Hängengeblieben 2024Unser großer Jahresrückblick

Hängengeblieben 2024

Schon wieder ein Jahr vorbei, das an Höhepunkten, Tiefpunkten, Skandalen und Überraschungen alles andere als arm war. Auch diesmal gibt es unseren Hängengeblieben-Jahresrückblick –ultimativ subjektiv und mit allerhand handverlesenen Themen abseits des Mainstreams.

35.000 Euro

Mit einem riesigen Gezeter und „ihr verdammten Wichser“ stürmte Autor Clemens Meyer aus dem Saal, als er im Oktober erfuhr, dass er nicht den Deutschen Buchpreis gewinnen würde und stattdessen Martina Hefter für ihr Werk „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ Meyer hatte sich mit seinem 1.050 Seiten dicken Buch „Die Projektoren“ gute Chancen ausgerechnet. Im Interview erklärte er später, dass er es auf das Preisgeld abgesehen hatte. „Dann hätte ich 100.000 neue Leser und könnte meine Schulden bezahlen“, und später, „Ich muss eine Scheidung finanzieren und habe 35.000 Euro Steuerschulden angehäuft.“ Dabei hatte Meyer in seiner Laufbahn schon einige Literaturpreise abgeräumt, auch den Bayerischen Buchpreis einen Monat später sollte er gewinnen. Aber ein so schlechter Verlierer zu sein, und das wegen schlechten Finanzmanagements durch eigenes Unvermögen – bei einem Mann hätte er das nicht gewagt. Darauf wette ich 35.000 Euro.

Ji-Hun Kim

clemens meyer 35k

„Denken an 35.000 Euro“ – 1.000x1.440 Pixel (2024)

Alte Helden

Hängengeblieben 2024 The Cassandra Complex

Foto: Thaddeus Herrmann

2024 war das „Lass mal hingehen, wer weiß, ob die nochmal kommen“-Jahr. Ich rede über Musik und Konzerte, und tatsächlich war das vergangene Jahr eine gute Gelegenheit, ein paar Influencer:innen meiner prägenden Phase nach langer Pause wieder auf der Bühne zu sehen. Slowdive zum Beispiel, die gleich im Januar in einem unverschämt überausverkauften Setting spielten. The Tindersticks, die wohl nie aufhören werden, Platten zu veröffentlichen und zu touren, und im Herbst 24 im Theater des Westens in Berlin gastierten. Schwacher Gig, blöde Location. Auch wenn ich das Setting nicht mochte, es war schön, die Band mal wieder live zu sehen – mein zweites Mal überhaupt, nach einem Konzert in der 1990ern bei einem „Upstairs in a Pub“-Gig in London. Damals war das zweite Album der Band, gerade erschienen, und ich als Fan schaute mir das an und dachte: Der Stuart Staples, der macht es nicht mehr lange. So druff, so drüber. Ging anders aus, zum Glück. Nick Cave & The Bad Seeds war beeindruckend. Cave spielte die feindliche Atmosphäre der O2-Arena, pardon, Mercedes-Benz-Arena, pardon – Motherfucker – Uber-Arena perfekt weg. Das schönste Rendezvous war aber das Konzert von The Cassandra Complex, im Dezember in Urban Spree in Berlin. Es gibt kaum eine Band, die ich öfter live erlebt habe. Aber das ist lange her. Erkenntnis: Funktioniert immer noch. Fantastisch, großartig und immer noch edgy deep.

Thaddeus Herrmann

A Quarterly Update On Sadness

Kurz vor Jahresende erreicht noch eine neue Platte meines alten Freundes Andrew die Öffentlichkeit. Ab und zu veröffentlicht er Musik als A New Line (Related), die ich immer sehr mag. Glaubt man seinen Postings auf den Socials, die ich immer noch als Gedichtsammlung in Buchform veröffentlichen möchte, mag ich seine Musik sogar lieber als er selbst. Aber das ist hoffentlich nur nordenglisches Understatement. Anyway. „A Quarterly Update On Sadness“ scheinwerfert in eine musikalische Richtung, die ich 2024 kaum selbst beleuchtet habe: das Oldschoolig-Abstrakte und Minimal-Elektronische, in bester Tradition der seltenen und umso legendärerer gemeinsamen Betriebsausflüge der Transatlantiker .snd, Atkins, Craig und Ollivierra. Die acht Tracks fluffen und schweben, hakeln und straucheln, wie es sich für Second-Hand-Deepness geziemt. Eine gute Gelegenheit, um das Gefühl für Weite wiederzuerlangen. So wie neulich, als Shirley in der TV-Serie „Silo“ fragte: „What would you want to see?“ und Knox antwortete: „The distance.“ Die Platte ist auf dem feinen Athener Label Sound In Silence erschienen.

