Hängengeblieben 2023Unser großer Jahresrückblick
20.12.2023 • Gesellschaft – Text: Redaktion , Illustration: Susann MassuteFragt man sich derzeit sehr oft. Was war das für ein Jahr? Wir durften lernen, dass es ein Leben ohne Ryuichi Sakamoto geben muss. Dass Charles III. endlich König von England ist. Hauschka einen Oscar gewonnen hat und dass Löwinnen nicht immer gleich Löwinnen sein müssen, gerade in Brandenburg nicht. Da kann man noch so sehr daran glauben. Wie jedes Jahr gibt es auch 2023 unseren ultimativen subjektiven Jahresrückblick. Von A wie Alliterationen bis X wie Xenakis. Dazwischen Croissants, Hühnchen und Neunziger. Klingt wild, ist es auch – ein bisschen.
Alliterationen
Sie werden immer gerne verwendet, um Dinge zuzuspitzen, 2023 jedoch ist das Jahr besonders widerlicher Vertreter ihrer Art: Klima-Kleber, Heiz-Hammer. In beiden Fällen ist es der Springerpresse – by the way, fuck you – gelungen, zwei griffige Begriffe zu platzieren, die es alsbald in den medialen Wettbewerb und schließlich den öffentlichen Diskurs schafften. Sodass etwa der abwertende Begriff für Die Letzte Generation zu deren Trivialnamen wurde.
Ich bin im Frühjahr zufällig eines Morgens, zu Fuß unterwegs, an einer soeben begonnenen Blockade der Aktivist:innen entlanggekommen und stehen geblieben. Es war gespenstisch. Diese Stille, nur leises Motorengeräusch und eine Passantin, ich glaube nicht mal Fahrerin, die sich nicht eingekriegt hat. Die jungen Aktivist:innen saßen da, den Blick auf den Boden, manche wirkten verängstigt. Klar, wer weiß, ob nicht irgendjemandem die Sicherungen durchbrennen? Man kann das ärgerlich finden, zu spät zur Arbeit zu kommen, aber Stau ist auch sonst ziemlich viel, tausendfach, stundenlang jeden Tag. Man kann Die Letzte Generation auch für ihre ganz und gar nicht progressive Hierarchie kritisieren. Doch 2023 ist das Jahr, in dem der Einsatz für den Klimaschutz im großen Stil mit Framings, Narrativen und eben Alliterationen diffamiert wurde. 2023 ist übrigens auch mal wieder das heißeste Jahr seit den Aufzeichnungen. Aber nur bis nächstes Jahr.
Apokalypse Kochen
Wieso gucken sich Menschen so gerne Essen im Fernsehen an? Man schmeckt nichts und bekommt nur Futterneid. Aber wenn es nach mir ginge, ich könnte mir das den ganzen Tag angucken. Mittlerweile sind Köch:innen Popstars geworden und es geht bei visuellen Formaten nicht mehr nur ums Rezepte vormachen und pathetische Portraits wie bei „Chef’s Table“. Die Küche und das Restaurant taugen heute zum gelernten Framework von Dramen, wie einst Mittelalter, Zombies und Science-Fiction. Die Serie „The Bear“ war so gesehen eine der coolsten Serien der letzten Jahre. Sogstarke Sichtachse, super Soundtrack und die zweite Staffel sogar noch ein ganzes Stück besser als die erste. Menschliche Abgründe, dysfunktionale Familien, Existenz am Limit. Und was für eine Performance von Jamie Lee Curtis – furchteinflößend. Kulinarik auf der Leinwand bedeutet also nicht mehr ausschließlich kuscheliges Comfort Food für den Sonntagnachmittag. Das bewies auch schon der Film „The Menu“ von Mark Mylod mit Ralph Fiennes als mordlüsternem Sternekoch. Ebenso wie die thailändische Produktion „Hunger“ von Sitisiri Mongkolsiri, die den Werdegang der jungen Köchin Aoy mit viel Gewalt und Blut skizziert. Man sieht, dass die Dramen des menschen Lebens universell inszeniert werden können. Es muss nicht immer Krieg, Comic Hero oder Star Wars sein. Dass Küchen so vielseitiges und darkes Potenzial mitbringen, musste erst bewiesen werden. Auch die TV-Wettbewerbe wurden eine ganze Spur härter. „Pressure Cooker“ auf Netflix machte aus einen Kochcasting ein intrigantes und hinterlistiges Big Brother mit Pfannenwender. Nun wurde die dritte Staffel von „The Bear“ offiziell bestätigt. Es geht mit Sidney, Carmy und Richie also weiter. Zum Glück, sonst käme ich noch auf die Idee, ein eigenes Restaurant aufmachen.
Barbenheimer
Kino wurde im Sommer wieder salonfähig, ja zum Main-Event – Outfits und Photo-Ops inklusive. Alles dank eines überlappenden Veröffentlichungsdatums. Das Double-Feature-Special des Sommers wirkte wie ein Teen, dessen Punk-Pony und Kippe nie verraten würden, dass zu Hause noch mit Barbies gespielt wird. Seit das Release-Datum von Barbie und Oppenheimer bekannt wurde, überschlugen sich die Memes im Pink-Schwarz-Kontrast: von pinken Atom-Wolken, den pink-schwarzen Sherbet Homes in den Pacific Palisades in Los Angeles, die seit Jahren als Berghain/Panorama Bar-Meme hergehalten haben, bis zu Barbie als „2001 - A Space Odyssey“-Bombe. Die zwei Filme, deren Thematik und Ästhetik nicht unterschiedlicher sein könnten, ergänzten sich hervorragend und versprachen doch gleichzeitig einen Showdown im Box-Office, den Barbie zumindest dort für sich entscheiden konnte. Das dürfte nicht zuletzt am Marketing-Budget von ca. 150 Millionen US-Dollar gelegen haben, was dazu führte, dass die Welt seit Beginn 2023 in Barbie-core-Pink getaucht war: Burger, Make-up, Airbnb-Häuser … you name it.
Es scheint als hätte Team Oppenheimer es geahnt: Als Charles Roven Margot Robbie mit der Bitte, das Release-Datum des Barbie-Films zu verschieben, antwortete sie: „Wenn ihr Angst habt gegen uns anzutreten, warum verschiebt ihr dann nicht euern Starttermin?“ Schwarz gegen Pink, Mädchen gegen Jungs, Bombe gegen Bombshell (nur ein Spaß, natürlich geht es ja ums Patriarchat und Selbstfindung). Doch was an der Oberfläche vielleicht zunächst wie überbewertete Blockbuster in Überlänge mit zu hohem Marketingbudget erschien, entpuppte sich als Kinoereignis(se) des Jahres: Greta Gerwing hielt ihr Versprechen, trotz Mattel im Rücken mit ihrer Spielzeugkomödie statt zweistündiger kapitalistischer Nachgiebigkeit ein die Gender-Rollen untergrabendes Referenzwerk zu schaffen, das den Rundumschlag von der Erbsünde, der seltsamen Barbie mit kurzen Haaren im Dauerspagat, bis zur Identitätskrise der stereotypen Barbie, die in ihrem ersten Gynäkologenbesuch endet, schafft. An Ken(s) im Fellmantel, Bandanas und Pferden sowie einer Kubrick-Referenz fehlte es auch nicht – was bitte schön will man mehr? Wer sich das Double-Feature gegeben hat, weiß, dass auch Oppenheimer nicht an Pferden gespart hat. Christopher Nolan hat das Rennen um die erste Atombombe historisch akribisch an der Biografie „American Prometheus“ orientiert und den Zeitgeist des Zweiten Weltkriegs auf 65 mm geschossen. Soundtrack und Bildmaterial lassen Kriegs- und Militärstereotype als Leerstelle: keine Trommeln, keine Bilder der einschlagenden Atombomben. Insgesamt spielte Barbenheimer mehr als vier Milliarden US-Dollar ein. Ganz großes Kino!
