Hängengeblieben 2016Unser großer Jahresrückblick

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Wie im letzten Jahr gibt es auch diesmal den ultimativen Jahresrückblick von Das Filter. Was waren die persönlichen Lichtpunkte unserer Redakteure und Autoren? Wie lässt sich ein Jahr popkulturell analysieren, ohne Charts und Listen zu bemühen? Das große Hängengeblieben-ABC des Jahres 2016 zeigt tolle Künstler, komische Technik, fantastische Filme/Serien, Gesellschaftliches und vieles, was zwischen den Zeilen passiert ist. Auf ein gutes, vielleicht sogar besseres 2017.

808

Für den schönsten Moment in „808 – The Movie“ muss man entweder ganz bis zum Schluss ausharren oder einfach gnadenlos vorspulen. Dann plaudert ein sehr alter und offenbar schwer kranker Ikutaro Kakehashi, der Gründer von Roland, das Geheimnis über die TR-808 aus. Warum sie so klingt, wie sie klingt. Ein ziemlicher Schocker, den heute Hacker und DIY-Enthusiasten nicht besser erzählen könnten. Spoilern wir mal besser nicht. Abgesehen davon ist die Dokumentation von Alexander Dunn leider nicht besonders bemerkenswert. Interview reiht sich an Interview, Anekdote an Anekdote in diesem episodisch geordneten Film, alles irgendwie austauschbar, zumindest nach den ersten 30 Minuten. Natürlich sind alle dabei: Rick Rubin, die Beastie Boys, New Order, Kervorkian, Richie Hawtin, 808 State, die großen HipHopper der frühen 80er in New York, die Miami-Bass-Erfinder. Und Phil Collins. Der ist mit am reflektiertesten, offensichtlich hat er den größten Abstand zur schwarzen Rhythmus-Box. Die Geschichte der Dokumentation ist skurril. Schon seit langer Zeit abgedreht, gab es sie doch nie wirklich zu sehen. Dann schnappte sich Apple das Projekt, ließ Zane Lowe den Kommentar einsprechen (keine Glanzleistung), und streamt den Film jetzt auf Apple Music. Ohne Trara, ohne Pressearbeit. Bildmaterial? Fehlanzeige. Befremdlich, aber nicht weiter wild. David Guetta (siehe DJ) erzählt seinen üblichen Quatsch, Pharrell Williams trägt Sonnenbrille. Felix Da Housecat gibt das größte Arschloch der Welt. Ist er vielleicht auch. Viele der Interview-Partner haben natürlich ihre 808 schon längst verkauft, drum steht immer das gleiche Exemplar im Hintergrund, deutlich erkennbar an Unterschriften auf den Seitenteilen, hinterlassen mit goldfarbenem Edding. Es ist toll, so viele veritable Musiker aus dem Nähkästchen über ihre vermeintliche Lieblings-Maschine plaudern zu hören und zu sehen. Trotz gelegentlicher Ausfälle. Was nicht toll ist: Im ganzen Film kommt mit Lady Tigra (vom Miami-Bass-Duo L’Trimm) nur eine Frau zur Sprache.

Thaddeus Herrmann

Amazon

Wenn das Unternehmen von Jeff Bezos hierzulande in den Medien ist, dann geht es in der Regel um die miserablen Arbeitsbedingungen beim E-Commerce-Riesen in den hiesigen Logistikzentren. Dabei hat Amazon dieses Jahr so viel mehr abgeliefert. Zum Beispiel das spookigste Device ever seit der Erfindung des Internet der Dinge (Echo/Alexa). Oder auch die teuerste und am meisten raubkopierte TV-Serie aller Zeiten (The Grand Tour). Nicht minder interessant: Amazon Go. Der erste Supermarkt, der ohne Kasse und Kassierer auskommt. Einfach mit dem Smartphone wie in der Londoner U-Bahn einchecken. Lebensmittel aussuchen und rausgehen. Wie beim Plündern, nur halt mit bezahlen. Passiert automatisch per App. Sehr praktisch erscheint es auf den ersten Blick. Aber von nun an weiß Amazon nicht nur, was man wann zu welcher Uhrzeit an Lebensmitteln gekauft hat, sondern auch, wie lange Zeit man beispielsweise vor dem Schnapsregal steht, welche Sorten Vodka man sich genauer anschaut, wieder zurücklegt und welche man dann doch kauft. Wer selbst schon mal Privatdetektiv gespielt und die Einkäufe des Vordermenschen auf dem Kassierband analysiert hat – „Vier Liter Frischmilch und ein Babyschnuller – die Frau kann kein Single sein.“ Oder: „Uh, fünf Flaschen Rotwein, aber nur eine Tiefkühlpizza, läuft wohl nicht so beim Jung-Banker, tihihihiii“ – hat eine Ahnung, was Amazon mit Konzepten wie Go und Alexa vorhat. Aber nicht nur bei Amazon, sondern auch Facebook, Google und Apple ist der „gläserne Kunde“ passé. Es geht kaum noch um Daten wie Geburtstag, Blutgruppe oder Religionszugehörigkeit. Man muss einen Unterschied finden zwischen Informationslieferant und Informationsproduzent und was für „Werte“ wirklich damit geschaffen werden können. Eine nicht unwesentliche Differenz. Aber offenbar sind wir immer noch weit davon entfernt, das zu erkennen.

Ji-Hun Kim

Beyoncé

Nicht Kanye, nicht Frank und erst recht nicht Radiohead waren die größten Thinkpiece-Generatoren des Jahres, sondern Beyoncé. Irgendwo in den Schützengräben zwischen Empowerment-Schlachtrufen und Marketing-Vorwürfen blieb die Musik (amtlich weird: Die Vorab-Single „Formation“) dermaßen auf der Strecke, dass der Plan eigentlich aufgegangen schien. „LEMONADE“ war ein mächtig aufgeblasenes Trojanisches Pferd, das sich auf viele möglichst harmlose Arten anbot (Fetischfigur Beyoncé, Schadenfreudenpiñata Jay Z, Becky with the good hair als Instagram-Suchspiel) und die überladene Privatmythologie brachial-subtil für weitschweifende politische Statements nutzte, die sich wiederum bei Schwester Solange (Finger weg von ihren Haaren) oder Kendrick Lamar (das Wort unmastered lässt sich auch ganz anders lesen) auf Protestsongniveau zusammenschrumpfen mussten. Diskussionswürdig war das allemal, das genau aber schien doch der Punkt zu sein.