Thaddeus Herrmann

Auto

Die Geschichte des Autos ist zu Ende erzählt. Das mag viele mit Sicherheit freuen und zurecht lässt sich darüber diskutieren, ob und wie zeitgemäß Autos sind – vor allem in der aktuellen Ausprägung als SUV-Panzer, die in der Stadt für Unsicherheit und Probleme sorgen. Aber, das Auto ist und war auch popkulturell von großer Bedeutung. Nicht nur im Film und Fernsehen mit Herbie, James Deans Porsche, Magnums Ferrari, Dudu, KITT, dem DeLorean von Marty McFly oder den Autos von James Bond. Auch war das Auto für junge Menschen ein Ort der Musik und der Adoleszenz. Liebevoll erstellte Mixtapes, die auf langen Reisen gehört wurden. Jungs, die ihre Golfs in rollende Subwoofer-Techno-Clubs ummodelten. Autos sind und waren auch Teil der Emanzipation in der noch frischen Freiheit, die es auszukosten und zu erfahren galt. Viele Dinge, die man im Auto macht, macht man eben nicht in der U-Bahn. In der Zukunft werden Autos aus China den Markt dominieren. Marken wie BYD, Nio und Xiaomi verblüffen mit günstigen Preisen und verrückten Features. Das, was Tesla die Jahre zuvor machte und Elon Musk zum Superhelden der Tech-Welt machte. In den USA kleben viele Tesla-Fahrer nun Musk-kritische Sticker auf die Kofferraumklappe, um sich von seiner politischen Vom-Paulus-zum-Saulus-Wandlung des letzten Jahres zu distanzieren. Aber auch die großen Marken in Europa haben völlig verlernt, mit Autos schöne und beeindruckende Geschichten zu erzählen. Die neue S-Klasse von Mercedes hat die Innenraumqualität eines Ein-Euro-Ladens. Ferraris neu angekündigter Flaggschiff-Supersportwagen, der F80, sieht aus, als hätte ihn ein Fünfjähriger auf Crack gezeichnet, war der Vorgänger La Ferrari noch ein skulpturales und technisches Meisterwerk. Auch die einzig wahre Autosendung „Grand Tour“ strahlte dieses Jahr ihre letzte Sendung aus. Es war fast rührend, den alten Männern Jeremy Clarkson, James May und Richard Hammond dabei zuzusehen, wie auch sie gemeinsam feststellen, dass die Zeit der großen Automobiltät ein für alle mal vorbei ist. Auch das Mammut-Hollywood-Franchise „Fast and Furious“ macht Schluss. Derzeit wird der elfte und allerletzte Teil produziert, der 2025 in die Kinos kommen soll. Danach wird auch das erfolgreiche Proleten-Epos eingestellt. Das kann man unter Umständen noch verschmerzen. Aber wird es noch Roadmovies geben? und wenn, wie sehen diese aus? Viele große Pop-Hits der Vergangenheit werden in Zukunft so auch nicht mehr geschrieben: „Baby, you can drive my car“, „Driving home for Christmas“, „Autobahn“, „Little Red Corvette“, „Blinding Lights“. Autos mussten nicht, aber konnten Kunstwerke sein. Das gilt für Bücher, Bilder und Musik genau so. Sich davon zu verabschieden, ist, dafür möge man mich steinigen, schon ein bisschen traurig.

Ji-Hun Kim

Business Cringe Generator

Dieser Bot für ChatGPT hat mir dieses Jahr ein paar heitere Stunden beschert: Er macht aus jedem, wirklich jedem Thema – Käsebrot, Parkverbot, Hundekacke, Wolke am Himmel – einen Beitrag für LinkedIn und was man von diesen Dingen für Leadership, New Work und Co. lernen kann. Herrlich.

Jan-Peter Wulf

Carolabrücke

carola

Ich war am Morgen nach dem Einsturz zufällig vor Ort und so sprachlos wie sämtliche Dresdner, die um mich herum standen. Mittlerweile ist bekannt: Die Brücke ist so kaputt, dass sie komplett abgetragen werden muss. Deutschlandweit gelten, je nach Quelle, 8.000 bis 16.000 Brücken als dringend sanierungsbedürftig, und die Carolabrücke war noch nicht mal eine von diesen.

Jan-Peter Wulf

Clubkultur

Es war 2024 nicht gut um die Clubkultur bestellt. Vielleicht ist das aber auch gar nicht so schlimm, wenn Vielfalt und Zusammenhalt genau dann zusammenbrechen, wenn das Bier für viele zu teuer wird. Dass es auch anders geht – back to basics –, erlebte ich im Frühjahr. Ich besuchte aus familiären Gründen die griechische Kleinstadt Alexandreia. Was ist nicht wusste: Das Örtchen war in den 1990ern ein Hotspot der Clubkultur. Kaum vorstellbar, aber Nachtmenschen aus Thessaloniki fuhren oft und gerne die 50 Kilometer gen Westen, um hier auszugehen. Heute ist davon nichts mehr übrig. Oder kaum noch etwas. DJ Pistikas bespielt seine Homebase noch immer mit Vinyl – im Café Neon. Diesen Ort stellt man sich am besten als einigermaßen runtergerockte Indie-Kneipe vor, wo man auch tagsüber einkehren kann. Das Bier ist preiswert, die Klos amtlich im Eimer, das Personal freundlich, und abends wird auch drinnen geraucht. Wenn Pistikas spielt, kommen so rund 100 Menschen. Menschen, die in den 1990ern und Nuller-Jahren ordentlich dabei waren, alles mitgenommen haben, was mitzunehmen war, heute aber Familie haben, früh raus müssen und so eine Nacht auch nicht einfach mehr so wegstecken. Mir taugte dieser Abend. Auch wenn Pistikas meinen Geschmack der elektronischen Musik nicht wirklich getroffen hat: Seine Leidenschaft war mitreißend. Ein großer Abend ohne Attitude, Türsteher:innen und Bullshit.