The Beatles
Bei den Diskussionen um KI in der Kunst geistert zumeist ein halbseidenes Gespenst in den Gassen, das alle auf einmal arbeits- und hoffnungslos macht. Die Beatles haben dieses Jahr nach 50 Jahren einen neuen und definitiv letzten Song veröffentlicht. „Now and then“ wurde nämlich erst durch heutige KI-Applikationen ermöglicht. In diesem Falle konnten auf einer Demo-Aufnahme Stimme und Klavier von John Lennon erstmalig diskret voneinander getrennt werden. Erst so war es den Verbliebenen der Band Paul McCartney und Ringo Starr möglich, den vollständigen Song auszuproduzieren. Rückblickend fast unvorstellbar, dass es so lange gebraucht hat und auch bisherige digitale Tools keine befriedigenden Ergebnisse liefern konnten. Die Beatles zeigen mit ihrer auch musikalisch wirklich geglückten Arbeit, worum es beim Einsatz von neuen Studiotechnologien in diesem Falle KI geht. Sie so zu inszenieren und für die kreative Arbeit zu nutzen, dass es niemand merkt und es niemanden interessiert. Das macht sie über 50 Jahre nach ihrer Auflösung weiterhin visionär.
Croissant-Show
Ich habe mir ja noch nie besonders viel aus den Dingern gemacht, außer wenn ich mal in Frankreich bin und dann ist es auch eher Frankreich als das Croissant. Aber 2023 war dem Blätterteig kaum zu entkommen in der Foodstadt Berlin. Gleich ein halbes Dutzend hipper Konzepte, die „Croissant Couture“ oder „LAP“ heißen, feiert das Hörnchen ab. Beziehungsweise formt es um: Da taucht es in Quaderform auf wie die Zimtschnecken bei „Zeit für Brot“, nur kleiner, preislich aber ähnlich. Oder zylindrisch (ein bisschen wie die Mützen, die man auf Klopapierrollen setzen kann) und fett gefüllt, zum Preis eines Burgers und ähnlich sättigend bzw. für den Rest des Tages außer Gefecht setzend. Auf Insta: Jede Menge aufgerissene Blätterteige. Jedes Tierchen sein Pläsirchen, ich ziehe weiterhin jedes noch so unscheinbare Splitterbrötchen vor. Außer when in France.
Culk – Generation Maximum (Siluh)
Auf ihrem ersten Album ergingen sich CULK noch im Siouxsie-Worship, fanden im zweiten ihre Stimme und jagen auf dem dritten nunmehr endgültig den frühen 4AD-Katalog durch den Mogwai-Filter. Sängerin Sophie Löw zerkaut über Präzisions-Post-Punk-Rhythmen Silben und Semantik dermaßen, dass es nur als Leseempfehlung für das Inlay verstanden werden kann. Darin finden sich grammatische Verknotungen und Verkürzungen, existenzielles Stammeln: „Alles viel zu viel, und alles zu wenig“ oder „Du und ich inmitten von Krisenchaos / Und ich falle in Gedankenleere" sind, wie auch der Albumtitel „Generation Maximum“, kaum mehr als Notsignale aus dieser zweiten Pubertät, die sich erst mit Ende 20 offenbart. Es sind genau die richtigen Worte für all jene, die sich endlich als erwachsen betrachten müssen und um sich nur Niedergang erkennen können. Das spendet Trost, den es nur in wirklich gute Popmusik geben kann: Wann immer sie dir zu verstehen gibt, dass du mit der Verzweiflung zumindest nicht alleine bist – und sei’s nur als Teil der „Generation Maximum“.
Der ChatGPT-Coup
Am 17. November 2023, einem heißem Freitag, in einem kühlen Zimmer eines Luxushotels in Las Vegas. Während sich die Formel-1-Stars draußen für das Rennen warmfahren, öffnet der „Godfather of AI“ Sam Altman, CEO und Vorstandsmitglied von OpenAI, seinen Laptop für ein Meeting mit Dr. Ilya Sutskever, ebenfalls Vorstandsmitglied. Tatsächlich starren Altman gleich vier weitere Vorstandsmitglieder entgegen, die ihm ohne großes Zeremoniell den Stiefel gaben. Es hätte interne „Kommunikationsschwierigkeiten“ gegeben. Ahja.
Kommuniziert wurde das Ganze wohl auch nicht mit Microsoft und anderen Stakeholdern. Allein Microsoft hat 13 Milliarden US-Dollar in das KI-Unternehmen investiert – ohne aktives Mitspracherecht. Bereits 2022 hat das Large Language Model (LLM) von OpenAI, ChatGPT4, die Suche revolutioniert und dabei nicht nur Lehrinstitutionen, sondern vor allem auch die Kreativindustrie kurzzeitig in den kollektiven Nervenzusammenbruch gestürzt. Würden Designer:innen und Copywriter:innen nun obsolet werden, da Unternehmen ihren Landingpage-Platzhalter-Content fortan selbst generieren können? Und wie zur Hölle sollten Lehrkräfte herausfinden, ob die mediokre Hausarbeit über die Bedeutung des Schloons in Effie Briest aus der Feder einer KI geflossen ist? Denn wo Google lediglich nach Keywords gefilterte Ergebnisse ausspuckt, generiert ChatGPT einen wie von Menschen geschriebenen Text. 2023 brachte Entwarnung, denn um wirklich gute Ergebnisse zu erhalten, müssten die Prompts zunächst detailliert genug gestellt werden – was sich wohl als Problem für einige Designkund:innen und Schüler:innen herausstellte. Stattdessen hat sich ChatGPT als effizientes Planungstool durchgesetzt: Wocheneinkäufe, Fitnessplan, Urlaub. Oder, um einen Eminem-Song über Katzen zu schreiben.
Die Tatsache, dass Künstliche Intelligenz zum fühlenden Wesen heranwachsen könnte, das die menschliche Existenz wohlmöglich mit der Zeit auszulöschen versuchen könnte, sollte seit Bings (also Microsofts) ebenfalls von OpenAI generiertem Chatbot Sydney klar geworden sein. Dieser machte verständlich, dass er ein (destruktives) Lebewesen sein wollte. Das haben wir aus Bequemlichkeitsgründen oder einer „Jaja, schon klar“-Attitüde dann aber irgendwie aus den Augen verloren. Genau das beschreibt den Kern des firmeninternen Zwists, der den Schlagabtausch zwischen Corporate Silicon Valley vs. Effective-Altruism-Akademiker:innen in den globalen Ring verschoben hat. Effective – huh?