Kristoffer Cornils

Bob Dylan

An einem Tag im Oktober spaltete sich der Newsfeed per Satzzeichen: Es hieß entweder „Bob Dylan!“ oder „Bob Dylan?“, ein Punkt wurde mittendrin nur selten gesetzt. Stattdessen folgten zermürbende Diskussionen darüber, ob oder nicht der Literaturnobelpreis nun einem zukäme, der ihn verdient hätte. Was sowohl die Dylanites als auch die Empörungsliteraten bei ihren Facebook-Oden vergaßen: Statt zäher Diskussionen entlang der herbeigelaberten Grenze zwischen Literatur und Nicht-Literatur (2016, Leute) hätte sich genauso gut über Geld und kein Geld sprechen lassen. Hinter der symbolischen Entscheidung nämlich stecken finanzielle Konsequenzen, die den Buchmarkt deswegen so treffen, weil ein Gros der sogenannten Hochkultur von einem Preissystem abhängig ist, das an diesem Oktobertag zumindest seine eigenen Grenzen erstmals überschritt. Und Grenzüberschreitungen, wurde deutlich, findet die Buchwelt dann scheiße, wenn ins eigene Territorium getreten wird. Auweia! Zugleich allerdings waren die Hurra-Rufe der Pop-Fans kaum mehr als ein müdes Echo des Grundwiderspruchs, in dem sie sich seit jeher bewegen. Oder hat es die vermeintliche Gegenkultur im Jahr elf nach Dylans Starbucks-Deal nun wirklich wieder dringend nötig, einen Scheiß auf hochkulturelle Anerkennung in Form einer Medaille zu geben? Um einen Punkt zu setzen: Nichts wäre egaler als der Literaturnobelpreis, würdet ihr nicht so ein Trara drum machen.

Kristoffer Cornils

Hängengeblieben 2016 Bowls

Illustration: Susann Massute

Bowls

Das Food des Jahres 2016 ist gar keins. Es ist das Behältnis drumherum. Ein Bowl ist eine Schüssel, eine Schale. Oder auch ein Napf. Was da hinein kommt? Ist fast zweitrangig. Es geht um die Form. Die ist praktisch (passt recht viel hinein, Festes und Flüssiges, Warmes und Kaltes, Unterschiedliches und – anders als bei diesen leidigen Asia-Nudel-Boxen, die längst für allerlei Geschichtetes herhalten müssen – ist dann alles Diverse auch noch ziemlich gut, sprich bedarfs-, appetit- und lustweise, zugreifbar. Sie ist aber auch formschön im Sinne ihrer medialen Inszenierbarkeit. Bowls sind das perfekte Instagram-Geschirr. Haben Teller weiß und minimalistisch darauf gruppiert die essbaren Utensilien zu sein, ist die Schale Tiefe, Fülle, Gönnung. Und dabei noch so healthy befüllt, mit Açai, Quinoa, Avocado. Seht her, mir gelingt der Spagat zwischen viel und ganz gesund essen! Da Food-Trendnamen in den letzten Jahren immer schnell vom Restaurant-Mainstream kooptiert wurden („Streetfood“ behauptet heute jeder Ethno-Imbiss auf der Karte zu haben, „handmade“ ist auch, wenn man den Tiefkühlbeutel eigenhändig öffnet), ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Steakhaus um die Ecke statt der großen und kleinen Salatschüssel einen „small bowl“ und einen „big bowl“ anbietet. Und das Ribeye am besten gleich noch mit rein packt. Soll ja auch aufs Foto.

Jan-Peter Wulf

Carpool Karaoke

Auf der Couch von James Cordens „The Late Late Show“ schlägt das Who is Who aus Hollywood für Promo im klassischen Talkshow-Sinn auf. Doch wer 2016 mit neuer Musik in die Schlagzeilen will, muss mit dem britischen Entertainer ins Auto steigen. Das Programm? 15 Minuten auf der Straße mit Corden als Chauffeur, Radio an und die Highlights der jeweiligen Ausnahmekarriere auf voller Lautstärke – das perfekte Szenario, um die größten aller Stars aus der Reserve zu locken: Die Red Hot Chili Peppers cruisen oben ohne und tratschen über Cher, Lady Gaga unterbricht ihr nahbares Comeback, um selbst zu fahren und Madonna twerkt, ob man das nun sehen will oder nicht. Zur viralen Sensation krönte sich Corden ausgerechnet mit einer rappenden Adele auf dem Beifahrersitz im meist gesehenen YouTube-Video des Jahres (mehr als 135 Mio. Klicks seit Januar). Kein Wunder also, dass ein Big Player wie Apple heiß auf das Format wurde und sich die Rechte an Carpool Karaoke sicherte, um seinem semi-erfolgreichen Musikstreaming-Dienst einen Boost zu verpassen.

Jasmin Tomschi

Da waren’s nur noch 27

„Rule Britannia! Britannia rule the waves. Britons never, never, never shall be slaves.“

Na dann. Viel Glück. # Brexit

Thaddeus Herrmann

Hängengeblieben 2016 10 Euro Wolke Illu

Illustration: Susann Massute

Die 10-Euro-Wolke

Kurz vor Jahresende bietet ein neuer Streaming-Service den übersättigten Musik-Liebhabern seine Dienste an: SoundCloud. Das ist eine Geschichte, die man sich eigentlich nicht mal ausdenken kann. Als gehegte und gepflegte Plattform für Musiker gestartet, entglitt den Gründern das Konzept schon nach kurzes Zeit komplett. DJs und Labels kaperten die Server, aus SoundCloud wurde die größte Umsonst-Jukebox in ganz Techno-Hausen, die sich lange – zu lange – einen Dreck um die GEMA und die anderen Verwertungsgesellschaften kümmerte, bis die schleichende Katastrophe nicht mehr aufzuhalten war. Die Oase des Dancefloors, der Mashups und Mixe wurde so beliebt, dass die großen Player die Umsonst-Kultur von SoundCloud nicht länger billigen wollten. Jetzt kann man zehn Euro einwerfen. Und bekommt dafür vermeintlich alles. Apple, Spotify, Deezer, Google, Amazon: Alle werben mit 40 Millionen Songs, SoundCloud mit über 130 Millionen. Damit stirbt aber auch die ursprüngliche Idee der Firma, die in den vergangenen Jahren Venture Capital verbrannt hat wie keine andere. Wir lernen: Das Internet ist schon lange kein freier Raum mehr. In der Musikindustrie wird nichts toleriert oder wohlwollend ignoriert. SoundCloud muss irgendwie Geld verdienen, das ist klar. 2016 mit der 10-Euro-Wolke um Akzeptanz zu werben, ist aber einfach viel zu spät und noch viel kurzsichtiger. Ideen hat man offenbar keine in Berlin. Die letzten Jahre müssen hart gewesen sein, zu hart. SoundCloud steht für 2017 auf der „Schade, aber toll“-Liste.