Thaddeus Herrmann

Hängengeblieben 2024 - Clubkultur

Foto: Thaddeus Herrmann

coolcation

Coolcation

Statt bei 40 Grad aufwärts nicht mehr machen zu können, als regungslos unter einem Strandschirm auf der Matte zu liegen, lieber bei moderaten 24 Grad, vielleicht regnet es auch mal ein bisschen, in Bewegung bleiben? Wer sich Letzteres besser für seinen Urlaub vorstellen kann, surft auf der Coolcation-Welle. Aus mitteleuropäischer Perspektive bieten sich an: Skandinavien, Osteuropa, speziell das Baltikum, der Norden der Britischen Inseln oder auch die Niederlande. Dank Klimakrise wird Coolcation sicher bald Mainstream sei. Und das Schwitzen auf den Balearen wieder cool? Ich denke nicht so.

Jan-Peter Wulf

Dönerflation

Politiker:innen geben sich gerne volksnah. Eine willkommene Strategie dabei: Dem Volk ins Maul schauen. Von Barack Obama existieren mehrere Videos, in denen er scheinbar spontan Washingtoner Burgerläden besucht, um seine Mitarbeitenden mit Take-Away-Cheeseburgern zu versorgen. Donald Trump ließ sich bekanntermaßen bereits 2019 in seiner unnachahmlichen Art und Weise im Weißen Haus zwischen goldenen Kerzenleuchtern und Silbertabletts voll mit Fast-Food-Hamburgern fotografieren. Auch in diesem Jahr wurde sein Wahlkampf wieder mit Frittenfett geschmiert, als er in einem jämmerlichen Versuch, seine Nähe zur Working Class zu demonstrieren, für einige Minuten bei McDonalds Pommes in Papiertüten füllte und an Kund:innen verteilte.
Von Angela Merkel ist nicht bekannt, ob sie ihren Döner mit Knoblauch- oder Kräutersoße bestellt, ihr Besuch im Weddinger Urgestein der Döner-Restaurants Pamfilya wurde hingegen fotografisch dokumentiert.

doen doen

Ein veganer Döner mit Ayran aus Hafermilch.

Was die Dönerpreise betrifft, wünschten sich 2024 viele Menschen in Deutschland die „guten, alten Merkel-Zeiten“ zurück. Während der 29 € Döner im Hotel Adlon vor Kurzem noch Kopfschütteln auslöste, sind Preise zwischen 8 und 10 € mittlerweile Standard geworden. Die Partei Die Linke zog als Gegenmaßnahme eine Dönerpreisbremse in Erwägung, und die SPD und Kevin Kühnert planten, den Preis für einen Kebab auf 3 Euro abzusenken. Die hohen Preise taten der Beliebtheit des Döners in Deutschland 2024 jedoch anscheinend keinen Abbruch. Auf TikTok und bei YouTube tummeln sich mittlerweile unzählige Döner-Expert:innen, welche die ganze Republik bereisen, um den Bonner Steak Döner oder den neuen Frankfurter Bio-Döner mit Dry-Aged-Fleisch zu testen. Auch horizontal aufgehängte Dönerspieße über Holzkohle, Hatay und Yaprak Döner sind mittlerweile häufig zu finden. Die steigenden Preise brachten daher zumindest eine deutlich größere Auswahl sowie eine Abkehr vom gewöhnlichen Pressfleisch-Döner mit sich. Immerhin! Es wird spannend zu sehen, mit welcher Döner-Variation Habeck, Scholz, Merk und Co. sich im kommenden Wahlkampf in Pose werfen werden.

Tim Schenkl

Entertainment Made by North Korea (Paper Will)

Ich habe in diesem Jahr viel über Politik gelernt, weil ich mich mit Kulturgeschichte auseinandergesetzt habe. Bücher wie Sonja Vogels „Turbofolk: Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens“ und Matthew Collins „This Is Serbia Calling: Rock 'N' Roll Radio and Belgrade's Undergound Resistance“ haben mir ein Verständnis von Jugoslawien und insbesondere Serbien nach dem Fall der Republik vermittelt, das ich nicht einfach so aus Geschichtsbüchern hätte ziehen können – obwohl ich Marie-Janine Calic' „Geschichte Jugoslawiens“ zum Überblick ebenfalls empfehlen würde.

„Entertainment Made by North Korea“ vom YouTuber Paper Will gelingt sicherlich auch deshalb eine definitive Geschichtsschreibung (geo-)politischer und ökonomischer Paradigmenwechsel in diesem Land, weil alle Kulturproduktion dort noch maßgeblicher von Politik und Wirtschaft abhängt als anderswo – ist doch der Staat der einzige Produzent. Das macht dieses fünfeinhalbstündige Video aber keinen Deut weniger eindrücklich. Drei, vier Tage meines Lebens habe ich mich tagsüber darauf gefreut, abends noch ein bisschen weiterzuschauen, mehr über die Geschichte, Politik und Wirtschaft dieses Landes anhand von vor allem Filmen und Serien zu lernen. Und ein bisschen wünsche ich mir, dass die ungeschnittene Version noch erscheint: Laut Paper Will war dieses extrem fachkundige, witzige und nuancierte Video ursprünglich gut neun Stunden lang. Stoff genug schien da zu sein.

Kristoffer Cornils

entwirf

Entwirf, es heißt entwirf!

