auch so gewollt ist.

DR: Und selbst wenn die Situation nicht gewollt ist, so ist sie doch zumindest Ausdruck einer Haltung. Es fühlt sich sehr komisch an, zu sehen, wie viele Menschen man an einem Flughafen wie Tegel täglich abfertigen kann, wenn man denn nur will. Das sind Fragen der Prioritäten, der Werte. Für mich ist das Asylrechtssystem in Europa und Deutschland ein Abschreckungssystem. Die vermittelte Botschaft lautet: Kommt bitte nicht hierher. Das hat in Deutschland lange Zeit gut funktioniert. Aus dieser Abschreckungsmentalität sind die allermeisten Behörden trotz des Drucks durch die neuen Flüchtlingsströme aus Syrien, Irak und Afghanistan immer noch nicht herausgekommen. Jeder, der mal in einer Ausländerbehörde gewesen ist, weiß, wie man dort als eine Art Bittsteller behandelt wird. Außerdem finden Verschärfungen von Asylrechtsbestimmungen immer dann statt, wenn plötzlich ein Bedarf an Asyl entsteht. Das war schon in den 80ern und 90ern so. Als wäre das Asylrecht ein hübscher Schmuck im Grundgesetz, das aber nur von möglichst wenigen Menschen in Anspruch genommen werden soll.

Die großen Medien haben in diesem Diskurs eine wichtige Rolle gespielt. Wie habt ihr sie in den vergangenen Monaten gesehen?

DR: Erstmal muss man sagen, dass, wenn man es historisch mit den 90er Jahren vergleicht, die grundlegende Haltung gegenüber Asylsuchenden nicht mehr durchgängig negativ ist. Da gab es schon einen Mentalitätswandel in der Gesellschaft. Es gibt keine homogen feindliche Stimmung mehr. Mich hat positiv überrascht, wie Mainstream-Medien durchaus versucht haben, sich gegen eine rechtsradikale Stimmung in Deutschland zu stellen. Aber nicht nur Medien haben dagegen gehalten, auch die Menschen. Da gibt es eine große Hilfsbereitschaft. Ich habe persönlich die Erfahrung gemacht, wenn ich etwas für die Menschen gebraucht habe, ob Geld, Fahrrad, Laptop – die Sachen kamen nach einem E-Mail-Aufruf alle sofort an.

„Wenn ein Kind einsam in einer Decke eingewickelt herumstand, waren sofort drei Fotografen da. Wir mussten Journalisten darauf aufmerksam machen, dass gerade syrische Flüchtlinge nicht fotografiert werden sollten, weil sich unter ihnen Deserteure und Regimekritiker befinden. Falls die Bilder in den heimischen Medien auftauchen, kann das zu Problemen für die Verbliebenen in der Heimat führen. Nur ein Teil der Presse hat da Einsicht gezeigt. Viele haben sich aufs Presserecht berufen und meinten nur, sie dürften das.“ (Dirk Reinink)

Das wird von einigen auch als politischer Erfolg gewertet.

DR: Angela Merkel hat Dublin nicht zu Fall gebracht. Das haben die Menschen, die über die Grenzen gekommen sind. Aber um Kontrolle zu suggerieren, ist es natürlich einfacher zu sagen, das sei eine politische Entscheidung gewesen. Wie hätte man die Grenzen zumachen können? Das Gleiche gilt für Obergrenzen. Was macht man, wenn eine Obergrenze erreicht ist und jemand kommt an der Grenze an? Zurückschicken? Das Spiel läuft jetzt schon an der türkisch-syrischen Grenze. Das bedeutet aber nicht, dass Syrer in ihre zerbombte Heimat zurückkehren, sondern über den weitaus gefährlicheren Seeweg versuchen, nach Europa zu kommen. Aber nochmal, gerade jetzt wieder werden europaweit Einreisebestimmungen verschärft. Unter anderem, indem eine Einreise ohne Papiere zu einem beschleunigten Asylverfahren, das heißt mit eingeschränkten Rechten, führen kann. Dazu muss man wissen, dass eine Flucht ohne Papiere durchaus zum Standard gehört. Es gibt niemanden in Syrien und Afghanistan, der in so einer Situation zum Amt geht und aktuelle Reisedokumente beantragt. Teilweise vernichten die Menschen auch ihre Ausweise bewusst, weil sie Angst haben, identifiziert zurückgeschickt zu werden. Jeder versucht nur, seine Chancen zu verbessern. Wenn man das kriminalisiert, dann kriminalisiert man letztlich Flucht.

Jule, wie hast du die Medien in dem Kontext gesehen?

JM: Bei mir haben interessanterweise oft Frauenmagazine angefragt, was mich schon überrascht hat. So was ist ja eigentlich nicht deren Thema. Es gab auf jeden Fall ein gesteigertes Interesse, auch vor Ort.

DR: Als ich am LAGeSo war, musste ich feststellen, dass viele Kamerateams dort rumlungerten und mich ansprachen. Interessanterweise wollten sie aber lieber mit Helfern sprechen als mit den Flüchtlingen selbst. Wenn man mit Flüchtlingen sprach, ging es hauptsächlich um biografische Informationen. Wo kommen sie her, wie alt sind sie? Die Analysen, die tiefergehenden Antworten wurden von den weißen Helfern erwartet. Natürlich ging es hier auch um die Produktion von schön-schrecklichen Bildern. Wenn irgendwo ein Kind einsam in einer Decke eingewickelt herumstand, standen sofort drei Fotografen um das Kind herum und haben Bilder gemacht. Wir mussten die Journalisten darauf aufmerksam machen, dass gerade syrische Flüchtlinge nicht fotografiert werden sollten, weil sich unter ihnen auch Deserteure und Regimekritiker befinden. Falls die Bilder in den heimischen Medien auftauchen, kann das zu Problemen für die Verbliebenen in der Heimat führen. Nur ein Teil der Presse hat da Einsicht gezeigt. Viele haben sich aufs Presserecht berufen und meinten nur, sie dürften das.