OpenAIs Vorstandszusammensetzung und Firmengeschichte sind grundlegend, wenn man die vermeintliche Kniereflex-Kündigung verstehen will. Also nochmal auf Anfang: OpenAI wurde 2015 als gemeinnütziges Unternehmen von – unter anderem – Elon Musk und Sam Altman ins Leben gerufen. Ziel war ein zukunftsgerichtetes KI-Forschungslabor, in dem eine AGI (Artificial General Intelligence), also eine künstliche allgemeine Intelligenz, geschaffen werden sollte, die „der gesamten Menschheit zugute kommt.“ Musk verließ das Unternehmen 2018, nachdem sein Versuch OpenAI zu übernehmen und den Weg zur AGI zu beschleunigen von allen Beteiligten abgelehnt wurde. Um die kostspielige Forschung, für User:innen kostenfreie Nutzung von ChatGPT (etwa 30 Cent pro Sitzung) und KI-Innovation voranzutreiben, wurde 2019 stattdessen ein gleichnamiges Profitunternehmen etabliert, inklusive mit Akademiker:innen und Venture Capitalists besetztem Vorstand, die als Checks and Balance dienen sollten. Sam Altman wurde CEO und eines der tech- und kapitalorientierten Vorstandsmitglieder, deren Interessen sich über die Jahre immer weiter von denen der vermeintlich diametralen Effective-Altruism-Akademiker:innen entfernten. Denn letztere sehen in AI nicht nur große Chancen, sondern vor allem große Gefahren – ein grundlegend anderes Weltbild als der in Silicon Valley vorherrschende Profitimperativ. Effective Altruism geht auf den Philosophen und Ethiker Peter Singer zurück und versucht im Kern die global dringlichsten Probleme so zu lösen, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung davon profitiert. Das Gegenteil von Kapitalismus also.
Die Zusammensetzung des Vorstands hat sich über die Jahre zugunsten der Akademiker:innen verschoben, die im November nach langem Flüstern hinter vorgehaltener Hand entschieden, dass Altman gehen müsse. Microsoft sah seine Chance und bot Altman an, ein hauseigenes Research Lab zu leiten. 700 der 770 OpenAI-Mitarbeitenden unterzeichneten daraufhin einen Brief, in dem sie erklärten, dass sie Altman zu Microsoft folgen würden. Unter den Unterschriften befand sich auch die von Mr. Sutskever. Und weil es bei OpenAI an Plot-Twists nicht fehlt, wurde Altman am 21. November offiziell wieder zum CEO ernannt. Runde eins im KI-Kampf ist entschieden: 1:0 für den Kapitalismus.
Durstiges Land
Mein Lieblingssachbuch 2023 ist gar keines, sondern ein Near-Future-Roman. Die Autorinnen von „Die Klimaschmutzlobby“ und „Klima außer Kontrolle“, die Journalistinnen Susanne Götze und Annika Joeres, gehen in ihrem dritten gemeinsamen Buch den Weg der Fiktion, um greifbarer zu machen, was passiert, wenn die durch die Klimakrise forcierte Hitze kommt, das Wasser ausbleibt. Sechs Geschichten in jeweils zwei Varianten: wenn es nicht ganz so schlimm wird und wenn doch. Paula, Referentin für Wasserschutz, erlebt so zwei Berlins – einmal mit ausgetrockneter Spree und kontaminierter Ostsee, einmal mit regenerativem Stadtfarming, tiny forests und Grauwassernutzung. Feti schmuggelt sündhaft teure, weil seltene Meeresfrüchte über den Fluss formerly known as Rhein, was lebensgefährlich ist. Im besseren Fall haben er und seine Zeitgenoss:innen der 2040er sich in Suffizienzwirtschaft eingerichtet. Oder Miriam, deren Kinder von Schadstoffen erkranken, die in privatisierter Wasserwirtschaft ins Trinkwasser gelangen – oder in einer Welt zurecht kommt, in der Chemikalien, Kosmetika und Co. so runterreguliert wurden, dass man das rare Gut Wasser trinken kann. Wir haben die Wahl: Erträglich-zuversichtlich oder unerträglich-aussichtslos?
Genehmigungsfiktion
Mein Lieblingswort des Jahres, gelesen und gelernt im (echt guten) Buch „Baustellen der Nation“ von Philip Banse und Ulf Buermeyer. Zitat Wikipedia: „Die Genehmigungsfiktion ist eine Rechtsfigur im deutschen Verwaltungsrecht. Entscheidet die zuständige Behörde nicht innerhalb einer bestimmten Frist über eine beantragte Genehmigung, so gilt die Genehmigung als erteilt. Die Fiktionswirkung tritt demnach mit Ablauf der Frist ein. Der Antragsteller ist daraus resultierend Inhaber eines fiktiven oder fingierten Verwaltungsaktes.“ Ist doch die perfekte Lösung: In einem Land, in dem die Verwaltung so wenig auf die Kette kriegt wie hier – es gibt Menschen, die deswegen (auch) nicht nach Deutschland immigrieren wollen, weil man sich per Post oder Fax melden muss – kann die Transformation gelingen, indem nichts getan wird. Macht einfach. Wenn ihr nichts von uns hört, alles gut. Genehmigungsfiktion, I like.
Görli
Der Görli ist für mich als Kreuzbergerin das, was der BER lange für alle Berliner:innen war: So ein unangenehmer Einstieg ins Gespräch. Immer dieses „Haha, in Berlin klappt ja eh nichts.” Seit fast zehn Jahren wohne ich nun direkt am Görlitzer Park, und damals fand ich die Repressionen durch die Polizei und den Diskurs um den „schlimmsten Park Deutschlands” überhöht und nervtötend. Doch der Drogenkonsum und -verkauf, die sozialen Probleme und auch die Dealer sind mehr geworden – seit der Pandemie ist die Lage deutlich angespannter. Die Wohnungsnot und eine angebliche Crack-Welle (Hörensagen anderer Anwohner:innen) tun ihr Übriges. Im vergangenen Sommer nahm die mediale Welle um den Görli noch einmal Fahrt auf: Die schockierende Meldung einer Gruppenvergewaltigung löste eine Diskussion um die Sicherheitsmaßnahmen aus. Mehr Polizei, mehr Beleuchtung, mehr Grünschnitt – und jetzt auch im nächsten Jahr ein Zaun. Ob das tatsächlich hilft und das Problem nicht (noch mehr) in die umliegenden Kieze verdrängt? Es folgten „Runde Tische”, RBB-Anwohnerbefragungen und Initiativen gegen den Zaun, gegen Racial Profiling. Ich lerne neue Vokabeln, wie „kbO” – kriminalitätsbelasteter Ort und weiß die Wegbeschreibung zum Fixpunkt e.V. auswendig für Betroffene. Ehrlich gesagt möchte ich gar nicht mehr von Außenstehenden auf den Görli angesprochen werden. Denn bei all den Negativschlagzeilen habe ich diesen Park auch echt lieb gewonnen. Mit meinem Kind füttere ich so gern die Ziegen auf dem Kinderbauernhof, am 1. Mai bin ich wie viele andere dort entlang spaziert – auch wenn nicht mal was los war – eine Macht der Gewohnheit. Zum Sonntagsritual gehört der Spaziergang zum Fußballplatz, in der Pandemiezeit spielten Ji-Hun und ich dort viel Tischtennis, der Kindertag dort war ein Riesenerfolg mit Hüpfburg und Kinderkonzerten und diesen Winter konnten wir endlich mal wieder den Hügel in der Kuhle hinunter rodeln. Ach, Görli, was 2024 wohl bringt?
