DJs in der DDR: Ohne Pappe keine MusikSo verlief die Ausbildung zum „Schallplattenunterhalter“

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Statt Schallplatten aufgelegt wurden in der DDR fast immer Kassetten eingelegt. Foto: Daniel Kulinski via photopin cc

Wer im Osten öffentlich etwas darstellen wollte, sei es als Kabarettist, als Zauberer, als Sänger oder eben als Discjockey, der musste zuerst einmal eine Ausbildung absolvieren und sich ordnungsgemäß prüfen lassen. Bei den Engagements in Discotheken, auf Landgasthöfen, Hochzeiten oder sonstwo konnte von den DJs jederzeit das Vorzeigen des Ausweises verlangt werden, inoffiziell „Pappe“ genannt. Sie dokumentierte die Spielerlaubnis als „staatlich geprüfter Schallplattenunterhalter“. Ohne Pappe: keine Musik.

Elke Lorenz arbeitete von 1979 bis zur Wende als kulturpolitische Mitarbeiterin im Kreiskabinett für Kulturarbeit des Rats des Kreises Rostock. Zu ihren Aufgaben zählte auch die Organisation der Elementarlehrgänge zum Schallplattenunterhalter. Sie lebt heute in Rostock.
Ive Müller organisierte ab 1985 mit selbst aufgenommenen Tapes die Schuldisco in seiner Heimatstadt Leipzig. Sein Englisch- und Deutschlehrer Rüdiger Pusch, seinerzeit selbst als Schallplattenunterhalter aktiv, nahm Ive und seinen Schulfreund Jens als Techniker mit auf seine Gigs, die unter dem Namen „Diskothek Wandersmann“ stattfanden. Er lebt heute in Dortmund und veröffentlichte zuletzt als heimelektronik auf seinem eigenen Label Electronic Corporation.

Wie muss man sich so eine Ausbildung zum Schallplattenunterhalter vorstellen, theoretisch und praktisch?

Elke Lorenz: Die Elementarlehrgänge waren schon recht umfangreich. Die zukünftigen Diskotheker – eine weitere übliche Bezeichnung in der DDR – wurden in Musikgeschichte, Dramaturgie, Sprecherziehung und Programmgestaltung ausgebildet. Sie mussten ein ganzes Konzept ausarbeiten, mit einer Musikdramaturgie, am besten mit einem roten Faden, der sich durch den ganzen Abend zog. Das Publikum mussten sie durch Spiele und Moderation in das Programm einbeziehen. Die Dozenten für den Lehrgang kamen bei uns von der Universität Rostock oder waren selbst in der Musikbranche tätig. Nach der Wende haben die Schallplattenunterhalter von dieser breit gefächerten Ausbildung profitiert: Schüler von mir sind beispielsweise Moderatoren beim Radio geworden.

Ive Müller: Mein Lehrgang fand damals in der Katharinenstraße in Leipzig statt und dauerte zwei Monate. Ich musste moderieren, vor der Kamera sprechen, Ansagen ans Publikum machen. So was hat man dort gelernt. Die Musik selbst stand dabei nicht im Vordergrund.
Der Lehrgang zielte mehr darauf ab, die Leute als Kulturmoderator, als Conferencier auszubilden. Ich erinnere mich, es waren auch einige Spaßkanonen dabei, die zwischen jedem Song einen mehr oder weniger guten Witz erzählt haben. Das klassische DJ-Handwerk, also einen Spannungsbogen für das Publikum herstellen, Musik mixen, das war dort irrelevant.

##Kreisarbeitsgemeinschaft „Diskothek“ und die „Grundpappe“
Am Ende gab es dann eine Abschlussprüfung. Hat man sein Programm in einem Prüfungsraum vorgestellt oder live in der Disco?

Lorenz: Der angehende Schallplattenunterhalter musste zunächst Fragen zu Kultur und Politik beantworten und dann einen Abend vor einer Jury gestalten. Die Einstufungskommission setzte sich aus einem Vertreter der Kreisarbeitsgemeinschaft „Diskothek“, einem Vertreter der FDJ und mir als Vertreterin des zuständigen Kreiskabinetts zusammen. Am Ende wurden die Discjockeys dann eingestuft: Es gab die Kategorien A, B und C. Mit A konnte man 5 Mark pro Stunde als Gage nehmen, mit B 6,50 und mit C 8,50 Mark.