Du produzierst eine große Kampagne mit Alek Wek, fliegst mit dem Set irgendwohin, endlich passt das Licht, die Bilder sehen gut aus und am Ende checkt niemand, ob der Imperativ richtig übersetzt worden ist. Schade Schokolade!

Jan-Peter Wulf

Fraternité

Wenn Eva Illouz am Ende des TV-Gesprächs über Politik-Marketing ein Plädoyer für Brüderlichkeit hält (und natürlich beinhaltet dieser Begriff bei ihr alles, was er zu Zeiten der französischen Revolution nicht tat), ist das ein großer Moment. „Die Tatsache, dass ich mich einem anderen Menschen nahe fühlen kann, ohne diese Person zu kennen, auch wenn es ein Fremder ist, dass ich mich diesem Menschen und seinem Leben verpflichtet fühle. Ich glaube, dass man keine Demokratie haben kann, ohne dieses Gefühl der Brüderlichkeit zu kultivieren.“

Jan-Peter Wulf

Fußball-EM

Die Fußball-EM in Deutschland wirkt schon wieder so, als wäre sie zwei Jahre her. Es war dennoch ein gutes Turnier, ohne allzu viel politisches Geplänkel auf Nebenschauplätzen. Gut, das pinke – das gar nicht pink ist – Auswärtstrikot der Nationalmannschaft vielleicht. Sahen doch AfD und andere Konservative darin wieder so etwas wie eine Welt-Invasion der woken LGBTIQ+-Community, die nach meinem Kenntnisstand niemand geplant hat und auch nicht planen wird. Mein persönliches Highlight war Kylian Mbappé. Gar nicht so sehr wegen seiner fußballerischen Talente, die er zweifelsohne hat. Nach seinem Nasenbruch musste er bekanntlich eine Carbon-Maske tragen, um seinen Zinken vor weiteren Kollisionen zu schützen. Als in der Vorberichterstattung der Real-Stürmer mit Maske abgebildet wurde, rief unser zweijähriges Kind: „Guck mal, ein Panda!“ Ich finde das bis heute ziemlich komisch, und da sage einer noch, dass Kleinkinder keinen Humor hätten.

Ji-Hun Kim

Genossenschaften

In den vergangenen Jahren jagte ein Tech-Hype-Cycle den nächsten und obwohl sich entweder keine Anwendungsmöglichkeiten (NFTs, anyone?), Monetarisierungsmodelle (KI, anyone?) oder beides (Metaversum, anyone?) finden ließen respektive sich recht schnell zeigte, dass auch kleinere wirtschaftliche Ökosysteme an denselben Problem kranken wie die großen (Superfans/Creator Economy, anyone?), mehrte sich das, was ich messianistischen Solutionismus oder meinetwegen finanzkapitalistischen Tech-Fatalismus nennen möchte: Jedes angeblich neue Modell wird dermaßen hochgejazzt, dass die Investitionsrunden und/oder Börsenkurse immer höher gehen, was dann als Beweis für eine selbsterfüllende Prophezeiung inszeniert wird. Schaut, OpenAI mag in diesem Jahr zwar 5 Milliarden US-Dollar verbrennen, aber mit 6,6 Milliarden Investitionsgeldern und obendrein einer Bewertung von 157 Milliarden wird schon noch ein Schuh draus weilwegen ist halt so und wer jetzt nun KI verschläft, wird in der Zukunft ein unbequemes Erwachen erleben. Die für mich wirklich interessanten Modelle dieses Jahres waren hingegen in ihrem Prinzip uralt und haben sich am Markt bewiesen. Wie der Holzmarkt 25 und natürlich zig Wohnungsbaugenossenschaften versuchte das Vollgutlager, kollektiven Besitz und Teilhabe miteinander zu verschränken, um den Neuköllner Rollbergkiez nicht dem Risikokapital zu überlassen. Nachdem zuletzt ähnliche Versuche online scheiterten (die Streaming-Plattform Resonate liegt auf Eis, der Patreon-Knock-off Ampled schloss Ende letzten Jahres), gingen zuletzt mit Jam und Mirlo sowie laut Plan nächstes Jahr mit Subvert gleich drei neue Marketplaces für digitale Musik online, die sich hinter den Kulissen auf verschiedene Arten genossenschaftlich organisiert haben oder das tun wollen. In einem zunehmend konsolidierten Markt für die Verwertung von Musikaufnahmen setzt das einen wichtigen Akzent, weil solche Plattformen die Unabhängigkeit vom großen Geld versprechen, die die Indie-Welt heutzutage nur noch im Namen trägt. Es wäre nun mindestens ironisch, dieses eine unter anderen Prinzipien als die alleinige Lösung einer komplexen Gemengelage von Problemen anzupreisen, aber ich zumindest fand selten eine Organisation und Plattform wie Mirlo dermaßen vielversprechend und sympathisch. Und hey, open source ist die Sache obendrein. Also, wie wäre es, die Zukunft mal mit den Erfahrungswerten aus der Vergangenheit und den Mitteln der Gegenwart anzugehen, statt nur zu hypen?