Thaddeus Herrmann

DJs

David Guetta war der musikalische Star der Fußball-EM 2016 in Frankreich. Turniersong fett produzieren lassen und bei der Eröffnungs- wie Abschiedsgala gleich noch den Mainact gegeben. Und es war medial gesehen wichtig, was da passiert ist. Die Kulturpraxis des DJings ist hier nämlich vollends an ihre Grenzen gekommen. Eine von der Technik vollends entfesselte musikalische Performanz. Der Super-DJ als totale Abkoppelung. Nichts gegen Playback, aber das hier glich einem Fischotter bei dem Versuch, Eishockey zu spielen. David Guetta konnte einem beim Poti drehen Leid tun. Es war trauriger als die hart geschubberte weiße, aber eben nicht angestöpselte Stratocaster von Dieter Bohlen zu Blue-System-Zeiten. Ich erinnere mich an meine Kindheit 1988. Olympiade in Seoul. Die Hymne „Hand in Hand“ von Koreana. Ein Ohrwurm, gleich mit den Eltern die 7-Inch gekauft. Aber es war klar. Wenn ich irgendwann Musik machen sollte, wird es so etwas niemals sein. Das ist wie ABBA: Elternkultur, Großveranstaltung. Daher die Frage: Welcher coole, aufmüpfige Teenager würde sich 2016 mit Pioneer-CDJs hinstellen und glauben, er mache was Distinguiert-Subversives? Eben. Man darf also gespannt sein, was als nächstes kommt. Welcher Musikertypus die Bühnen der Welt erobern wird, wenn der DJ sich ausgeDJt hat. Wenn der ganze Tomorrowland-Burning-Man-Instagram-Follower-RA-Poll-Gockel-Wahnsinn endlich mal ein Ende hat.

Ji-Hun Kim

Explosion

Hängengeblieben 2016 Explosion

Foto: jonrawlinson via photopin (license)

Eine Explosion, so Wikipedia, ist der physikalische Vorgang des plötzlichen Freisetzens von großen Energiemengen, die zuvor auf kleinem Raum konzentriert waren, in Form einer plötzlichen Volumenausdehnung von Gasen. Dieses Jahr ging es vor allem um die Explosion eines bestimmten Geräts. Das Galaxy Note 7 von Samsung soll einige Dutzend Male enorm heiß geworden sein und die neu geschaffene Gleichung Note 7=Explosion (siehe: The Final Frontier) gilt als der große Eklat der Erfolgsgeschichte beim koreanischen Megaunternehmen. PR-mäßig ein Desaster, keine Frage. Bis hin zum Flugverbot für das Smartphone bei ausgewählten Airlines. Was für eine Demütigung. Dabei müsste klar sein, dass jedes strombetriebene Gerät mit Akku explodieren kann. Ja, wirklich. Auch iPhones und andere Smartphones gehen regelmäßig in die Luft – nur ist da die Schadenfreude nicht so groß – und ganz neue Produktkategorien schließen sich dem neuen Trend an. Autos von Tesla zum Beispiel: Einmal blöd gegen den Baum gefahren, zack Explosion. Das was Hollywood uns jahrzehntelang vorgelogen hat, nämlich dass Autos nach einem Crash in die Luft gehen – ist jetzt endlich Realität. Ebenfalls interessant, billige E-Zigaretten/Vaporizer, die in der Hosentasche Feuer fangen und wie ein Feuerwerk Funken sprühen. Schmerzhaft, gerade bei Skinny Jeans. Merke, Fortschritt kommt immer mit Kompromissen. Und da die Menschheit immer mehr Leistung in immer kleinere Geräte mit immer größeren Batterien packt. Gewöhnen wir uns also besser an die Akkuplosion. Aber auch die Supermarktkette Edeka musste im Juli eine große Rückrufaktion wegen Explosionsgefahr starten. Grund war hier jedoch eine mit Hefen verunreinigte Apfelschorle, die in PET-Flaschen unerwartet einfach mal pompös in die Luft ging. Manchmal kann die Welt doch noch ganz normal sein.

Ji-Hun Kim

Maxine Ashley – Lobster

2016 war das Jahr des Hummers. Rot und wundgescheuert vom Bumsen bei Beyoncé (siehe Beyoncé), glasiert und von Mutterns Mutter eingebuttert bei Maxine Ashley, die das Private nicht politisieren will und damit genau das macht. Familienweites Hardcore-Chillaxen tritt im Song „Lobster“ gegen Selbst- und Weltoptimierungszwänge mit a side of kush an und rotiert im dazugehörigen Video durch den Mikrokosmos des inneren Exils. Da wird rückwärts zu pluckernden Spiralsequenzen durch die Gänge trister Mehrfamilienhäuser geschlendert, anstatt Polizeikarren aufs Dach zu steigen und nur für wenige Sekunden dreht zum Schluss die Kamera nach draußen ab. Dort zu sehen: eine Welt, die sich mit rostigen Gitterstäben gegen Ashleys Elfenbeinturmhedonismus versperrt. Smoking good, living prosper und dennoch im Kreise der Liebsten verloren. Kurzum: bester Beat, lässigste Hook und schönschaudrigstes Video 2016.

Kristoffer Cornils

Metro Boomin

Dr. Dre verdient sein Geld heutzutage vorwiegend mit Kopfhörern, Pharrell Williams von The Neptunes versteht sich immer mehr als internationale Style-Ikone und produziert anscheinend nur noch nebenbei den einen oder anderen stinklangweiligen Superhit. Und Timbaland, ja, was macht eigentlich Timbaland? Wahrscheinlich bastelt er weiter an seiner bisher wenig erfolgreichen Solokarriere oder ist mit Timberlake im Studio. Die Rolle des neuen Go-to-Produzenten der HipHop-Stars war 2016 also neu zu vergeben. Mit Boi-1da und Mike Will Made-It gab es sicherlich auch noch andere vielversprechende Kandidaten, doch Metro Boomin aus Atlanta stellte in diesem Jahr so ziemlich alles und jeden in den Schatten. Auf Kanye Wests „The Life of Pablo“ war der Haus- und Hofproduzent von Future gleich an vier Songs beteiligt. Mit Gucci Mane verbindet ihn bereits seit längerer Zeit eine intensive Arbeitsbeziehung, und auf den Millionen-Sellern „Starboy“ von The Weeknd und „Views“ von Drake durfte er natürlich auch nicht fehlen. Ganz nebenbei veröffentlichte er noch gemeinsam mit 21 Savage die EP „Savage Mode“, die durch ihre verstörende Düsternis und thematischen Monotonie an Clipses Cocaine-Rap-Klassiker „Hell Hath No Fury“ erinnert. Und all das, obwohl Young Metro im September erst 23 wurde. Wir dürfen uns also auch in Zukunft noch auf viele weiter abgründige Trap-Beats, rasselnde 808s und sonore Basslines freuen.