Müller: Ich musste diesen Abend zusammen mit meinem Kumpel Jens vor zwei hochrangigen Leipziger DJs gestalten, die damals schon lange dabei waren und vor Funktionären aus dem Kulturbüro. Das Wichtigste war, flotte Sprüche zu bringen und die Leute mit unserer Musik zum Tanzen zu animieren. Stattgefunden hat das in der Discothek „Rabet“, einem Betonklotz im Leipziger Nordosten. Das war damals der In-Club in der Gegend und jeden Freitag, Samstag und Sonntag rappelvoll. Da gingen wir sowieso immer hin. Wir haben uns gut vorbereitet und schon einen Abend vorher dort Musik gemacht: Alle unsere Kumpels waren da und wir haben unser Vorführprogramm durchgespielt – einen Tanzwettbewerb mit verschiedenen Stilen. Walzer, Rock’n’Roll und so. Das Ganze am Prüfungsabend dann noch mal. Und dafür haben wir dann die „Grundpappe“ gekriegt, also das Zertifikat für die Kategorie A. Für B hätten wir wohl noch ein Kaninchen aus dem Hut zaubern und mit Zylinder und Frack die Prüfung auf irgendeinem Tanztee machen müssen. Da hatten wir aber nicht so das Interesse dran.

Teil 2 der Dokumentation „Nachts im Osten", in der Ive Müller zu sehen ist. Teil 1 ist zurzeit online nicht zu finden. Wir freuen uns über sachdienliche Hinweise.

In dem Film „Nachts im Osten“ sieht man die Schallplattenunterhalter an Tonbändern oder mit Kassetten agieren. Wie sah es denn mit Platten aus?

Müller: Ich habe nur mit Kassetten gearbeitet, auch in der Ausbildung habe ich keine einzige Platte in die Hand bekommen. Plattenspieler waren in der DDR sowieso rar und die Ost-Modelle mit ihrem Riemenantrieb und endlosem Vorlauf konntest du für Partys einfach nicht verwenden. Wenn da einer nur gegen den Tisch gepustet hätte, wäre die Nadel über die Platte gerutscht. Technics habe ich vor der Wende nie gesehen.

Unsere Ausrüstung: Zwei Kassettendecks, später ein Kombideck aus dem Westen. Und zusätzlich immer eine alte Gurke zum Spulen. Die meisten DDR-Kassettenspieler hatten noch nicht mal eine automatische Spulfunktion, also musste man den Finger draufhalten. Immer von der Angst begleitet, dass man Bandsalat produziert.

Lorenz: Platten gab es nur schwarz aus dem Westen oder von der Amiga, der Plattenfirma der DDR. Die haben alle einheitlich 16,10 Mark gekostet. Allerdings gab es in dem Musikladen in Rostock nie genug davon. Deswegen habe ich damals für DJs eine Warteliste organisiert und die Platten dann zugeteilt.

Müller: Wir haben unser ganzes Geld in Kassetten investiert. 20 bis 30 Mark mussten wir für eine Chromdioxid-Kassette auf den Tisch legen, Ferro-Kassetten gab es für 17 Mark. Bei Amiga kamen ja auch Kaufkassetten raus, die haben wir uns auch geholt, aber vor allem haben wir Sendungen mitgeschnitten. Westradio, aber auch das Programm von DT 64 aus Ostberlin. Da gab es spezielle Formate, zum Beispiel die Maxi Stunde am Sonntagmorgen, in der 12″-Versionen von Madonna oder Depeche Mode liefen.

Also eigentlich doch genau so, wie es Ende der Achtziger auch im Westen war: Abends vor dem Radio hocken und im richtigen Augenblick auf die Record-Taste drücken.