Kristoffer Cornils

gutes geld

Gutes Geld

Mein Sachbuch des Jahres kommt von Philippa Sigl-Glöckner. Darin nimmt die Ökonomin, die schon das Finanzministerium von Liberia wie das hiesige beraten hat und eine progressive Denkfabrik gelauncht hat, die deutsche Finanzpolitik auseinander. Und zwar so, dass man es als makroökonomisch unbeschlagener Laie versteht, dass die Schuldenbremse wie Prozentzahlen, welche (Neu-)Verschuldung duldbar ist, willkürlich bis absurd sind, aber unseren Blick auf den Sachverhalt determinieren. Was es braucht, damit Finanzpolitik von einer Geißel zu einem Instrument für eine gerechtere Gesellschaft wird, legt sie en detail dar. Ich habe es zweimal gelesen, aber was ich nur so halb mit dem Buch zusammen kriege: Die Autorin zieht jetzt für die SPD in den Wahlkampf, und ist private Partnerin des Kanzleramtsministers Wolfgang Schmidt (der wiederum rechte Hand des noch aktuellen Kanzlers). None of my business, klar, aber lesen diese Menschen, denen sie so nahe zu stehen scheint, auch ihr Buch? Sollten sie.

Jan-Peter Wulf

Julian Assange

Kam 2024 frei. Er musste dafür seine Schuld eingestehen. Das ist für zukünftige Fälle nicht gut. Aber ich kann es ihm wahrlich nicht übel nehmen. Diesem Menschen, ob man ihn nun mag oder nicht, wurde übel mitgespielt, seinerzeit nachgewiesen und dokumentiert vom UN-Sonderberichterstatter für Folter. Gut, dass es vorbei ist.

Jan-Peter Wulf

KI cover kirsten boie

KI-generierte Cover-Imitation von Kirsten Boies KI-Cover

KI-Illustration

2024 gab es gleich zweimal einen großen Social-Media-Aufschrei, als zum einen die Stiftung Lesen KI-generierte Illustrationen für eine Kampagne nutzte und zum anderen als die Kinderbuch-Autorin Kirsten Boie ein mit Midjourney generiertes Buchcover für ihre Skogland-Reihe bei Oetinger verwendete. Verlag und Stiftung sahen sich heftiger Kritik ausgesetzt, vor allem Illustrator:innen machten auf Instagram mobil. Oetinger schließt als Reaktion nun die Nutzung generativer KIs aus. Die Vorfälle zeigen, dass es wirksam sein kann, sich zu wehren. Und klar, hier fürchtet eine Berufsgruppe um ihre Zukunft – denn Midjourney & Co. können mittlerweile wirklich erstaunliche Ergebnisse zaubern. Allerdings werden die Modelle mit urheberrechtlich geschützten Werken trainiert. Keine Künstler:in sah je einen Cent Entschädigung von den Tech-Firmen.

Als Illustratorin bin ich natürlich auch selbst betroffen, vermisse jedoch die Zwischentöne im Diskurs. Ich glaube, es war die Illustratorin Anne Wenkel, die in einer Instagram-Story sinngemäß fragte: Wir erwarten von Werks- und Bergbau-Arbeitern (und anderen Berufsgruppen), dass sie sich dem Wandel und der Automatisierung anpassen sollen und stellen uns selbst so quer? Ich wünsche mir, dass nicht mehr einzelne Personen in sozialen Netzwerken bloßgestellt werden für KI-Nutzung, sondern dass die Tech-Konzerne adressiert werden. Vielleicht braucht es eine KI-Steuer, unbedingt aber faire und gerechte Entlohnung von Künstler:innen, deren Werke zum Trainieren genutzt werden und sicherlich mehr Bildungsarbeit über den Wert kreativer Arbeit. Allerdings ist KI für mich als Illustratorin ein nützliches Tool zum Ideen testen und professionelle Bildbearbeitung ist dank der neuen Photoshop-Plugins ein Spaziergang geworden.

Susann Massute

Knocked Loose – Suffocate

Metal

Wenn man eine alte Jugendliebe wieder trifft, muss nicht gleich wieder das Feuer von damals entfacht werden. Eher ist das im seltensten Fall so. Man ist auf beiden Seiten nicht gut gealtert und so richtig viel zu erzählen hat man sich auch nicht mehr. Meine Jugend habe ich viel Zeit mit Hardcore und (New) Metal verbracht. In dem Alter braucht es das Ventil, das Riffen auf der E-Gitarre im Kinderzimmer, das mir zumindest zeigte, was für ein mächtiges, weil auch lautes Instrument das war. Zwar finde ich heute Moshpits so reizvoll wie eine Flasche Küstennebel auf Ex trinken. Dieses Jahr hat aber meine alte Liebe zu Metal wieder aufleben lassen. Zumal es keine alten Sachen sind, die mich begeistertn sondern neue Bands, beziehungsweise Bands, die ich in letzter Zeit erst neu entdeckte. Knocked Loose, Chat Pile, Infant Annhilator, Thrown und die von der Kritik gefeierten Blood Incantation bereiteten mir viele gute Momente. Metal hat sich in den letzten Jahren enorm weiter entwickelt und die über Jahre verhärteten Scheuklappen abgelegt. Einflüsse finden sich hier von überall. Ob Knocked Loose in „Suffocate“ den Break mit Reggaeton-Groove abreißen, Blood Incantation mit Tangerine Dream ins Studio gehen. Nicht zuletzt zeigt das Genre, dass die Gegenwart kein Zuckerschlecken ist. Wohin mit der ganzen Wut und dem Verdruss? Wieso nicht mit komplexer Musik und klugen Exzessen verarbeiten? Meine Gitarren-Skills waren immer zu schlecht für Metal. Aber das finde ich gut so, weil ich so in der Musik noch mehr als Fan aufgehen kann. Junge Künstlerinnen wie Julie Christmas und Genital Shame zeigen auch, dass die Zukunft der Musik vor allem auch von Frauen geprägt werden wird.