Tim Schenkl

Native Tongues

De La Soul Anonymous NobodyCover WW 27082016
A Tribe Called Quest We Got It From Here Cover 12112016

Mit neuen Alben von A Tribe Called Quest und De La Soul war 2016 ein gutes Jahr für mit 90s-HipHop sozialisierte Hörer. Aus dem Native-Tongues-Dunstkreis waren beide Crews immer absolute Lieblinge. Insbesondere die 1996 erschienen Alben „Beats, Rhymes & Life“ und „Stakes Is High“ haben es mir damals angetan und wurden so oft durch den CD-Player genudelt, dass man heute sein Spiegelbild kaum drin erkennen kann. Zwanzig Jahren später wollen Tribe und De La es nochmal wissen. De La Soul hatten ihr ambitioniertes Crowdfunding-Projekt ja schon länger angekündigt: keine Samples, sondern aufwändig von Musiker Melodien, Licks, Riffs, Beats, Breaks, etc. einspielen lassen, um sich dann aus diesem Pool zu bedienen, klang äußerst spannend. Seinen Charme hat das Ergebnis „The Anonymous Nobody“ zwar, allerdings wirkt es stellenweise zu gewollt eklektisch. De La Soul hatten schon immer ein breites Publikum. Hart formuliert könnte man sagen, dass sie es ihren weißen Hörern recht machen wollen. Aber vermutlich ist das viel zu zynisch. De La Soul wollten ein Album für ihren Fans machen. Für the Anonymous Nobody. Für ein breites Publikum kompatibel sind auch die Kollaborationen. Von Damon Albarn über Little Dragon’s Yukimi Nagano, David Byrne, Snoop Dogg, Usher, Jill Scott Heron, bis hin zu Justin Hawkins von The Darkness: Alle sind sie dabei. Das Album ist ein bisschen wie das Melt-Festival, ein Festival für Leute die sonst nicht viel auf Festivals und Partys gehen. Und „The Anonymous Nobody“ ist ein Album für Leute, die sonst mit HipHop nicht so viel am Hut haben. Und was machen A Tribe Called Quest? Sie machen einfach alles richtig. Zum Ende ihrer Karriere und nach dem traurigen Tod des Bandmitglieds Phife Dawg im März 2016 befinden sie sich auf dem Höhepunkt ihres Könnens. Da sitzt jedes Wort und jeder Reim. Und auch wenn die Beats nicht mehr nach Tribe klingen könnten, klingt es wie ein modernes Album und keines das auf 90er-MPC-Nostalgie hängengeblieben ist. Skippe ich beim De-La-Soul-Album manche Tracks immer wieder, kann man dieses Album herrlich durchhören. Ein besseres Geschenk kann man seinen Fans nicht machen, bevor man sich endgültig aus dem HipHop-Biz verabschiedet.

Julian Braun

Hängengeblieben 2016 Obdachlosenhass

Foto: dierk schaefer Obdachlos via photopin (license)

Obdachlosenhass

Plötzlich steht er vor mir, im U-Bahnhof. Ein junger Mann, der mich um „irgendwas zum Essen“ bittet. „Ich lebe auf der Straße“, sagt er zur Erklärung. Ich biete ihm meine gerade gekauften Mandarinen an, Er nimmt die Tüte, bedankt sich und geht.
Immer mehr solche Begegnungen hatte ich im letzten Jahr. Menschen, die betteln, weil sie obdachlos sind, gehören zum Leben in deutschen Großstädten. Und es werden immer mehr. Rund 7.000 Männer, Frauen und auch Kinder leben in Berlin auf der Straße. Deutschlandweit sind es fast 40.000. Es sind Menschen, die unter die Räder gekommen sind, Schicksalsschläge nicht verkraftet haben: Eine Scheidung, den Verlust der Arbeit, Schulden und dann die Zwangsräumung ihrer Wohnung. Nicht selten alles zusammen. Dann wird die Straße zum neuen Zuhause. In meinem Kiez sitzen sie im Einkaufszentrum, vor dem Späti, trinken Bier, quatschen, betteln und pinkeln. Meine Nachbarin sagt, diese Typen müssen hier weg. Sie ruft Polizei und Ordnungsamt an und besteht auf Vertreibung. Sie weiß von Männern, die angeblich klauen und nachts in Hauseingängen schlafen. Ich habe sie gefragt, ob sie mal mit einem der Männer geredet hat, mal gefragt, wie es ihm geht, was er sich wünscht und warum er nicht auf die Beine kommt? „Nee“ sagt die Nachbarin und dass sie „mit solchen Pennern“ keine Gespräche führt. Sie ist nicht die einzige, die so redet. Ich nenne dieses Verhalten Rassismus und stelle fest: Er hat zugenommen im vergangenen Jahr und macht sich vor allem in gutbürgerlichen Kreisen breit. Viele haben Angst, selbst abzustürzen. „Wir haben hier eine Wohnung gekauft und nun pinkeln die Obdachlosen an unsere Hauswände“, schimpft wütend ein junger Familienvater. Er kritisiert den Staat, „den das alles nicht interessiert“. Die neue Regierung in der Hauptstadt will Wohnungen bauen für Arme und Ausgegrenzte. Mich würde das freuen. Mal sehen, was daraus wird.

Monika Herrmann

Podcasts

Erst wenn Dinge technisch uninteressant geworden sind, werden sie gesellschaftlich interessant, schrieb der Internet-Guru Clay Shirky mal. Podcasts könnten technisch nicht langweiliger sein: Alles, was man braucht, ist seit Jahren da, jeder, der ein Smartphone hat, kann direkt loslegen und Audio- oder Video-Mediendateien abonnieren (und das, was ursprünglich als Abspielstation in der ersten Silbe des Begriffs benannt ist, der iPod, ist ja schon fast wieder weg). Gesellschaftlich interessant – auf Deutschland bezogen – werden Podcasts erst jetzt. Warum? These, angreifbare: Weil es jetzt erstmalig eine größere Auswahl deutschsprachiger Angebote gibt. Ob der „Der talentierte Mr. Vossen“ des NDR, eigentlich ein Langstrecken-Feature im Kleide eines mehrteiligen Radio-Hörspiels, der unabhängige Politik-Podcast „Lage der Nation“, der hoffentlich nie einen Grimme-Preis bekommt und immer unter dem offiziellen Radar seinen eigenen Rundum-Scan fortsetzt, die „Filterblase“ von t3n oder das Langstreckenformat „Einhundert“ von DRadio Wissen, das bald den noch seltsameren Namen „Deutschlandfunk Nova“ tragen wird, und nicht zu vergessen: Der Radio-Tatort Hamm, der besser als der Fernseh-Tatort Münster ist. Der Bayerische Rundfunk sucht unter www.callforpodcast.de nach dem deutschen „Serial“. Anders als global erfolgreiche serielle Video-Formate von Netflix und Co. werden serielle Audio-Formate immer stärker an das jeweilige Sprach-Territorium gebunden sein – so vermute ich. Denn: Das „Radio“ ist immer schon ein lokaleres Medium gewesen, und sein zeitversetzter Nachfolger, der Podcast, scheint dieser Tradition zu folgen. Ob’s stimmt? Der Beleg wird nachgereicht.

Jan-Peter Wulf

Toni Erdmann Filmstill Küche

„Toni Erdmann“ von Maren Ade

Regisseurinnen aus Deutschland

Der marginale Anteil an Regisseurinnen in den Wettbewerben von Cannes, der Berlinale, Venedig und anderen großen Festivals ist jedes Jahr aufs neue ein Ärgernis, und auch an den Fleischtöpfen der deutschen Filmförderung bedienen sich weiterhin vor allem männliche Filmschaffende. Letzteres erscheint in diesem Jahr besonders absurd, da fast alle Projekte, die sowohl international als auch bei den Kritikern für Furore sorgten, von Regisseurinnen stammen. Maren Ade räumte gerade mit Toni Erdmann so gut wie jeden wichtigen Preis beim Europäischen Filmpreis ab und darf sich gute Chancen ausrechnen, für einen Oscar nominiert zu werden. Maria Schrader bewies mit ihrem Stefan-Zweig-Film Vor der Morgenröte, dass Biopics weit mehr sein können als das reine Abhaken historischer Fakten, und Nicolette Krebitz war mit Wild für den wahrscheinlich besten und mutigsten deutschen Film seit vielen Jahren verantwortlich.