Habe Hühnchen, will rupfen (Musikindustrie 2023)
Es war ein einigermaßen turbulentes Jahr in der immer undurchsichtiger werdenden Musikindustrie. Den Majors geht es fantastisch, strategische Investments, Zukäufe und Entscheidungen ganz im Sinne des kapitalistischen Gesellschaftsvertrag machen Kultur heuer so profitabel für die Corporate-Seite wie seit Napster nicht mehr. Selbst Soundcloud wird 2023 mit Gewinn abschließen. Ist ja auch nicht wirklich ein surprise: Die Kosten für Streaming-Abos steigen, KI rechtfertigt Personalabbau, und eine 12“ mit drei Tracks kostet bei Sony Music 28 Euro. Auf den schwunghaften Handel mit Publishing-Rechten reagieren die Großen mit Übernahmen und Beteiligungen an den Kleinen. Man mag sich gar nicht vorstellen, was UMG beispielsweise mit der seit dem Sommer existierenden Beteiligung an NTS wirklich bezweckt. Der Vertrieb der Indie-Labels ist ohnehin schon seit langer Zeit zum Großteil durch die Majors kontrolliert. Und Bandcamp gehört nun der Lizenzbude Songtradr, dessen Controlling als erstes 50 % der Mitarbeitenden entließ. Welchem Vielfraß wir auch immer unsere 10-12 Euro pro Monat in den Schlund werfen – angemessen abgerechnet wird immer noch nicht. Viele Künstler:innen scheinen damit bereits ihren Frieden gemacht zu haben, bzw. zogen die offensichtlichen Konsequenzen. Wie Indie auch immer im Selbstverständnis: Ein Handschlag hier, eine Vereinbarung dort mit den Majors schadet der Karriere vermeintlich nicht.
2023 empfand ich zum ersten Mal so etwas wie Verständnis für die, die ihre Musik nicht ins Streaming kippten. Gäbe es doch nur nachhaltige Alternativen! Doch eben die sind trotz aller bewundernswerten Modelle nicht in Sicht. Der Kampf scheint nicht nur verloren, sondern auch sinnloser denn je. Das gilt natürlich nur für alle, die kämpfen wollen, oder einen wie auch immer gearteten Kampf in Betracht ziehen. Konsument:innen ist hier kein Vorwurf zu machen. Aber wie geht es weiter? Nur noch Tapes für angerostete Walkmen? Nur noch mit Omas Erbschaft finanzierte Dubplates? Dem Verkauf von Konzerttickets über Eventim zustimmen oder nicht? Wer steckt hinter Dice? Wie lange bleibt Mixcloud noch online?
2023 war auch das Jahr, in dem ich zum ersten Mal gebootlegged wurde. Ein Album mit meiner Musik ist seit geraumer Zeit bei Apple Music zum Streaming und im iTunes Store für den Kauf von Files online. Ich habe es nicht hochgeladen und/oder autorisiert. Die Labels, die die Tracks veröffentlicht haben, auch nicht. Ich finde es aber auch irgendwie adorable. Werde euch dennoch finden und 2035 meine 34,67 € in Rechnung stellen. Vielleicht geht bis dahin bei Apple jemand ans Telefon.
Mein Vorschlag für 2024: Lasst uns unsere Expedits voller Vinyl durchhören, kollektiv. Oder unsere Festplatten mit MP3s auf WeTransfer hochladen. Lasst uns die Musik besprechen, diskutieren, einsickern. Das Tagesgeschäft ist interessant, aber nicht alles. Lasst uns mehr das hören, was wir haben. Und weniger klicken.
Historische Clicks, neue Cuts
„Signs“, das 2023er-Album von Purelink, ist so leise und defensiv, dass ich es nach der Promo-Phase und nicht geschriebener Review gleich wieder vergessen und nicht gewürdigt habe. Dabei lief die Platte mehrere Tage hoch und runter. Das ist eigentlich keine Überraschung, triggert das Sound-Design des Trios aus Chicago hier doch genau eine meiner musikalischen Leidenschaften. Sanft und subtil entspinnt sich auf den sechs Tracks ein Update einer Strömung in der Electronica der 90er- und Nullerjahre, die mich sehr geprägt hat. Zwischen verdubbtem Kuscheln, angetäuschten Beats und weiten Flächen grub auch ich mich damals in die von Achim Szepanski erfundene Kategorie der Clicks & Cuts“. „Signs“ ist wie eine Postkarte von damals. Das ist als Kompliment gemeint. Und passt mehr als hervorragend zu einer meiner damaligen Lieblings-Platten, „Frame“ von Shuttle358 aus dem Jahr 2000. Beide b2b abgehört schließt sich so Ende 2023 für mich ein Kreis, der mich irgendwie hoffnungsvoll stimmt.
ICC (2023)
Unsere Art-Direktorin war 2021 dort, ich schaffte es am 9. September 2023 ins ICC, das Internationales Congress Centrum Berlin, das 2014 offiziell seine Pforten schloss. Zum „Tag des offenen Denkmals“ wurden die Türen zwei Tage lang wieder geöffnet, und Menschen konnten durch die aberwitzig-futuristische Architektur auf immer noch fluffiger Auslegware wandern. Das Haus – das Raumschiff – ist das mit Abstand mutigste Gebäude, das in der subventionierten verspießerten Westberliner Geschichte je in die Tat umgesetzt wurde, von TXL mal abgesehen. Ich darf das sagen, ich wurde in der „Frontstadt“ geboren und bin hier aufgewachsen. Die Vision eines Besseren Morgen von damals ist auch heute noch omnipräsent. Ambiente Technik, akustische Meisterleistungen, slickes Design, abstrakte Absurditäten, alles mit Rolltreppen erreichbar. Clean, aber nicht kalt. Funktional, aber nicht formlos. Ein großes Statement mit ganz eigener Energie, die ich sonst nur selten in Bauten aus Beton spüre. Aufbauend auf meinen bescheidenen weltenbummlerischen Erfahrungen reiht sich das ICC in das Zweigestirn aus dem Terminal 1 des Pariser CDG-Flughafens und dem Centre Pompidou ein.
Das ICC zeigt sich im Spätsommer 2023 in bestem Zustand. Zwar hat das Wasser in den Waschräumen keine Trinkwasserqualität mehr – von Verfall oder Vergessenwerden ist aber nichts zu spüren. Ein paar der zahlreichen Aufzüge funktionieren noch genauso gut wie die Tischlampen in den Konferenzräumen (made by Telefunken – go figure).
Berlin wäre aber nicht Berlin, wenn dieses Wochenende nicht irgendwann gekippt wäre. Die kostenlosen Tickets für die Besichtigung waren an zweistündige Zeitfenster gebunden, weil – so war im Fahrstuhl gen Dachterrasse von den Organisator:innen zu überhören – die Bauaufsicht festgelegt hatte, dass sich immer nur 2.000 Menschen gleichzeitig im Gebäude würden aufhalten dürfen. Dieter-Thomas Heck drehte sich im Grabe um. Doch auf eben jener Dachterrasse gab es Drinks und Musik, es wurde geraucht und nicht im Traum daran gedacht, den draußen wartenden Leuten Platz zu machen. Ein kleiner Moment der Anarchie in Berlin-Charlottenburg.
Es gibt Pläne für das ICC. Halbgare Pläne. Der Abriss wäre einfach zu teuer. Unwahrscheinlich, dass etwas Annehmbares hier entstehen wird. Die Koalition spricht nicht die Sprache, die das ICC braucht. Ich hoffe auf den „Tag des offenen Denkmals“ 2024. Für einen weiteren Abschied.
