WolfsliebeFilmkritik: „Wild“

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Alle Fotos: Heimatfilm

Die Berliner Schauspielerin und Regisseurin Nicolette Krebitz erzählt in ihrem dritten Spielfilm Wild die Liebesgeschichte einer vom Leben gelangweilten jungen Frau und eines Wolfs. Alexander Buchholz hat sich die ungewöhnliche Romanze angesehen.

Niemand sollte seinem Vorgesetzten ständig nur Kaffee machen müssen. Ganz bestimmt sollte sich niemand von seinem Vorgesetzten mit was bewerfen lassen, um signalisiert zu bekommen, dass Kaffee gewünscht wird. Und niemand, niemand, wirklich NIEMAND sollte gezwungen sein, den für den Vorgesetzten bestimmten Kaffeebecher gegen die Kollegen verteidigen zu müssen – weil die auch Kaffeedurst haben. Doch es ist genau das, was Ania (Lilith Stangenberg) tagtäglich bei ihrem Marketingjob auf Einstiegs-Niveau widerfährt: das Arbeitsleben als trister, bescheuerter Hindernisparcours mit unklarer Zielsetzung, ständig belauert von einem Rudel Hyänen, das sich als Kollegenschaft tarnt und nur auf die Gelegenheit wartet, einen zu zerfleischen. Zuhause sieht es kaum besser aus: Ihre Schwester Jenny (Saskia Rosendahl) verlässt die gemeinsame WG, um den Riesenfehler zu begehen, mit ihrem Freund zusammenzuziehen. Anias Großvater, dessen Wohnung sie hütet, liegt im Krankenhaus und lässt nicht erkennen, dass er dies jemals wieder lebend verlassen wird. Lilith Stangenberg spielt die Figur der Ania, die so dringend einen Tapetenwechsel nötig hat, stur und schlafwandlerisch zugleich: abgekoppelt von ihrer Umwelt, orientierungslos, aber auch ohne zurückzuweichen vor den ganzen Arschlöchern da draußen. Großes Potential schlummert in ihr, das macht der Film immer wieder deutlich, es fehlt ihr nur ein Ziel, für das es sich zu arbeiten lohnt: ein Objekt der Begierde. Doch das bekommt sie irgendwann. Und was für eins.

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Unweit ihres Wohnsilos, in einem schmalen Grünstreifen, entdeckt sie einen Wolf und ein Wolf entdeckt sie. Es ist Liebe auf den ersten Blick. So schlicht und einfach kann das manchmal sein. Ania gelingt es, den Wolf einzufangen und in das verwaiste Zimmer in ihrer Wohnung zu sperren. Durch ein Loch in der Wand beobachtet sie das Tier und verändert sich dabei immer mehr, was auch ihrem Chef (Georg Friedrich) nicht verborgen bleibt.

##Eingeklemmt zwischen Burn- und Bore-Out
Nicolette Krebitz’ dritter Spielfilm als Regisseurin ist Einiges: eine Amour fou, eine Dreiecksgeschichte, aber auch eine Satire und darüber hinaus ganz offensichtlich ein Spiel mit Märchenmotiven. Der Filmtrailer wiederum akzentuiert die Thriller-Elemente. Phasenweise ist Wild eine Workplace Comedy – dann, wenn Krebitz Anias Büroalltag skizziert, mit seinen seeleraubenden Teammeetings und beiläufigen Kränkungen – und ein Heist Movie – wenn Ania methodisch und mit erstaunlicher Problemlösungskompetenz Pläne schmiedet und Mitstreiter um sich scharrt, um den Wolf einzufangen. Vermutlich muss ein in diesem Fall erfreulich undisziplinierter Genremischmasch dabei herauskommen, wenn man sich den Befindlichkeiten der Millennials annimmt, wie es Krebitz mit Wild unweigerlich tut. Die Regisseurin leistet sich einige sarkastische Kommentare zu der Situation, in der man sich als überqualifizierter und/oder überforderter Berufsanfänger wiederfindet. Eingeklemmt zwischen Burn- und Bore-Out, zwischen Optionsvielfalt und engen Korridoren, durch die das Ego gequetscht werden muss, um „voran“zukommen.

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Was den Film so gekonnt seine Spannungskurve halten läßt, ist, dass nie so ganz klar wird, ob Ania beim sich Auswildern eigentlich überschnappt oder etwas völlig Vernünftiges tut. Ist das ein tragfähiger alternativer Lebensentwurf oder doch eher blanker Irrsinn? Ist Wild ein Film über weibliche Selbstermächtigung oder deren Demontage? Inwieweit liefert Ania sich der Situation aus und gibt ihre Autonomie auf? Und gewinnt sie durch diesen Akt masochistischer Hingabe Kontrolle über sich selbst zurück? Schön, dass Krebitz die Ambivalenz einfach intakt lässt. Ein irgendwie konstruktives feministisches Pamphlet ist Wild nicht gerade.

Filme über das Aussteigen und Zu-sich-selbst-Finden gibt es zur Zeit ja recht viele. Tracks – Spuren (AUS 2014) fällt einem da ein, oder Wild – Der große Trip (USA 2014): Beides gänzlich humorlose Filme, die ihre Protagonistinnen gestählt aus ihrer Reise hervortreten lassen. Für derartig affirmativen Unfug ist in Krebitz’ surrealer und sehr lustiger Tierfabel kein Platz. Noch wagemutiger hätte Wild nur sein können, wenn der Film einige wirklich haarsträubende Szenen nicht als Traumsequenz markiert und dadurch abgefedert hätte.
Die Volksbühnen-Schauspielerin Lilith Stangenberg erweist sich als großer Glücksgriff. „Mut zur Hässlichkeit“ wird Darstellern ja gerne attestiert, wenn diese schräge Sache mit sich machen lassen. In Stangenbergs Fall könnte man sagen, dass sie sogar die herausforderndsten Momente mit einer ganz uneitlen Anmut bewältigt. Auch Georg Friedrich ist schlicht großartig besetzt. Und hab ich eigentlich schon erwähnt, was für ein Prachtexemplar der Wolf ist? Ist hiermit geschehen.

Wild
D 2016
Regie: Nicolette Krebitz
Drehbuch: Nicolette Krebitz
Darsteller: Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Saskia Rosendahl, Pit Bukowski, Silke Bodenbender, Kotti Yun
Kamera: Reinhold Vorschneider
Schnitt: Bettina Böhler
Musik: Terranova
Laufzeit: 97 min
ab dem 14.4.2016 im Kino

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