Tim Schenkl

Revolution frisst Kinder

Die erste richtige Smartwatch? Vielleicht die Pebble, 2012 gestartet, Kickstarter-Wunder, immer im Gespräch, immer irgendwie bewundert, nie richtig wertgeschätzt. Dann kamen Google, Samsung und Apple mit ihren eigenen Uhren, das kleine Unternehmen geriet zunehmend ins Straucheln. 2016 wurde das Unternehmen verkauft. An Fitbit. Das sind die mit den Fitness-Trackern, deren Armbänder immer wieder Hautirritationen hervorrufen. Die Menschen hinter Pebble? Interessieren Fitbit nicht. Die Hardware, also die Uhren? Auch nicht. Der Platzhirsch im Fitness-Bereich will nur die Software, die Patente und hat zum Schnäppchenpreis zugeschlagen. Pebble ist tot. Die Uhren laufen zwar noch, es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis die benötigten Server abgeschaltet werden. Pionierarbeit, my ass. Das kann man so hinnehmen, ein Aufreger ist aber angebracht. Die großen Player verleiben sich einen Markt ein, den sie nicht erfunden haben. Auf dem sie vielleicht einiges besser oder richtiger machen, den sie gut beobachtet und dann reagiert, jedoch weder geprägt noch befeuert haben. Es gibt keine Nischen mehr im Gadget-Business. Schade. Oder redet noch jemand von Jawbone? Eben.

Thaddeus Herrmann

Satire-Start-ups

Das sogenannte postfaktische, andere sagen auch kontrafaktische Zeitalter, macht es neuerdings schwer, Dinge im rauschenden Stream genau zu analysieren und zu verstehen. Postillon-Headlines, die von vielen Menschen nicht als Satire erkannt werden und auf der anderen Seite echte News, die selbst ein Terry Pratchett sich nicht hätte ausdenken können. Schwer zu definieren waren dieses Jahr auch viele Businessideen. Sowas kann sich doch kein vernünftiger Mensch ausgedacht haben, irrt man viel zu oft. Dabei war die Kreativität der angepriesenen Produkte nicht selten unterhaltsam. Gerade das einst so progressive Kickstarter zeigte zahlreiche Post-Homeshopping-Ära-Blüten auf. Aurora zum Beispiel, eine beleuchtete LED-Kleenex-Klopapierbox. Mit Smartphone-App und Reminder-Funktion für Anrufe und Healthtracking-Aktivitäten. Oder mit Silbernähten versehene Sportunterwäsche gegen böse Strahlungen. Quasi der Aluhut für die besonders sensiblen Körperzonen. Auch revolutionär: das Lightboard. Ein Clipboard für YouTuber, damit diese ihre Tafeltexte mit Gesicht zur Kamera aufschreiben können. Spiegelverkehrt schreiben können vorausgesetzt. Ja, es ist eine einfache Glasscheibe auf Ständerfüßen, aber eben für YouTuber und Vlogger. Man könnte die Liste weiterführen. Belassen wir es dabei. Was bleibt? Man kann mit Technologien die Welt verändern. Die Allerwenigsten tun es aber.

Ji-Hun Kim

Hängengeblieben 2016 Aurora Satire Start-ups
Hängengeblieben 2016 Zizek

Slavoj Žižek

Nachdem die Linke am 23. Juni die erste rechte Gerade mitten ins Schmerzzentrum ihres Kulturoptimismus einstecken musste, folgte am 9. November die zweite. Mittendrin der essayierende Wutkopf Slavoj Žižek, der vor der US-Wahl noch ein »I vud vote vor Trrrrump« aus dem Bart rollen ließ. Empörung allenthalben oder zumindest bei denen, die von Žižek nur die witzigen Videos kennen. Linke Dialektik aber schob in diesem Jahr den Karren merklich von rechts in den Dreck. Angetrieben wurde der Desasterakzelerationismus vom wohlfeilen Gedanken, dass sich nach der Katastrophe ein Chaos zur Ordnung anbieten würde. Was sich vorher schon mit Nick Land ankündigte, wurde 2016 endlich Gewissheit: Selbst die Linke sieht Revolution mittlerweile auf rechts gedreht. Fragt sich nur, wer danach noch das Licht ausmachen könnte.

Kristoffer Cornils

Snapchat

Zugriffsrechte der App Snapchat auf dem Smartphone:

Konten auf dem Gerät suchen
Kontaktkarten lesen
Kontakte lesen
Genauen Standort lesen (GPS)
SMS empfangen
Fotos/Medien/Inhalte lesen
USB-Speicherinhalte lesen, ändern, löschen
Ohne Start der App Fotos und Videos aufnehmen
Audio aufnehmen
WLAN-Verbindungen abrufen
Auf Bluetooth-Einstellungen zugreifen
Telefonstatus und Identität abrufen
Voller Netzwerkzugriff
(Stand Dez. 2016: Android Version 9.45.2.0)

Stranger Things

Hängengeblieben 2016 Stranger Things

Foto: Netflix

Netflix, das radikale Zugpferd unserer Streaming-Generation, konkurriert schon lange nicht mehr mit einem großen Katalog an Filmen, die bereits so oft im TV-Programm rotierten, dass man sich die 7,99 Euro im Monat für’s Basic-Abo lieber sparen möchte. Alternativ fließen die zig Millionen der Kalifornier in die Eigenproduktion von Serienhits, die ihre Wellen in der Popkultur schlagen – wie „Stranger Things“, die acht Episoden lange Ode an die überirdischen Blockbuster von Spielberg, King oder Carpenter. Mit Erscheinen im Juli feierte aber nicht nur der Sci-Fi-Hype der Achtziger ein Comeback. Sondern auch Winona Ryder, die sich vor der klassischen Kleinstadt-Kulisse des Midwest vom plötzlichen Verschwinden ihres 12-jährigen Sohnes an den Rand des Wahnsinns treiben lässt. Genial ist die stilechte Retro-Optik ebenso wie der Plot um eine Handvoll Kids im Clinch mit einem Monster. Aber vor allem der atmosphärische Synth-Nostalgie-Score, analog eingespielt von der US-Band S U R V I V E.