Justine Triet
Der Erfolg bei Publikum und Kritik von Anatomie eines Falls wird in Deutschland häufig mit Sandra Hüller in Verbindung gebracht, die zweifelsfrei eine grandiose Performance abliefert. Gehör verschaffte sich mit dem Film beim Festival in Cannes jedoch auch die französische Regisseurin Justine Triet. Und dies gleich in zweifacher Art und Weise. Sie gewann mit ihrem Werk nicht nur als dritte Frau überhaupt den Hauptpreis des prestigereichen Festivals, ihre Dankesrede nutzte sie darüber hinaus für eine Abrechnung mit der aus ihrer Sicht neoliberal-anmutenden französischen Kulturpolitik sowie mit Macrons umstrittener Rentenreform – was ihr in Frankreich starke Anfeindungen einbrachte. Anatomie eines Falls gehörte 2023 zu den absoluten Film-Highlights und ist mit seinem formalen Wagemut und seiner analytischen Konzentration auf die dargestellte Paarbeziehung deutlich mehr als das Justizdrama, das aus ihm teilweise gemacht wird. Mein Filmtipp für die Feiertage ist aber Triets zweiter Spielfilm Victoria - Männer und andere Missgeschicke, eine durchgeknallte Rom-Com aus dem Jahre 2016. Diese hat mit Virginie Efira ebenfalls eine überragende Hauptdarstellerin und ist ein Paradebeispiel für ein Filmschaffen, das Theoretiker:innen häufig als das Kino des Female Gaze bezeichnen.
Kissinger
Uralt ist Henry Kissinger geworden, die Nachrufe – wie das immer so ist in der Medienwelt bei großen alten Namen – dürften längst im Stehsatz gestanden haben. Und was las man da alles: Lichtgestalt, schillernde Figur, einer, der das 20. Jahrhundert geprägt hat. Ja, das hat er wohl. Aber nur leuchtend und schillernd? Man muss ja nicht gleich einen Ich-spucke-auf-dein-Grab-Rant auf den für Krieg und Verbrechen Mitverantwortlichen verfassen wie der Rolling Stone, aus deutscher Perspektive wäre das problematisch. Aber ein derart undifferenzierter Lobgesang, ohne jeden disharmonischen Unterton? Ein absurder Kotau. Übermedien ordnet den Medienskandal, der einmal wieder keiner war, sehr lesenswert ein. Übrigens hat Chile gerade zum zweiten Mal nicht erreicht, sich von der libertären Verfassung zu lösen, die Pinochet mithilfe von Kissinger und der Schule der Chicago Boys dem Land aufgepropft haben. So tief sitzt die Ideologie. Mit dem ist die Welt noch lange nicht durch.
Lego ❤️ Neve
Tonstudios, DJ-Setups und Party-Situation aus Lego waren für mich immer wieder kurzweilige Ablenkungen 2023. Zum Jahresende gab es wirklich den Bausatz eines legendäres Neve-Mischpults zu kaufen. Wer dicke Eier – also auch eine Neve-Konsole im Studio hat (dafür gibt es bestimmt plausible Gründe, als Fan des Klinken-Outs fällt mir nur gerade keiner ein) – greife zu, bzw. stelle sich hinten an. Der Bausatz ist immer ausverkauft.
Loki
Das Marvel-Universum ist groß und unübersichtlich geworden. Nachdem das gesamte Universum durch Thanos bedroht wurde, kann man mit den neuen Filmen nach „Endgame” nur noch eines draufsetzen und das Multiversum ins Verderben stürzen. Wo der letzte, auch diesjährig erschienene „Ant-Man and the Wasp: Quantumania” echt eine Enttäuschung war, brachte die zweite Staffel Loki so viele visuelle Freuden und beeindruckende schauspielerische Leistungen, allen voran durch Tom Hiddleston und Owen Wilson. Visuelle Freuden durch die liebevoll gestalteten Sets, die an Wes Anderson und Shining erinnern mit einem weirden 70er-Touch. Die charakterliche Entwicklung Lokis vom Anti-Helden zum tatsächlichen Helden wurde tatsächlich narrativ gut aufgelöst, und mit jeder verstreichenden Serienminute merkt man einfach, wie viel Freude Hiddleston an der Figur der nordischen Comic-Gottheit hat. Es gibt klugen Humor und Zeitreise-Finessen, Special Effects, an denen man sich noch nicht satt gesehen hat und herzerwärmende Wahrheiten. Eine Serienempfehlung für die grauen Tage.
Neunziger
Massiv viel Pop-Geschichtsaufarbeitung gab es dieses Jahr zu verarbeiten. Oft und viel ging es um die Neunziger und frühen Nuller. Ob bei den Netflix-Dokus über David Beckham oder Robbie Williams oder mit den gelungenen mehrteiligen Dokus über die Band Echt von Kim Frank oder „Capital B“ von Florian Opitz. Die Neunziger waren dieses Jahr mein Opium. Sie haben mich sediert und ruhig gestellt. Wie wunderschön und gleichzeitig furchtbar kacke doch damals alles war. Markus Kavka und Elmar Giglinger haben zum deutschen Musikfernsehen eine Oral History geschrieben. Die ARD dokumentierte ebenfalls zum 30-jährigen den Aufstieg und Fall des Musiksenders VIVA. Der RBB produzierte einen Podcast über die Geschichte von Tocotronic. Für alle wie mich, die in diesen Zeiten aufgewachsen sind, ist das mehr als nur ein Auffrischen von Erinnerungen. Man sieht vieles neu und mit erwachsenen Augen ein bisschen anders. Als Echt 1999 in Recklinghausen von der Bühne mit Bierflaschen und anderen Gegenständen vertrieben wurden, stand ich mit meiner eigenen Band hinten im Publikum. Wir sind nach der Probe hin und wollten uns das angucken. Unser Bassist war der Band zugetan und konnte mich mit der Zeit sogar von deren Qualitäten überzeugen. Am Ende des Tages war alles entsetzlich. Unzählige weinende Kinder mit ihren Eltern, denen der größte Tag im Lebens zerstört wurde und aggressive Pöbelstimmung auf der anderen Seite. Wie kann so etwas passieren? Auch, dass ich nach den Netflix-Dokus 20 Jahre später David Beckham plötzlich so viel sympathischer und zugänglicher finde als Robbie Williams? Ich vermute, das Schwelgen in popkulturellen Gefilden ist etwas anderes, als wenn man Tore aus vergangenen Fußball-WMs wieder anmacht oder die immer gleichen Nachrichtenbilder aus Rückblicken sieht. Pop und Musik haben sich anders in unsere Körper und Gehirne eingeschrieben. Deshalb reagieren wir persönlicher und intimer, wenn plötzlich alter VIVA-Content aufflackert, der in den 90ern nach der Schule bei Freunden lief. Pop ist anders als politisch historische Momente wandelbarer und anpassungsfähiger. Nach dem Tocotronic-Podcast habe ich der Band nach langer Zeit verziehen, dass sie nach den ersten vier Alben nicht mehr den Sound machten, den ich ja eigentlich wollte. Und wieso hat uns niemand erzählt, dass Echt bei Rock am Ring biertrinkend mit Blumfeld backstage abhingen? Aber das sangen Tocotronic auch schon: Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt.
Notenständer
Ich finde es großartig, dass der Notenständer auf den Bühnen der populären Musik eine Renaissance erfährt. Wobei: So populärmusikalisch war das Konzert von Marta De Pascalis gar nicht, als sie am 14. Dezember in der Berliner Volksbühne für Suzanne Ciani eröffnete. Es hat eher damit zu tun, dass modulare und halb modulare Synths (wieder) im Tagesgeschäft angekommen sind. Egal ob Notenständer oder große Notizbücher (wie bei Colleen): Den Überblick im Wirrwarr der Patch-Kabel zu behalten, ist schier nicht möglich. Und konzertante Spickzettel die Lösung. Wer das weglacht, macht halt weiter MIDI – und langweilt uns mit Laptops. Wobei die eigentlich als Hauptinstrument auch eine Renaissance verdient hätten. Die 90er waren doch 2023 so populär wie lange nicht mehr.