Müller: Ich glaube, das ging weitestgehend konform. Teens aus dem Westen hatten ja sicher genauso wenig finanzielle Mittel, sich Platten zu kaufen. Man kannte auch Leute drüben, die einem dann die Musik auf Tape zugeschickt haben, mit Musik, die kaum über das Radio zu bekommen war. Damit fing dann auch unser Interesse an elektronischer Musik an: Farley Jackmaster Funk, Mr. Fingers, Marshall Jefferson – das kannte man einfach, wenn man sich 1986, 1987 mit Musik beschäftigte. Irgendwann liefen solche Nummern auch bei DT 64 und sogar längere Hiphouse-Mixes habe ich dort aufgenommen. Musik aus West-Berlin in den Ostteil der Stadt rüberzubringen, war offensichtlich nicht so das Problem.

Und damit konnte man dann auch den Disco-Abend musikalisch gestalten?

Müller: Nein, da hat man sich fast ausschließlich im Mainstream bewegt. Die Leute haben ja schon erstaunt geguckt, wenn wir mal eine Maxi-Version von „People Are People“ gespielt haben. Wir waren verdammt dazu, Wunschkonzert zu machen. Klar, Anne Clark, Soft Cell, Human League, das mochten wir und das mochte das Publikum, aber es mussten eben auch Klaus Lage, Westernhagen und Nena laufen. Sonst sind dir die Leute aufs Dach gestiegen.

„Theme From S´Express“, das war den meisten schon zu monoton, erinnere ich mich. Bei „Musique Non Stop“ von Kraftwerk haben sie mir den Vogel gezeigt.

Wie sah es denn mit Ost-Musik aus? Es gab ja die 60:40-Regelung, also mussten doch mehrheitlich Lieder von DDR-Künstler gespielt werden?

Lorenz: Na ja. Bei der Prüfung wurde die Regelung natürlich eingehalten, danach aber nicht mehr. Die Schallplattenunterhalter mussten vor ihrem Auftritt eine Titelliste beim Kulturkabinett einreichen, damit wurden die Abrechnungen für die AMA (Anstalt zur Wahrung der Aufführungs- und Vervielfältigungsrechte auf dem Gebiet der Musik, d. Red.) erstellt. Wir haben darüber immer gelacht und gesagt, da bekommen Künstler Geld, obwohl sie gar nicht gespielt werden. Weil die Titellisten natürlich alle frisiert waren.

Müller: Warum ich damals bei jedem Engagement diese Bögen ausfüllen musste, wusste ich gar nicht, das habe ich erst viel später erfahren. Es sollte einfach nicht zu viel Westmusik gespielt werden, weil es Vergütungsverträge mit der GEMA gab. Dann wäre das Geld in den Westen gegangen. Und es gab schon Ost-Musik, die populär war, vor allem HipHop. Natürlich die legendäre Electric Beat Crew, die schon richtig kommerziell waren, sogar mit einem Vertrag bei Amiga. Aber auch undergroundigere Sachen wie Electric B. oder Matthias Kretzschmer (FMK), der heute auch das Label „Dominance Electricity“ in Dessau macht. Und Breakdance lief lange vor der Wende ja sogar schon in der DDR-Samstagabendshow „Ein Kessel Buntes“. Das lief dann auch auf unseren Partys.

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Standard für Schallplatten-Unterhalter: Sanyo M-G30 Walkman, Preis: rund 950 Ostmark

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Schallplattenunterhaltung live: Ive Müller am Mischpult, eine Freundin assistiert

##Sonderzug nach Pankow: Entzug der Spielerlaubnis

Gab es denn auch Fälle, in denen sich politische Stellen oder Sicherheitsorgane in die Arbeit der Schallplattenunterhalter eingeschaltet haben?