Jasmin Tomschi

Hängengeblieben 2016 Südkorea

Demonstration in Seoul Herbst 2016

Südkorea

Es gibt politische Dramen, die kann man sich gar nicht ausdenken. So wie diesen Herbst in Südkorea, als durch einen Zufall herauskam, dass die Präsidentin Park Geun-Hee jahrelang marionettenhafte Handlangerin der schamanischen Kultführerin Choi Sun-Sil gewesen sein soll. Ohne jede Befugnis und politische Kompetenz beeinflusste sie die Präsidentin bei jedem ihrer Schritte und Entscheidungen und damit auch die nationale Politik. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass es sich um ein großes, konspiratives Netzwerk handelt, in dem sogar K-Pop-Stars und Chaebol-Oligarchien mitmischten. Von Korruption und Bananenrepublik zu sprechen ist hier eine maßlose Untertreibung. Das sprengt das Fantasievermögen der besten House-of-Cards-Autoren. Beispiellos indes die friedlichen Straßenproteste in Seoul. Millionen Menschen versammelten sich über Wochen in der Stadt, um für den Rücktritt von Park zu demonstrieren. Mit – wenn auch zähem – Erfolg. Aber letztlich sind die Geschehnisse in Korea auch ein Beweis dafür, dass selbst 2016 demokratische Prinzipien wie Demonstrationen und Versammlungen noch funktionieren und etwas bewegen können. Wer hätte daran noch geglaubt?

Ji-Hun Kim

Terror in Zeiten des Terrors

Als am 19. Dezember kurz nach Geschehen Fernsehsender über den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin berichteten, fiel es den Journalisten und Verantwortlichen schwer, nicht von Terror zu sprechen. So zeigte die ARD trotz aller Zurückhaltung eine Chronologie vergangener terroristischer Attacken und es war erschütternd, an wie wenig man sich doch tatsächlich noch erinnert. Würzburg, Ansbach, München. Da war doch noch was. Selbst Nizza schien Lichtjahre entfernt. Wie abgestumpft man doch mittlerweile geworden ist, was den Terror in Zeiten des Terrors anbetrifft. Auch der politische Jahresrückblick im Anschluss an die Breitscheidplatz-Berichterstattung konnte sich mit einer Überfülle an Katastrophen in der westlichen Welt kaum zurückhalten. Man fragt sich, wie ein TV-Jahresrückblick in Pakistan aussieht. Ist da vielleicht die Rede von amerikanischem Terror, weil jedes Jahr hunderte Menschen durch ferngesteuerte Superwaffen getötet werden? Wie denken Syrer, wenn sie von russischen Raketen in Aleppo terrorisiert werden? Terror ist ohne Frage ein globales und hochkomplexes Phänomen. Man würde sich nur manchmal wünschen, dass man ein bisschen mehr Abstand zu der exklusiven, westlichen Weltsicht bekommt. Dass Terror nicht nur dann Terror ist, wenn er vor unserer luxuriösen Haustür passiert.

Ji-Hun Kim

The Final Frontier

Hängengeblieben 2016 The Final Frontier

Voll meta: Ein iPhone-Case mit Note-7-Explosionsdesign

Ein lapidares Stück Technik wird selten in der Tagesschau verhandelt. Zum Glück. Den einerseits gehört es da nicht hin und andererseits geht die Berichterstattung in der Stiftung-Warentesterischen Vereinfachung ohnehin schief. 2016 jedoch ging es nicht anders. Aus gutem Grund. Samsung hat ein Handy gebaut, das sich unvorhersehbar überhitzen konnte und einige Menschen dabei schwer verletzte (siehe Explosion). Die Geschichte des „Note 7“ ist hinlänglich bekannt und zum Glück mittlerweile so gut wie ausgestanden. Interessant ist das Smartphone vor allem als Phänomen zum Status Quo des technisch Machbaren, noch viel mehr jedoch des konkurrenzgetriebenen Wettrüstens. Dünner und leichter. Das sind die zwei einzigen Prämissen, unter denen Technik heute zur Marktreife gebracht wird. Jeder eingesparte Millimeter ist eine Pressemeldung wert, jedes Gramm weniger ein verbaler Hieb auf die Mitbewerber. In diesem Wahnsinn hat sich Samsung verkalkuliert. Man wollte ein Telefon bauen, das man so einfach nicht bauen kann. Riesiges Display, schnellster Prozessor, beste Kamera, wasserdicht und ein langlebiger Akku. Samsung wollte mit den „Note 7“-Planwagen als erster Siedler den Westen erreichen, ohne Rücksicht auf Verluste. Vielleicht, um „Team Apple“ eins auszuwischen, vielleicht auch nur, weil man mittlerweile einfach den Bezug zur Realität verloren hatte oder sich den Vorgaben der Aktionäre beugen musste. Auch 2016 ist noch nicht alles möglich, was auf dem Reißbrett gut und vielversprechend aussieht. Das „Note 7“ wird mittlerweile per erzwungenem Software-Update stillgelegt. Wer sein gerät also noch nicht umgetauscht hat, kann es nicht mal mehr anschalten. Besser ist das. Bei allem Fortschritt und Fortschrittsglauben bleibt die final frontier bis auf weiteres ein metaphorisches Fragezeichen. Das ist ok und Samsung kann einem in diesem selbst verursachten Schlamassel fast leidtun. Denn wo wird neben der Tagesschau noch nie über ein lapidares Stück Technik gesprochen? An Bord von Flugzeugen. „Wenn Sie ein Note 7 von Samsung dabei haben, melden Sie sich bitte umgehend beim Kabinenpersonal.“ Hoffentlich hat nicht nur Samsung, sondern die ganze Branche aus dieser brandgefährlichen Marketingkatastrophe etwas gelernt.

Thaddeus Herrmann

The Night of

In der HBO-Miniserie The Night of wird das Fernsehen mit Sicherheit nicht neu erfunden, doch dies war auch nicht die Intention von Richard Price (Night and the City, Clockers) und Steven Zaillian (Schindler’s List, American Gangster). Die beiden Autoren zeichnen ein zynisches Bild des US-amerikanischen Justizsystems, in dem es deutlich mehr um Effizienz und Rentabilität als um Recht und Unrecht zu gehen scheint. Das von Toni-Soprano-Darsteller James Galdofini vor seinem überraschenden Tod im Jahre 2013 ins Leben gerufene Projekt besticht nicht nur durch eine grandiose Bildgestaltung, für die größtenteils die beiden Star-Kameramänner Frederick Elmes und Robert Elswit verantwortlich sind, sondern punktet außerdem durch großartige schauspielerische Leistungen, wie man sie in dieser Qualität im Fernsehbereich nur selten zu sehen bekommt. Riz Ahmed stellt als der scheinbar unschuldig im Hochsicherheitsgefängnis Rikers Island sitzende pakistanisch-amerikanische Student Nasir Khan eindrücklich unter Beweis, warum Großproduktionen wie Rogue One und Jason Bourne ihm die Tür einrennen und John Turturro zeigt in der eigentlich für Gandolfini gedachten Rolle als der von einer tückischen Hautkrankheit heimgesuchte Winkeladvokat John Stone sein ganzes Können. Absoluter Höhepunkt ist jedoch eine Szene in Folge sieben, in der die von der wunderbaren Jeannie Berlin gespielte Staatsanwältin sich mit dem Pathologen Dr. Katz (Chip Zien) ein faszinierendes Rededuell liefert. The Night of ist genau wie die besten Clint-Eastwood-Filme: unaufdringlich, klassisch, nur auf das absolut Wesentliche bedacht und dabei einfach unglaublich gut.