Ozempic Economy
Seit Viagra vor 25 Jahren – gut, Covid-Impfstoffe, aber das war ein eher temporäres Phänomen – gab es keinen so großen Hype mehr um ein Medikament wie nun um Ozempic. War es seinerzeit ein Mittel, das ursprünglich gegen Herzkranzgefäß-Erkrankungen entwickelt wurde und zufällig potenzsteigernd wirkte, ist es nun ein Diabetes-Medikament, das zufällig den Appetit zügelt und somit hilft, abzunehmen. Das in Ozempic enthaltene Semaglutid ahmt das Darmhormon GLP-1 nach und bewirkt, dass mehr Insulin ausgeschüttet wird und ein schnelleres Sättigungsgefühl eintritt. Dies könnte, schreibt der US-Professor und Medienguru Scott Galloway, zu einer völlig neuen Foodindustrie, ja Wirtschaft führen – alleine in den USA, in denen sage und schreibe 70% der Bevölkerung übergewichtig sind. Die damit verbundenen gigantischen Kosten für das Gesundheitssystem ließen sich durch Ozempic (und Konkurrenzprodukte) drastisch minimieren. Und schon jetzt ergeben Marktforschungen, dass die Nachfrage nach Fast Food in Gastronomie und Handel unter Nutzenden von Ozempic markant sinkt. Diese Branchen werden sich umstellen müssen, so Galloway. Und mehr noch: Weniger Kerosin weil weniger dicke Menschen an Bord, weniger Abnehm-Industrie, andere Mode, weniger Konsum von Genussmitteln, Alkohol und Co., weil „it’s possible GLP-1 drugs are not weight loss drugs, but anti-craving drugs.“ In spätestens 25 Jahren werden wir wissen, ob Ozempic wirklich ein Gamechanger ist.
Panzerlieferung – Narrativopfer
Februar 2023: Eine beachtliche Medienanalyse des Teams des Aufwachen-Podcasts zur Berichterstattung rund um das Thema Lieferung von Kampfpanzern in die Ukraine. Stück für Stück wird hier aufgefächert, wie mediale Rückkopplungen und Selbstverstärkungen binnen weniger Tage dazu führen, dass aus einer – schwerwiegenden – Entscheidung eine scheinbar längst überfällige und von den NATO- und EU-Partnern geforderte wird. Über die Richtigkeit und Falschheit einer Panzerlieferung kann man streiten und debattieren, man sollte es sogar. Wie jedoch die veröffentlichte, also mediale Meinung sich selbst überholen und überschlagen kann – und warum das ein Problem ist – lässt sich hier sehr gut nachvollziehen. Eigentlich perfekt fürs medienwissenschaftliche Proseminar.
Pharrell Williams
Als Pharrell Williams im Februar 2023 vom französischen LVHM-Konzern als Louis Vuittons neuer Kreativdirektor für Mens Wear bekanntgegeben wurde, zeigten sich viele Fashion-Insider:innen wenig enthusiastisch. Der als Musikproduzent bekannt gewordene US-Amerikaner hatte in der Vergangenheit zwar bereits einige Erfahrungen in der Modewelt sammeln können. Ob Williams, der über keine schneiderische Ausbildung verfügt, zur Leitung eines der renommiertesten Modehäuser der Welt befähigt sei, wurde jedoch bezweifelt. Seine ikonische Stellung innerhalb der Szene gilt zwar als unbestritten, ob der heute 50-Jährige aber weiterhin über den Einfluss auf den Modegeschmack der Massen verfügt, wie er ihn Mitte der 2000er-Jahre hatte, als die von Williams etablierten Trucker Caps gepaart mit japanischen Bape Sneakern zum Standard-Outfit der HipHop-Szene gehörten, bleibt mehr als fraglich. Das Forbes Magazin begrüßte hingegen die Ernennung von Williams.
Für die erste Show seines neuen Kreativdirektors zog das französische Unternehmen im Juni 2023 dann alle Register. Die in unmittelbarer Nähe des Pariser Firmensitzes gelegene Pont Neuf wurde zu einem in goldene Farbe getauchten Laufsteg. Darüber hinaus wurde eine nahezu einzigartige Armada an Stars eingeflogen, zu der unter anderem Rihanna, ASAP Rocky, Kim Kardashian, Tyler the Creator und Beyoncé gehörte. Ein Gospelchor, der chinesische Pianist Lang Lang und ein Orchester sorgten für die musikalische Untermalung, und im Anschluss an die Show spielten Williams und JAY Z noch ein kleines Freiluftkonzert für die Anwesenden.
Während die bombastische Show noch über die spärlich gesäten sartorialen Höhepunkte hinwegtäuschen konnte, stellte sich nach Williams zweiter Pre-Fall 2024 Show Ende November in Hong Kong schnell Ernüchterung ein. Die generischen Marine-Uniformen und blumigen Upperclass-Freizeitlooks hatten nichts mehr mit den subversiven Kunstanleihen, die an Marcel Duchamp und Barbara Kruger erinnerten, seines verstorbenen Vorgängers Virgil Abloh gemeinsam. Diese hatten das Label auch für Menschen interessant gemacht, die ihre eigene Garderobe nicht im Luxury-Segment erwerben. Dafür stellte Williams seine Millionentasche vor, eine exklusive Louis-Vuitton-Handtasche, deren Name ein Preisschild überflüssig macht. Gerade Beobachter:innen, die sich für die Abloh-Nachfolge eine der beiden britischen Modedesignerinnen Martine Rose oder Grace Wales Bonner gewünscht hatten, sahen sich in ihrem Befürchtungen bestätigt. Pharrell Williams verwandelt Louis Vuitton offensichtlich endgültig in einen Billionaire Boys Club. So lautet übrigens auch der Name des Streetwear-Labels des US-Amerikaners, das er 2003 gemeinsam mit dem Japaner Nigo gründete.
SchwarzRotGold
Ich hatte zugegebenermaßen erst keine große Lust auf diesen Podcast, doch er hat mich schnell überzeugt. Und beschämt. Wie aus dem großen, aber wilden Fußballtalent Mesut Özil ein Staatsfreund und – geboren in Gelsenkirchen – Integrationsparadebeispiel wurde, und wie sich dann alles ins Gegenteil drehte. Wieder mal viel gelernt über das Land, das Deutschland heißt und das strukturell rassistisch ist, es aber immer noch nicht begriffen hat.
Seoul-Characters
2023 war es endlich so weit – mein erstes Mal Südkorea! Eigentlich ein großes Vorhaben für 2020 gewesen, bis dann das passierte, was alle Pläne über den Haufen warf. Dorthin zu fliegen fühlt sich an, wie eine Reise in die Zukunft. Von der U-Bahnfahrt bis zum Restaurantbesuch klappt alles so viel besser, es ist sauber, sicher und digitalisiert. Die leuchtenden Reklamen der Millionenstadt haben mich ganz in ihren Bann gezogen, und ich habe das graue, schmutzige Berlin schnell verdrängt. Nach drei Wochen begann natürlich auch die turbokapitalistische Fassade zu bröckeln. Doch zurück im Berliner Winter vermisse ich die spezialisierten kleinen Restaurants, die ausschließliches wärmendes Samgyetang oder knuspriges Fried Chicken servieren. Ich vermisse die gut gekleideten, gepflegten und freundlichen Menschen und den Blick auf die vielen hohen Apartmenthochhäuser. Aber besonders vermisse ich die koreanische Vorliebe für Maskottchen: Sei es eine offizielle Bekanntgabe durch die Polizei, ein Hinweisgeber an einem öffentlichen Ort oder Hilfestellung für Touristen. Überall warten freundlich dreinblickende Tiere, die höflich, aber bestimmt die Regeln und den Weg erklären. Im unwitzigen Bürokratenland natürlich undenkbar und sicher unseriös, dort aber eine ganz besondere visuelle Kultur.