Ji-Hun Kim

filmstreifen kino

Foto von Anika De Klerk auf Unsplash

Mubi GO

Als Mubi irgendwann Mitte 2020 sein Angebot massiv erweiterte und damit vom Prinzip der 30-tägigen Rotation absah, war ich bereits ein paar Monate lang Abonnent und irgendwie nicht erfreut. Klar, mehr Auswahl und dauerhaft oder zumindest wesentlich länger erhältliche Klassiker der Filmgeschichte, das war alles schön und gut. Nur habe ich Mubi auch deshalb gewertschätzt, weil die Plattform mich quasi dazu zwang, mich mit Filmen auseinanderzusetzen, die ich sonst nie gesehen hätte, statt nur das zu schauen, was mir ad hoc irgendwie interessant vorkam. Als ich Anfang des Jahres mit einer Freundin zusammen ein Mubi-GO-Abo abschloss, fühlte sich das dementsprechend wie eine Rückeroberung des ursprünglichen Mubi-Feelings an. Ich habe mir dank des Programms, das Abonnent:innen in mittlerweile fünf deutschen Städten pro Woche einen Film in ausgewählten Kinos quasi-umsonst anschauen lässt, viel Unsinn geguckt. Dumme Biopics zu Priscilla Presley und Amy Winehouse, grottenschlechte Horror-Streifen wie „Longlegs“, „Cuckoo“ und „The Substance“ und so weiter, und so fort. Aber ich hatte mit „Los Colonos“ auch die intensivste Kinoerfahrung meines Lebens, nach „Zone of Interest“ ein paar aufrührende Diskussionen, mit „La Chimera“ Arthouse-Momente im größeren Stil, und selten habe ich so sehr gelacht wie bei „Anora“. Nicht zuletzt hatte ich in dieser kalenderkranken Stadt irgendwie immer einen gemeinsamen wöchentlichen Termin mit ein, zwei, drei guten Menschen, an dem wir uns mit dem Unbekannten auseinandergesetzt haben. Das wiegt auf der Kosten-/Nutzenrechnung zum Jahresende doch mehr als sich durch gleich zwei furchtbare Lanthimos-Schinken gequält zu haben.

Kristoffer Cornils

NotLikeUS

In der Kategorie Rap Artist bei Spotify landete Kendrick Lamar 2024 auf Platz 5. Den ersten Platz belegte wie auch in den Jahren zuvor der Kanadier Drake. Der MC aus Compton war sich vermutlich bewusst, dass er sich einen schier übermächtigen Gegner ausgesucht hatte, als er Drake im März auf Futures Track „Like That“ disste und den No.1-Spot im Rap Business für sich beanspruchte. Lamar war sich jedoch sicher, die wahren HipHop-Heads und Wächter der Kultur hinter sich zu wissen, welche Drake unter anderem aufgrund seiner kanadischen Herkunft, seinem Einsatz von Ghostwritern und seiner Vergangenheit als Teennie-Star die Kredibilität absprachen. Außerdem war es 2018 mit Pusha-T bereits einem deutlich weniger bekannten Rapper gelungen, Drake mit einem Disstrack zumindest kurzzeitig in die Knie zu zwingen.

Was folgte war eine Armada an Diss-Songs, die teilweise mit einem Abstand von nur wenigen Minuten aufeinander erschienen. Während Drake sich nach der Auseinandersetzung öffentlich über das gemeinsame Label Universal ausließ, welches er beschuldigte, seine Reichweite aufgrund von aktuellen Vertragsverhandlungen eingeschränkt zu haben, konnte Kendrick Lamar sich als klarer Gewinner des Battles sehen und landete mit „Not Like Us“ einen der größten Hits seiner Karriere. Gezeigt hat die ganze Sache jedoch vor allem eines: In einer Welt voller Konflikte gibt es wahrlich wichtigere Dinge als zwei rappende Multimillionäre, die Beef haben.

Tim Schenkl

Quicksand

Im November wollte ich im Huxleys vor allem die amerikanische Band As Friends Rust sehen – was ein großer Moment von Freude und Nostalgie war. Songs wie „Coffee Black“ kann ich immer noch textsicher mitsingen. Anderes und überraschendes Highlight an dem Abend war aber Quicksand. Die New Yorker Post-Hardcore Legende um Walter Schreifels hatte ich (dank später Geburt) dann doch nicht so auf dem Schirm. Was für eine unfassbar gute Energie dieser Typ auf die Bühne gebracht hat. In einem mehrwöchigen Tunnel habe ich dann seine Diskografie (von Gorilla Biscuits über Youth of Today zu Rival Schools) studiert und muss hier drei Jahre zu spät noch das 2021er Album „Distant Populations“ empfehlen.

Susann Massute

R.