JM: Ich hatte auch so ein Erlebnis. Ich stand am besagten Wasserstand und habe Wasser gezapft, als plötzlich ein Fernsehteam auftauchte und hinter mir ein aufwändiges Schienensystem für ihre Kameras aufgebaut hat. Das fand ich schon reichlich absurd. Das Team hatte eine Tüte voller Klamotten dabei und meinte: „Die verteilen wir jetzt.“ Ich versuchte sie davon abzuhalten, weil alle Dinge kontrolliert verteilt werden müssen. Sonst kommen die Menschen, ohne zu wissen, was eigentlich verteilt wird. Ein Schneeballeffekt: Man sieht, da rennen Menschen hin, also rennen die anderen auch dahin. Dann kommt es zur Rudelbildung, Menschen prügeln sich und am Ende haben alle ihren Platz in der Schlange verloren. Ich habe dem Fernsehteam angeboten, die Spende anzunehmen und weiterzuleiten. Wollten die aber nicht. Schließlich ist genau das eingetreten, was ich prophezeit habe. Später kam noch die Moderatorin an und fragte mich, ob sie sich an den Wasserspender stellen könne, um für die Kamera Wasser zu zapfen. Sie wollte nur so tun als ob. Das habe ich ausdrücklich verweigert.

„Helfen kann jeder. Am Ende gibt es für jeden was zu tun.“ (Jule Müller)

Wie eben beschrieben, gibt es übers Helfen viele Missverständnisse. Wie sieht „richtige“ Hilfe in euren Augen aus?

JM: Helfen kann jeder. Geldspenden sind bei den richtigen Institutionen auch immer willkommen. Viele Leute kamen zu mir und meinten, sie wüssten nicht, wie man helfen könne. Man könne ja nichts so richtig. Am Ende gibt es aber für jeden was zu tun. Gerade jetzt, wenn es kalt wird, nicht mehr so viele Freiwillige aktiviert werden können wie noch im Sommer, das Thema in den Medien ausgelutscht ist und viele es nicht mehr hören wollen. Was ich vielen empfohlen habe – auch weil ich selber gute Erfahrungen gemacht habe – ist eine Art Patenschaft zu übernehmen. Dabei geht es darum, eine Person zu begleiten. Man lernt sich kennen, verbringt drei Stunden in der Woche miteinander. Guckt, was die Probleme sind, die man gerade bewältigen muss. Wie schafft man die Behördengänge? Wo gibt es den nächsten Deutschkurs? Ich habe Menschen getroffen, die schon einige Zeit hier verbracht haben und meinten, dass ich die erste deutsche Person gewesen sei, mit der sie sich unterhalten hätten. Man kann viel tun, und wenn man einmal die Woche mit den Kids kniffelt oder zum Fußballverein geht, was auch immer. So was gibt den Menschen viel Halt. Ich habe einen pakistanischen Jungen kennengelernt, der drei Jahre lang zu Fuß bis nach Deutschland gelaufen ist. Solche Menschen sind verloren, verwirrt, sie vermissen ihre Familien, dann stecken sie in dem Chaos am LAGeSo und sind zudem obdachlos. Eine Patenschaft kann da eine gute Vertrauensbasis schaffen und viel bringen.

DR: Das würde ich unterstreichen wollen. Soziale Kontakte sind etwas, das sich alle Menschen wünschen. Jeder kann seine Netzwerke öffnen. Jeder hat etwas, das helfen kann, auch jenseits von Geld und sei es der Zugang zur Gästeliste im Club.

JM: Ich war mit einem 19-Jährigen aus Somalia auf einem Festival hier in Berlin. Wir gingen gemeinsam hin und es gab Stuntshows, Feuerwerk und Musik. Und irgendwann sagte er zu mir: „Jule, für einen Moment habe ich den Krieg in Somalia vergessen.“ Das war für uns beide ein berührender und bedeutender Moment.

Gemeinsam mit den Journalisten, Bloggern, Fotografen und Medienmachern der Blogfabrik, in der Das Filter ebenfalls involviert ist, hat Jule Müller die Spendenkampagne „Help Don’t Hate“ ins Leben gerufen. Bis Ende Januar werden hier Geldspenden gesammelt, die an die unten aufgelisteten Institutionen weitergeleitet werden. Wir bedanken uns für eure Unterstützung.

Help Don’t Hate | Betterplace

  • Flüchtlinge Willkommen (deutschlandweite Vermittlung von Wohnraum und Paten)
  • Über den Tellerrand kochen (Community-Events und Kochgruppe)
  • Be an Angel e.V. (Begleitung und Beratung von Geflüchteten)
  • Kiron Open Higher Education (anerkannte kostenlose Hochschulabschlüsse)
  • SOS Kinderdörfer (Nothilfen für Kinder und ihre Familien in syrischen Notlagern)
  • M.O.A.S. Migrant Offshore Aid Station (Seenothilfe für Flüchtende im Mittelmeer)

HTML-909Oldschool-Drumcomputer für alle

Das BusinessPapierwaren: Gute Zeiten für Kalenderkunst