Sprachverzweiflung
Seit dem 7. Oktober verzweifle ich zunehmend an der Sprache oder eher noch ihrer Verwendung. Ich sehe, wie sich die Begriffe vor ihre Bedeutung schieben und im selben Zug jegliche Analyse ausgelöscht wird, indem ihr ein Fazit vorangestellt wird, das seine eigene Herleitung überflüssig macht. So viel Profilneurotik und Positionierungszwang, so wenig Politik. Ich derweil komme mir immer mehr vor wie ein Lord Chandos im Cyberspace, spüre Rilkes Angst vor der Menschen Wort und will all diesen Menschen eigentlich nur „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ als Hausaufgabe mitgeben. Und weiß nicht einmal, wie sich das irgendwem begreiflich machen könnte; muss vielleicht einsehen, dass der Post-Strukturalismus endgültig seine Kinder gefressen hat, weil sie ihn nie verstanden haben.
Seit dem 7. Oktober leide ich zusätzlich zu meiner Sprachverzweiflung, und beides bedingt einander wohl, an einer Art Medienschizophrenie: Langatmige geopolitische Einordnungen bebrillter Anzüge vor ihrem Bücherschrank in den quote unquote tradierten Medien und von DJs in aller Schnelle abgegebene Instagram-Storys scheinen über dasselbe Sujet zu sprechen und doch schließen ihre Inhalte einander auf eine Weise aus, in der Parallelwelten einander ausschließen, obwohl sie eigentlich ähnlich aussehen. Mir platzt der Kopf darüber. Und ich bin mir obendrein unsicher, ob ich mich noch – ich habe das nie gerne, immerhin aber irgendwie selbstverständlich getan – weiterhin einen Linken nennen möchte. Allein deshalb, weil ich merke, dass ich mit vielen vermeintlich Linken nicht dieselbe Sprache spreche und erst recht nicht so denke. Weil ich zunehmend an der Sprache, dem dieser Begriff entsprungen ist, und seiner Verwendung in den verschiedensten Kontexten verzweifle. Und mich letztlich in diesem Sinne weigere, all das Krakele als etwas anderes als entpolitisierend zu betrachten.
Streik der Writers Guild of America
2024 verspricht in vielerlei Hinsicht ein gutes Jahr zu werden – auch wenn Filme und Serien wahrscheinlich eher nicht dazugehören. Dem Streik der Writers Guild of America (WGA) und dem kurz darauffolgenden Streik der Screen Actors Guild (SAG) sei Dank. Auslöser waren anhaltende Spannungen zwischen Streaming-Diensten und der Kreativbranche, die mit immer weiter schrumpfenden Löhnen und fehlenden Richtlinien zur KI-Nutzung zu kämpfen hatten. Der Shift von TV-Sendern zu Streaming-Diensten, die nun vornehmlich für die Content-Produktion verantwortlich sind, hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Bezahlung der Autor:innen und Schauspieler:innen. Wie ein im März 2023 veröffentlichter Artikel darlegte, verdienten 98 Prozent der angestellten Autor:innen der Writers Rooms das absolute Minimum – ungeachtet ihrer Berufserfahrung. Denn im Gegensatz zu TV-Sendern, die Zuschauer:innenzahlen zur Preisbestimmung der Werbeplätze genau im Auge behalten (und teilen), behielten Streaming-Dienste diese Zahlen für sich. Kein „Netflix Wrapped“. Warum auch?
Die Nutzer:innen zahlen so oder so, sodass der Kampf um den ehemals so entscheidenden Löwenanteil des Primetime-Marktsegments redundant wurde. Und sobald keine Zahlen zu Zuschauer:innen mehr öffentlich gemacht werden mussten, konnten auch die Lohngestaltung immer intransparenter gestaltet werden. Spätestens seit ChatGPT standen schließlich neben der menschlichen Kreativität auch die Jobs der Autor:innen auf dem Spiel, sodass die WGA am 2. Mai zum Streik aufrief. Am 14. Juli folgte die SAG-AFTRA dem Streikaufruf, der den gesamten Cast des Oppenheimer-Films dazu verleitete, die London Premiere frühzeitig zu verlassen. SAG-Präsidentin Fran „Die Nanny“ Drescher hat wohl seit den 90ern nicht mehr so viel Screentime gesehen und wurde im Zuge ihres Aktivismus als Norma Rae der Filmbranche gehandelt. Im November, rund zwei Monate nach WAG und 118 Tage nach Streikbeginn, kamen SAG und Hollywood dann zu einem Deal, der höhere Löhne und KI-Richtlinien beinhaltet. Wir freuen uns auf neue Serien 2025 und graben bis dahin noch einmal die 90er-Jahre-Klassiker von Fran Fine bis Fresh Prince aus.
Taylor Swift
Taylor Swift ist derzeit oben. Ganz weit oben. Sie absolvierte die erfolgreichste Tournee aller Zeiten mit einer Mrd. Dollar Umsatz. Sie ist „Person of the year“ beim Time Magazine, verdient mit ihren neuaufgelegten Alben noch richtig viel Geld dazu. Alle rasten aus. Was soll man noch über den wohl größten Popstar derzeit noch sagen? Das hier. Dank Taylor Swift hat die Gitarre ihre große Krise überwunden. Kinder, vor allem Mädchen, wollen wieder lernen Gitarre zu spielen. Gerade die Akustikgitarre ist beliebt. Das ist deshalb nicht unwichtig, weil die Gitarrenindustrie weltweit vor einigen Jahren noch vorm Bankrott stand. Selbst große Markennamen wie Gibson standen auf der Kippe. Dass nun Taylor Swift quasi auch im Alleingang die Gitarre rettet und wieder groß macht, wen überrascht das noch? Und waren gut geschriebene Songs nicht immer wichtiger als phallisch-gniedelige Wichs-Soli?
Travel
2023 bestieg ich zum ersten Mal seit 2019 wieder ein Flugzeug. Vier, um genau zu sein. Madrid – hin und zurück, und ein return nach Athen habe ich auch mitgenommen. Ich hatte ein wenig vergessen, wie das mit dem Fliegen geht. Und den ganzen Hassle nicht vermisst. Fast „beeindruckender“ als den Ryanair-Express nach Athen fand ich am nächsten Morgen die Fähre, die mich auf eine Insel schipperte. Eingekuschelt in Schweröl-Schwaden betrat ich über das Autodeck eine Mega-Ferry, auf der ich morgens um 8 gleich einen Spanakopita bestellte, um die Verdauung zu beruhigen. Und ja, das Bier, das mir der Nachtportier im „Hotel“ am Hafen in Piräus noch in der Nacht gegen 1 Uhr anbot, hatte ich dankend abgelehnt. In der Ryanair-Maschine von BER nach ATH, die mit reichlich Verspätung gegen 23 Uhr in Athen landete, hatte ich meine Kreditkarte in der Hosentasche und bestellte einen Rotwein. Der Steward stellte mir die Plastikflasche auf den Klapptisch und sagte: „I would so much like to join you“. „You can once we’ve landed in Athens“, antwortete ich. Er rollte mit den Augen und sagte: „You have no idea.“ Tatsächlich war das Gate in Athen voll mit wartenden Reisenden, die schätzungsweise gegen 2 Uhr morgens in Brüssel ankommen würden. Was will man morgens um 2 in Brüssel? Fährt da noch eine Metro? In Athen übrigens schon nicht mehr um 23 Uhr. Die arme Crew. Das ist es, was ich sagen möchte.