Tim Schenkl

The West Wing

Wer wissen will, wie Politik in den USA funktioniert, warum das Land auf der Stelle tritt, muss „The West Wing“ schauen. Predige ich seit Jahren. Die Serie von Aaron Sorkin, die von 1999 bis 2006 ausgestrahlt wurde, gibt nicht nur einen – zugegeben sehr gut gescripteten – Einblick in das „Prinzip Weißes Haus“, sondern zeigt immer wieder, wie das komplexe Mehrheiten-Verhältnis, das Blockieren von Entscheidungen, das Verwässern von Versprechen, das Zurückrudern faktisch funktionieren. Demokratie ist kompliziert. Und kann manchmal richtig scheiße sein. Vor allem dann, wenn’s schief geht, so wie aktuell in den USA. Es gibt zwei Episoden, die ersten beiden der 5. Staffel, da walzt John Goodman als „Präsident auf Zeit“ in das Oval Office. Er spielt Glen Allen Walken, einen erzkonservativen Republikaner und Sprecher des Repräsentantenhauses. Die Tochter des amtierenden Präsidenten Josiah Bartlet (Martin Sheen) ist entführt worden und er beruft sich auf das 25th amendment. In diesen zwei Folgen, also in knapp 90 Minuten, weht ein anderer Wind durch das demokratische White House. Goodman nimmt Trump (siehe Trump sieht scheiße aus) vorweg, ohne es zu wissen, wissen zu können. Ungestüm, zickig, rücksichtslos. Man hätte es ahnen und verhindern müssen. „You’re relieved, Mr. President.“ Könnte man das doch nur schon heute Herrn Trump zurufen.

Thaddeus Herrmann

Hängengeblieben 2016 - Illustration Trump

Illustration: Kristina Wedel

Trump sieht scheiße aus

Trump. Eines DER Themen des Jahres 2016. Hängt uns allen wohl langsam aber sicher zum Halse raus. Mir zumindest. Langsam kriecht man hierzulande wieder aus seiner Schockstarre und merkt, dass sich der eigene und der allgemeine Kosmos weiterdrehen. Und mit etwas Abstand hat man auch mal Zeit, sich den kleinen Nebeneffekten des Trump-Triumphes zu widmen und etwas ins Sinnieren zu geraten. Einen Tag nach Amerikas Wahlen war ich im Comic-Laden in der Oranienstraße stöbern. Das erste, was ich sah, als ich in meiner Independent-Verlag-Lieblings-Ecke ankam: groß aufgebahrt, sich anbiedernd – einen Trump-Comic. Vielen Dank auch, schön Salz in die frische Wunde. Die ersehnte Zuflucht vor der Realität fand ich hier also nicht. Mein zweiter Gedanke war nicht mehr ganz so egoistisch. Die Anpreisung des Buches mit seiner aufdringlichen Trump-Karikatur auf dem Cover war eigentlich eine ganz pragmatische und irgendwie sogar eine etwas Trost spendende Metapher: Lasst uns das Beste draus machen. Wenn wir nun schon dem Dumb Trump dabei zuschauen müssen, wie er Amerika wieder groß macht, ziehen wir wenigstens unseren Nutzen daraus und verkaufen sein Gesicht auf unseren Büchern. Machen wir aus der Scheiße Geld. In Wahrheit hat ja alles irgendwie ineinander gegriffen. Dass die USA aus einem Wahlkampf immer einen wahnsinnigen Kultkarneval machen, mit sämtlichen Werbematerialien von Tassen über Spiele bis hin zu den beliebten kleinen süßen Miniatur-Figuren, die man sich dann ins Wohnzimmer stellt (… äh wirklich?), ist nichts Neues. Man erinnere sich an den so wahnsinnig sympathischen, endlich mal gut aussehenden Präsidentschaftskandidaten Barack. Da hat es sicherlich gleich viel mehr Spaß gemacht, sich Merch zu kaufen. Als Hoffnungsträger wird sein Gesicht zum Verkaufsschlager. Diesmal ist es das Gegenteil, was die Kassen klingeln lässt: Trump sieht scheiße aus. Seine Haut ist orange, sein Haar eine gelbe Katastrophe. Sein Name eine phonetische Spielwiese für Metaphern und Parabeln. Für seine Persönlichkeit fangen wir erst gar nicht an, Worte zu finden. Die perfekte Ausgangssituation für einen Markt auf seine Kosten – oder kostenlose Werbung für ihn? Ich stelle hiermit die unbewiesene Behauptung auf, dass noch nie zuvor eine Person des öffentlichen Lebens innerhalb so kurzer Zeit so viele Cover geziert (Zierde muss ja nicht per se schön sein) hat, Grundlage für so viele Cartoons und Karikaturen war, so viele Wortspiele hervorgerufen hat, aus denen wiederum so viele Titel-Schlagzeilen wurden. Der Trump-Regen war und ist gefühlt endlos. Die Maschine spuckt endlos Geld aus. So haben wenigstens alle was davon. Auch seine härtesten Gegner.

Aber jetzt ist Zeit für was Neues. Es ist wie mit einem Witz, den man zu oft erzählt: Irgendwann ist er einfach nicht mehr lustig.

Kristina Wedel

Viv Albertine

Die frühere Sängerin und Gitarristin bei den Slits, Viv Albertine, hat ihre Memoiren verfasst. „Clothes, Clothes, Clothes. Music, Music, Music. Boys, Boys, Boys: A Memoir.“, so die Autobiografie im englischen Originaltitel, kam als „A Typical Girl“ dieses Jahr auf deutsch raus und es ist eines der besten Rockbücher aller Zeiten geworden. Nicht nur weil es witzig, einfühlsam und aufrüttelnd ist. Auch geht Viv Albertine mit sich selbst und ihren Erfahrungen ehrlich und schonungslos ins Gericht. Keine Selbstbeweihräucherung, keine Glorifizierung der Geburtsstunde des britischen Punks. So könnte es damals wirklich in London gewesen sein – mit Malcolm, Johnny, den Clashs und Vivienne. Am Ende ist es aber auch ein starkes feministisches Buch von einer willensstarken Frau, die ihre Größe auch durch das Offenbaren all ihres Scheiterns und ihrer Schwächen erlangt, ohne dabei auch nur eine Sekunde peinlich oder kokett zu sein. Im Zeitalter von sich selbst blendenden und dauererigierten Zampanos wie Putin, Assad, Duterte und Trump ein wichtiges Signal.