Ende Oktober standen an einem Baum in dem kleinen Park gegenüber von unserem Haus, früher vermintes Grenzgebiet, auf einmal Blumen, Kerzen und ein Fotorahmen. Ich trat näher und erkannte den Menschen auf dem Bild: Das ist, das war, R. Ein Mann, den ich oft hier im Park gesehen habe, er hat hier mehrere Sommer quasi gelebt, er hat wohl in den Büschen geschlafen und oft auf den Bänken gesessen, zusammen mit anderen. Ich war mir nie sicher, ob er älter oder jünger war als ich, wie das oft der Fall ist bei Menschen, die offensichtlich schon viele Jahre auf der Straße verbracht haben. Ein zunächst großer, drahtiger, fast athletischer Typ, von Jahr zu Jahr sah er mehr gezeichnet aus. Jetzt ist er tot. Ich weiß nicht, was geschehen ist, das geht mich auch nichts an. Aber es ist passiert und die Frage in mir bleibt, ob es verhindert hätte werden können? Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt und zugleich in einem Zustand zunehmender sozialer Verwahrlosung und Verarmung. 2025 wird diese, zumal in einer Stadt, die sich selbst kaputt spart, noch schlimmer werden. Beschämend.

Jan-Peter Wulf

Silo

Hängengeblieben 2024 Silo

Foto: Apple

Statt Serien habe ich in diesem Jahr vor allem Filme geschaut – natürlich bei Mubi. Doch tatsächlich bekam ich dabei ab und zu den Arthouse-Koller und wünschte mir präzise getaktete Cliffhanger im 45-Minuten-Format. Ich habe dann „Klassiker“ neu entdeckt („The Last Ship“. „Last Resort“, „Hidden Palms“!) oder bei AppleTV+ aktuelle Produktionen geschaut. Neben der wieder sensationellen neuen Staffel von „Slow Horses“ war und ist mein aktueller Favorit die 2. Staffel von „Silo“. Das parallelweltliche Setting im Bunker zog mich schon mit der 1. Staffel im vergangenen Jahr in den Bann, und die noch laufende neue Season ist nicht nur genauso kraftvoll erzählt und fotografiert – sie erinnert mich auch umso mehr an den Roman „I Who Have Never Met Men“ von Jaqueline Harpman, den ich im Spätsommer verschlungen habe. Kompletter Killer.

Thaddeus Herrmann

Streamer-Dreamer

Auch wenn ich ja immer wieder vehement behaupte, dass Musik in meinem Leben nicht mehr die Rolle spielt, die sie mal spielte: Irgendwas läuft dann doch irgendwie immer oder zumindest meistens. Angemessene Sounds für Schreibtisch-Arbeit, weit genug weg, um nicht abzulenken, aber doch nah genug, um das Zimmer mit mehr zu füllen als nur den Geräuschen der Tastatur. So kamen von Januar bis November 2024 insgesamt 62.095 Musik zusammen – nur von Apple Music. Der „Wrapped“- und „Replay“-Sharing-Bullshit interessiert mich eigentlich überhaupt nicht. Und dass das eingespielte Geld nicht gerecht verteilt wird in diesem speziellen Fall auch nicht. Der – mein – Jahresrückblick von Apple Music war überraschend. Das Server-Log behauptet steif und fest, dass ich im Januar 471 Minuten The Black Dog gehört habe. Echt jetzt? Ich erinnere mich dunkel, dass es da eine angemessen dunkle Ambient-Platte gab, aber 471 Minuten? Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, die App so einzustellen, dass ein Album so lange auf repeat läuft, bis ich es ausmache. Der Algorithmus mit Amazon-Logik hat bei mir keine Chance.
Februar: 1.104 Minuten Tindersticks. Dafür kann mich Stewart Staples das nächste Mal in Berlin dann ja auch auf die Gästeliste setzen. 705 Minuten Gas im August. und wer ist eigentlich Christopher Bissonette, den ich im November flotte 1.100 Minute hörte? Muss ich mal recherchieren. Und zwischendrin mal wieder eine Platte auflegen. Und weniger Ambient dudeln. Und mehr Bücher lesen. Und wer fragt: Mein am meisten gehörter Act 2024 war Loscil.

Thaddeus Herrmann

Hängengeblieben 2024 Streamer Dreamer

Talahon

„Verknallt in einen Talahon“ von Butterbro war der erste KI-generierte Popsong, der es in die deutschen Charts schaffte. Ein zweifelhafter Erfolg, werden in dem Text doch rassistische Klischees reproduziert und die Tatsache, dass das alles im Gewand von deutschem Schlager auftrat, zeigte, dass es nicht wirklich um Inklusion ging. Andererseits interessant, wie schmissig KIs wie Udio und Suno Hooklines produzieren, wenn man sie mit den richtigen Prompts füttert. Talahon begann als Tiktok-Trend und bezeichnet vor allem arabisch-stämmige Männer im jungen Alter mit gewissen Stilmerkmalen wie Gucci-Kappe und Bauchtasche. Auch die AfD arbeitete sich an ihnen ab, klingt natürlich auch schmissiger als „Messermänner“. Bei der Wahl des Jugendworts des Jahres erreichte das Wort Platz 2. in Österreich immerhin Silber als Unwort des Jahres, was definitiv angebrachter ist. Das Gute an solchen Hypes ist, dass sie irgendwann an Reiz verlieren und dann durch sind. Was gut ist, sagt auch niemand mehr: „Yo, Smombie, I bims, dein goofy Side Eye NPC“

Ji-Hun Kim

The Cure

Mehr habe ich zum neuen Album von Robert Smith und Co. nicht zu sagen.

Tsuchinshan-Atlas

komet

cafuego, CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons

Dich habe ich trotz vieler Versuche leider kein einziges Mal am Himmel erspäht. Hope to see you in 80,000 years, bro.