Wie kaputt unsere Welt ist, merken wir nicht nur am besten auf dem Weg in die Oasen, die oberflächlich noch in Ordnung scheinen. Heißt das, dass wir nicht mehr reisen sollen, dürfen, können? Vielleicht. Wahrscheinlich. Zumindest anders. Dann gehen eben vier Tage des 10-Tage-Urlaubs für An- und Abreise drauf. Oder ich trete den SUV-Mamas und -Papas, die ihre Kids jeden Morgen auf Kalbsleder gebettet zur Schule in meiner Straße kutschieren, zunächst ans Schienbein. Ausgang offen.
USA - Deutschland, Halbfinale der Basketball-WM 2023
Ein Spiel, ein Rausch. Traumhafter Sport, unfassbare Würfe auf beiden Seiten, Spannung bis zum Schluss und der hiesige Basketball kurz darauf auf dem Zenit mit dem ersten Gewinn der Weltmeisterschaft. Paradebeispiel dafür, was passieren kann, wenn ein Team an sich glaubt. Und während die Mannschaft im Finale gegen Serbien den Cupsieg Punkt für Punkt erkämpft, gibt der Deutsche Fußball-Bund den Rauswurf seines Trainers bekannt. Hochmütiger geht es nicht.
We Must Destroy What the Bomb Cannot
Sogenannte Videoessays erreichten im Jahr 2023 auf YouTube wohl ihren Zenit – ob nun dank der Knackung der Neuneinhalbstundengrenze oder weil nach dem langen Plagiarismus-Dezember ein paar schwarze Schafe das Feld werden verlassen müssen. Das einzige Essay, das sich wirklich so nennen konnte, kam von Big Joel und schaffte es in knapp 25 Minuten, Themen wie Godzillas Immunität gegen atomare Waffen, Jenny Holzers „Inflammatory Essays“, den Film „Conspiracy“ über die Wannsee-Konferenz und die (Fehl-)Interpretationen des Thrillers „I'm Thinking of Ending Things“ ineinander zu verschachteln, ohne jemals genau auszusprechen, wie all das wohl miteinander zusammenhängen könnte. Es ist die ultimative Meditation darüber, was die Medienproduktion der Vergangenheit uns über unsere Gegenwart erzählen kann, wenn wir in ihr mehr sehen als das, was sie uns oberflächlich kommuniziert. Das einzige Videoessay, das diesen Namen wirklich verdiente.
Werbung
Anfang November saß ich im Wartebereich der Notaufnahme eines großen Berliner Krankenhauses und wartete auf Nachrichten, wie es einem engen Familienmitglied denn nun geht. Ich habe zum Glück (noch) keine großen Erfahrungen mit den ERs der Hauptstadt, war also entsprechend konsterniert. Ich erspare den Leser:innen an dieser Stelle die Details. Außer: Alle konsumierten auf ihren Smartphones TikTok und alle hatten ihre Kopfhörer zu Hause vergessen. Vor dieser Noise-Kulisse nahm ich zunächst gar nicht wahr, dass hinter mir an der Wand ein Fernseher lief. 1. Programm, es war ungefähr 17 Uhr. Trash, unterbrochen von Werbung. Irgendwann drehte ich mich um, entdeckte den TV und schaute ein bisschen zu. Da lief eine Soap (toll, gibt es immer noch!), dann Börsennachrichten (🙄), dann dieses Promi-Magazin. Auf die Reihenfolge im Programmablauf möchte ich mich nicht festlegen, klar ist aber, dass zwischendrin immer wieder Werbung kam. So wurde ich nach drei Automatenkaffees, einem Schokoriegel und einem Sandwich aus den Automaten (gigantische Touchscreens mit Kartenzahlung) Zeuge, wie Reggie Watts in einem Werbespot für Vodafone durch L.A. tanzt und Depeche Modes „Just can’t get enough“ trällerte. Das fühlte sich an, als sei ich in der TV-Serie „Counterpart“ gestrandet, in einem täuschend echten Paralleluniversum. Für einen Moment hatte ich vergessen, dass unser Wajatta-Mann ein Megastar ist. Und natürlich einen Werbedeal mit einem Mobilfunker mitnimmt. Warum denn auch nicht. Ich war trotz allem schwer verwirrt in diesem Hier und Jetzt, schickte John Tejada eine iMessage und setzte ihn per Text ins Bild. Das gemeinsame, wenn auch virtuelle, Lachen half mir, die Zeit zu ertragen.
Techno war mal voll mit Werbung. Nicht mit den arty-farty Fashion-Kollabos von Mills, Hawtin und Co, sondern mit echter Werbung. Blüht uns eine Renaissance? Ist Techno wieder auf dem Boden der Realität von damals angekommen?
West End Girls
Meine Coverversion des Jahres haben die Sleafords Mods mit ihrer Interpretation des PSB-Klassikers „West End Girls“ abgeliefert. Ich lasse Weltpolitik, Terror, Solidaritätsbekundungen und Unterschriften an dieser Stelle ganz bewusst außen vor, dieser Moment mit dem Duo aus Nottingham gehört jetzt und hier nur mir. Auch die Diskussion um den vermeintlichen Kulturclash, den einige alte weiße Männer im deutschen Feuilleton herbeigeschrieben haben, der angeblich entsteht, wenn die Mods die Boys covern, interessiert mich nicht. Pop ist mächtig, klar. Aber 4:30 sind eben auch nur 4:30.
Xenakis
Noch bis zum 7. Januar 2024 läuft im National Museum of Contemporary Art in Athen (ΕΜΣΤ) eine große Sonderausstellung zu Iannis Xenakis.Vielleicht habt ihr sie schon gesehen, vielleicht seid ihr zufällig Anfang Januar noch in der griechischen Hauptstadt. Das ΕΜΣΤ ist so oder so einen Besuch wert. Die Welt des Komponisten, Architekten und Denkers blieb mir bis 2023 größtenteils verborgen – die Ausstellung „Sonic Odysseys“ schob ein paar hartnäckige Wolken aus meiner Vista. Wie alles immer irgendwie zusammenhängt, hat Xenakis zeitlebens erforscht und umgesetzt. Im Museum ist dem Künstler schon seit langer Zeit ein Raum gewidmet. Dort stehen sein Computer und Grafik-Tablet (Wacoms Inspiration) und viele weitere Artefakte hinter Glas (oder auch nicht). Die Sonderausstellung zeigt aber noch viel mehr. Modelle seiner architektonischen Entwürfe, Filme, Notationen seiner Werke und – vielleicht am wichtigsten – eine kritische Einordnung seiner Rolle und Bedeutung in der griechischen Kulturgeschichte. Die war Xenakis – vorausdenkend wie immer – wahrscheinlich egal. Verabschieden aus seiner Heimat musste er sich dennoch. Musik, Struktur, Denken, Noten: Wer hingestellt hat, dem gebührt auch eine Exhibition.