Lorenz: Ja, es gab bei mir so einen Fall. Ich bekam einen Anruf, dass einer meiner DJs „Sonderzug nach Pankow“ von Udo Lindenberg gespielt habe. Der Anrufer – ich weiß leider nicht mehr, ob es ein Bürger oder ein Funktionär war – hat sich fürchterlich echauffiert. Ich habe das meinen Kollegen erzählt. Alle waren ganz aufgeregt. Sie haben mir dann geraten, das an die nächste höhere Dienststelle weiterzuleiten…
Müller: …der „Sonderzug nach Pankow“ war echt der Klassiker, da war Stress programmiert. Wer das spielte, der konnte seine Spielerlaubnis eigentlich direkt am nächsten Tag abgeben. Oder die Veranstaltung wurde sofort abgebrochen, wenn jemand von der FDJ da war. In Leipzig gab es damals einige DJs, die sich einen Namen gemacht hatten und drei- bis viermal pro Woche irgendwo in der Stadt auflegten. Wer es war, weiß ich nicht mehr, aber an einer bestimmten Stelle hat sich einer gedacht, er könne sich erlauben, den Sonderzug zu spielen. Der Schein war danach weg. „Wozu sind Kriege da“ von Udo Lindenberg, das konnte man problemlos laufen lassen.

Was geschah mit dem Rostocker DJ?

Lorenz: Ihm wurde für ein Jahr die Spielerlaubnis entzogen. Das war schon hart, weil das ja auch einen Verdienstausfall bedeutete. Im darauf folgenden Jahr war er wieder dabei. Das sind so Erlebnisse, die sich bei einem ganz schön festgesetzt haben.

Ive, du hast in der Woche des Mauerfalls im Palast der Republik in Berlin aufgelegt. Wie war das?

Müller: Ich hatte damals die ganzen Engagements von meinem ehemaligen Lehrer Rüdiger Pusch übernommen, der da schon als Geschäftsführer in die Leipziger Moritzbastei eingestiegen war. Die hatten einen geilen Laden unten in den Keller des Palasts gebaut, mit dreh-, hoch- und runterfahrbarer Tanzfläche! Da feierten vor allem internationale Gäste im Rahmen von Jugendaustauschen mit den sozialistischen Bruderländern, Mocambique, Angola, China. Das war schon was Besonderes. An dem Donnerstagabend, also dem 9. November, wollte ich mich nach meinem Gig in Berlin eigentlich sofort hinlegen, habe dann aber im Radio gehört, dass Leute auf der Mauer stehen sollen. Also bin ich mit dem Schwarztaxi zur Friedrichstraße. Unfassbar, die Menschenmassen. West-Fernsehteams waren da, Walter Momper hat Interviews gegeben. Ich bin dann am Brandenburger Tor auf die Mauer geklettert und später durch das Tor wieder „nach Hause“ gegangen.

Was wirklich seltsam war: Ich habe am nächsten Abend noch mal im Palast der Republik aufgelegt und hatte das Gefühl, dass viele der ausländischen Gäste gar nicht wirklich mitbekommen haben, was eigentlich gerade in Berlin abgeht. Es war eine stinknormale Party! Ich hab mein Programm runtergespielt in bin dann mit Freunden in den Westen rüber. Viele Leute haben ihre 100 Mark Begrüßungsgeld gleich im Big Eden oder anderen Läden verballert.

Wie ging es für euch nach der Wende weiter?

Lorenz: Nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung wurde unsere ganze Arbeit im Kulturkabinett in Frage gestellt. Viele wurden entlassen. Da ich aber allein erziehende Mutter mit zwei Kindern war, konnte ich mich da durchbringen und wurde bei der Kulturverwaltung des Kreises Bad Doberan übernommen.

Müller: Ich habe erstmal weiter als Wald-und-Wiesen-DJ in Leipzig gearbeitet. 1991 bin ich nach Dortmund gegangen und habe eine Ausbildung zum Steuerberater gemacht. Ich wollte nicht noch mal ganz von vorne mit Plattenspielern anfangen. Wäre die Mauer nicht gefallen, hätte ich sicher weiter aufgelegt. Das war meine Möglichkeit in der DDR, etwas Spezielles zu machen. Zurück zur elektronischen Musik bin ich aber ziemlich schnell gekommen, durch die Mayday 1993 in Dortmund – danach wusste ich, dass ich unbedingt selbst produzieren will. Auflegen tue ich heute auch noch. Gerne auch die Stücke, die ich schon damals gespielt habe, mittlerweile aber auf Vinyl. Echte Schallplattenunterhaltung.

Das Interview erschien erstmals 2009, zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, in der elektronischen Musikzeitschrift de:bug.

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