Jan-Peter Wulf

Vendée Globe 2024

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Hier geht es zum Vendée Globe Tracker

Die härteste Einhand-Segelregatta der Welt, die Anfang November 2024 im französischen Les Sables-d’Olonne begann, und einmal um die ganze Welt ohne Zwischenstopps führt, hat mir schon vor vier Jahren eine wunderbare Ablenkung zum Pandemie-Alltag beschert. Viele der Segler:innen kenne ich schon vom letzten Mal. Ich verfolge auf ihren Social-Media-Kanälen, wie sie bei Sturm und hohen Wellengang übernächtigt Reperaturen an ihren Booten durchführen und Albatrosse sichten. Morgens schaue ich gespannt auf den Tracker, wie weit die Teilnehmer gekommen sind. Die Spitze hat gerade den einsamen Point Nemo passiert, der der am weitesten von jeglichem Land entfernte Punkt der Erde (auf halber Strecke zwischen Chile und Neuseeland). Der deutsche Boris Herrmann, der zum zweiten Mal dabei ist und dessen Teilnahme dieses Mal viel vom NDR begleitet wird, ist nicht nur auf einer sportlichen Mission unterwegs. Unterwegs setzt er mit Messgeräten ausgestattete Klimabojen aus, damit Wissenschaftler:innen wichtige Daten über den Ozean und den Klimawandel sammeln können. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn auf den Segelbooten der IMOCA-Klasse zählt jedes Kilo.
Im Januar kommen die ersten Segler und Seglerinnen wieder in Les Sables-d’Olonne an – und mir wird auch dieses Mal wieder die tägliche Ablenkung fehlen.

Susann Massute

windkraftrad

Foto von Ondrej Supitar auf Unsplash

Windkrafträder

Auf Gran Canaria fiel mir auf, dass die Windkrafträder dort alle viel kleiner sind als bei uns. Viel putziger. Wieso das so ist? Es dürfte technische Gründe haben ... Wir stehen im nächsten Jahr vor großen Rückschritten, was den klimatechnischen Fortschritt anbetrifft, lässt neben anderen Donald Trump seinen Worten Taten folgen. Windkraftanlagen in den USA will er wieder abbauen, da seine Energiestrategie auf die hiesigen fossilen Quellen wie Fracking setzt. Auch Friedrich Merz will in Deutschland – möge er denn Kanzler werden – Windräder wieder abreißen, weil sie ihm zu „hässlich“ sind und nur eine „Übergangstechnologie“ seien. Weil die Zukunft gehört einer ganz anderen Energieressource. Seine Vision: Kernfusion. Eine Illusion, glaubt man Expert:innen des Feldes. Ich zitiere den Nuklearforscher Dr. Christoph Pistner in einem Interview veröffentlicht auf der Seite des Öko-Instituts:
„Ein bisschen Wasser möchte ich da jetzt schon in den Wein gießen. Wenn wir uns das ITER-Projekt anschauen: Baubeginn war 2010, damals sollte das erste Plasma 2018 erreicht werden. Das hat man dann um sieben Jahre auf 2025 verschoben, den Beginn des Deuterium-Tritium-Betriebs auf 2035. Und nun gibt es schon wieder neue Probleme und Verzögerungen. Wir sehen einfach, dass diese Projekte aufgrund ihrer extrem komplexen Technologie sehr lange Zeiträume brauchen und immer wieder mit Rückschlägen konfrontiert sind. Heute glauben wir, irgendwann die physikalische Machbarkeit zeigen zu können. Aber ob daraus jemals eine technische Machbarkeit im Sinne eines kommerziellen Kraftwerks wird, ist nicht klar. Ich sehe jedenfalls nicht, dass es innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte einen fertigen Prototyp geben wird.“

Ji-Hun Kim

illustration hug

Illustration: Susann Massute

Zaghaft

Das ist mittlerweile der zehnte Jahresrückblick, den wir auf Das Filter veröffentlichen. Ende 2016 schrieb Ji-Hun Kim unter „Zuhause bleiben“: „Zu oft hat man die letzten Jahre gedacht: Das nächste Jahr wird besser – was leider nicht stimmte.“ Die (gefühlt) gestiegene Last der Krisen, eine regelrechte Vielfachkrise, der letzten Jahre bestimmte unsere Rückblicke. Von Kriegen und Terroranschlägen, Klimakatastrophe, Brexit, Rechtsruck, Trump, Ungleichheit bis zur globalen Gesundheitskrise Pandemie – das zehrt. Wir schauen auf das Jahr zurück, blicken nach vorn und sind unsicher. Dass das nächste Jahr besser wird, das glauben sicher nicht mehr viele. Zu groß sind die gesellschaftlichen Herausforderungen, als dass das jetzt irgendwie ein Spaziergang werden wird. Allerdings möchte ich nicht nur verzagen. Ich denke an Menschen, die unerträgliches Leid in den letzten Jahren erfuhren und sich dennoch aufrappelten. Ein Name, der da im Jahr 2024 hervorsticht, ist Gisèle Pelicot. Ich verneige mich vor ihrer Stärke und möchte mich in dunklen Stunden daran erinnern. Auch wenn die Zeiten finster scheinen, braucht es Menschen, die stark, hoffnungsvoll und solidarisch sind. Merry Crisis.

Susann Massute

Plattenkritik: Iron Curtis & Johannes Albert – Moon IV (Frank Music)Episode 4 der Mondreise