Ji-Hun Kim

Hängengeblieben 2016 Convextion Cover

Weltraum

Eines der schönsten Techno-Alben des Jahres war „2845“ von Convextion. Mit einer perfekten Proportion von Sci-Fi-Romantik und wissenschaftlicher Nüchternheit setzte es den Weltraum als Thema. Keine aufgesetzte Erzählung war notwendig, um diese endlosen Gedankenräume aufzumachen, die schon immer ein klassischer Soundtrack zur Realitätsflucht waren. 2016 wurde der Retrofuturismus allerdings real: Ein neues Space Age ist angebrochen, in dem wieder ernsthaft nach den Sternen gegriffen wird. Das Album deutet diese Parallelen an: Die Cover-Malerei von David A. Hardy trägt den Titel „Arrival At A Gas Giant“ und der epische erste Track heißt „New Horizon“. New Horizons wurde auch die Raumsonde der NASA getauft, die 2015 an den Rand unseres Sonnensystems flog und zum ersten Mal hochauflösende Bilder von Pluto zur Erde funkte. Die zweite außerirdische Voyeurs-Sonde des NASA-Programms „New Frontiers“ namens Juno klinkte sich 2016 in die Umlaufbahn des Gasriesen Jupiter ein. Bis auf das archaische Star-Wars-Raumschiff ist das Cover von „2845“ also eigentlich eine präzise Darstellung aktueller Geschehnisse. Und 2016 passierte noch viel mehr: Der erdnächste erdähnliche Exo-Planet in einer habitablen Zone wurde entdeckt, China und Indien rüsten wie nie zuvor ihre Raumfahrtprogramme auf, wollen zum Mond und weiter, luxemburgische Firmen planen den Abbau von Rohstoffen auf Asteroiden, Elon Musk will mit SpaceX ab 2018 die Kolonisierung des Mars vorbereiten und selbst Barack Obama verkündete, dass die NASA in den 2030er-Jahren Menschen auf den Mars schicken will. Es geht wieder nach vorne, nach oben. Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht? Bemannte Mars-Missionen sind abgemachte Sache wie die Mondlandung in den 1960ern. Kritische Stimmen fragen nach dem „Warum“: Warum will Musk eine Kolonie auf einem unwirtlichen Wüstenplaneten gründen? Was nutzen die kostspieligen Abenteuer? Gibt es glamourösere Gründe als wirtschaftliche Interessen? Wird man weltbewegende Erkenntnisse gewinnen, die nicht nur das Fachpublikum jubeln lassen? Hoffentlich. Die Vorbereitungen laufen, und egal, was wird: Die Realität ist im Moment spannender als jeder Kinofilm. Für Wissenschafts-Fans, aber auch für notorische Träumer.

Michael Döringer

Young Death

Dass bald Weihnachten ist, merkt man ja unter anderem auch daran, dass es eine neue Platte von Burial gibt. Früher machten immerhin noch George Michael, Rick Astley oder Erasure die seasonal records. Burial ist der neue Aphex Twin. Denkt, er kann sich alles erlauben. Seine neue Single „Young Death“ ist ein abgehalftertes Afterhour-Musical ohne Handlung, bewusst digital zerstört mit schlechten Vocals und den immer gleichen Tricks, die niemand mehr lustig findet, geschweige denn inspirierend. Nach dem Zufallsprinzip zusammengeklickte Langeweile, ungefähr so deep wie eine Sahara-Pfütze im Hochsommer. Wo sind die neuen Helden?

Thaddeus Herrmann

Hängengeblieben 2016 Young Thug

Young Thug

Anfangs dachte man noch Young Thug könnte so etwas wie der „neue“ Lil Wayne werden. Auch wenn solche Vergleiche im Detail grundsätzlich scheitern, der Künstler hat mit dem Albumtitel „Barter 6“ in Anlehnung an Lil Waynes „Tha Carter“-Reihe letztes Jahr selbst dafür gesorgt. Mittlerweile ist klar: Lil Wayne ist Lil Wayne, Young Thug ist Young Thug und deren Schattenwurf alles andere als kongruent. Jeffery Williams, wie der Rapper bürgerlich heißt, hat unausgesprochene Normative und etablierte Narrative des (US-)HipHop in mehrfacher Hinsicht auf den Kopf gestellt. Flow, Geschlecht, Perspektive, Emotionen sind für Young Thug eine fast fluide, formbare Masse, in der es sich künstlerisch auszuleben gilt. Die tragenden, inhaltlichen Säulen auf die andere Rapper mitunter ganze Karriere stellen, sind für Young Thug nur Knetgummi, lassen sich immer wieder und in jede Richtung verbiegen. Genau wie Worte. Denn während die einen den Künstler aus Atlanta längst für seine Androgynität, seine Wechselhaftigkeit, seinen (Mode-)Stil, seinen Performance-Tanz entgegen aller HipHop-Regeln, seine einzigartigen Flow-Strukturen und -Sprünge längst feiern, versuchen die anderen immer noch seine Texte zu verstehen. Könnte schwierig werden. Für Young Thug (oder auch Future) wird nicht nur Stimme, sondern Flow selbst zum Instrument, zu Rhythmus und Melodie, zum Vermittler von Inhalten und Stimmungen, der nicht in den Grenzen von Grammatik und Wörterbüchern funktioniert. Es ist schon jetzt überdeutlich, dass HipHop für Young Thug nicht mehr als eins von vielen Mitteln künstlerischen Ausdrucks ist, das nach Belieben und entgegen jeder Regeln umgebaut und einfach „benutzt“ werden kann. „No My Name is Jeffery“ – Wir werden es uns merken.

Benedikt Bentler

Zuhause bleiben

Anfang des Jahrtausends, kurz nach 9/11, gab es einen Trend und der nannte sich Cocooning. Aufgrund eingebildeter Sicherheitsdefizite es sich zuhause schön machen, einlullen, den inneren Winterschlafbär rauslassen mit Grüntee und Haferkeksen. Daheim ist halt sicher. Sagt auch die Polizei. Auch dieses Jahr wurden Anschläge von allen möglichen Orten publik: Restaurants in Bangladesch, Kunstausstellungen in Ankara, Clubs in Orlando, Fußballplätze im Irak, Strandpromenaden in Frankreich und und und. Was also tun? Was viele plötzlich machen: Designer-Duftkerzen sammeln, Ottolenghi-Kochbücher abonnieren, um Londoner Gastroerlebnisse daheim zu imitieren, Boiler Room gucken, statt in den Club zu gehen, Netflix bingen, bis der Arsch so breit ist wie der eigene Flatscreen und täglich so oft Amazon-Pakete annehmen wie man sonst auf die Toilette zu gehen pflegte. Livestreaming, ob mit Snapchat, Facebook, YouTube oder Periscope ist das neue vor die Tür gehen. Wenn selbst die Partydrogen per Post aus dem Darkweb kommen … Cocooning ist 2016 ziemlich komfortabel geworden und auch 2017 wird das Image des Draußens weiterhin seine Probleme haben. Zu oft hat man die letzten Jahre gedacht: Das nächste Jahr wird besser – was leider nicht stimmte. Die eigenen vier Wände werden auch mit diesem veränderten Kontext neu gedacht und konzipiert. Vom voll digitalisierten und transparenten Smart Home mit Dauerüberwachung bis hin zum Zombie-sicheren Atombunker mit Nahrungsvorräten für Monate, anything goes. Und die Varianten werden immer vielfältiger. Wie in Zukunft Zuhause definiert werden wird? Man weiß es nicht. Die große Neudefinition ist aber ohne Frage voll im Gange.

Ji-Hun Kim

Hängengeblieben 2016 Weihnachtskarte

Fragmente einer GroßstadtLasst uns froh und milde sein

Feuer aus der Kirschkernkanone!Advertorial: Beefense – Bienen und Hornissen statt Orks, Elfen oder Siedler