Mehr Partizipation wagen?Bericht von der Tagung „Zeitgemäßer öffentlich-rechtlicher Rundfunk (?)“ an der Akademie für Politische Bildung
4.4.2022 • Gesellschaft – Text: Ji-Hun KimWelche Rolle spielt im 21. Jahrhundert der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR) in unserer Gesellschaft? Steckt er in einer Krise? Hat er die Digitalisierung verschlafen? Oder wird nicht gerade in Zeiten von Krisen und Kriegen wieder deutlich, wie wichtig der ÖRR für eine unabhängige Berichterstattung ist? Wie geht das System mit dem öffentlichen Druck um, von dem es immer wieder heißt, es handele sich um Staatsfunk und die Rundfunkgebühren seien Zwangsgebühren? Und, gibt es nicht doch wesentliche Unterschiede zwischen öffentlichem Rundfunk und Privatsendern? Inhaltlich, wie strukturell? Ein Ausblick in die mögliche Zukunft des ÖRR.
Vom 24. bis 26. März fand in der Akademie für Politische Bildung im bayrischen Tutzing die Tagung „Zeitgemäßer öffentlich-rechtlicher Rundfunk (?) – Ein konstruktiver Streit“ statt. Geladen waren Wissenschaftler:innen, Entscheider:innen der öffentlichen Medienanstalten, freie Filmschaffende, Redakteur:innen und Studierende. Zum einen gab es diverse Vorträge, es wurden im Rahmen von Workshops aber auch Formatideen entwickelt, die von einer Jury unter der Leitung der BR-Intendantin Katja Wildermuth bewertet wurden.
Prof. Dr. Christina Holtz-Bacha von der Universität Erlangen-Nürnberg stellte in ihrem Vortrag die Grundzüge des ÖRR vor und inwiefern das System über die Jahrzehnte unter Druck geraten ist. Dabei stellt sie fest, dass der Zuschaueranteil über die letzten Jahre zwar gewachsen ist, fragt aber kritisch, inwiefern das heutige Programm in Fernsehen und Radio wirklich dem Prinzip der medialen Grundversorgung gerecht wird. Ein wesentlicher Fehler, der gemacht wurde, besteht laut ihrer Aussage darin, dass der ÖRR mit den privaten Sendern in die Konkurrenz um Quoten gegangen sei. Inwiefern gehen Reichweitenkalkulation und die damit einhergehende Werbevermarktung mit den inhaltlichen Ansprüchen des ÖRR zusammen und führte dies nicht letzten Endes zur Identitätskrise im ÖRR?
Der Gründer des WDR-Radiosenders 1Live Jochen Rausch war 20 Jahre Programmchef des Senders. 1Live ist einer der größten jungen Sender in Europa. Auch hier musste man sich mit der Konkurrenz der privaten Radiosender auseinandersetzen, was seiner Meinung nach im Massenradio dazu führte, dass kaum noch Unterschiede zwischen privat und öffentlich ausgemacht werden konnten. Kritikpunkte bei ihm sind die oft zu engen Musikrotationen. So gebe es Radiosender, bei denen der vollständige Pool gerade mal 300 bis 500 Titel umfasst. Auch würde zu wenig Augenmerk auf Wortbeiträge gelegt. Im Bereich Podcasts sieht er bislang noch „kein Massenpublikum“, zwar würden hier junge und gebildete Schichten gut abgeholt, allerdings könne bislang keine große Breite vergleichbar mit dem Radio erreicht werden. Rausch wünscht sich für die Zukunft neue Formate, weiß aber auch, dass die meisten Redaktionen im öffentlichen Radio unterbesetzt sind. Seine Kommentar: „Wir bewegen uns an der Oberfläche“. Eigentlich ein Widerspruch, wenn fundierte Einordnungen zum einen (auch in der Selbsteinschätzung) gefordert werden, aber mangelnde Kapazitäten offenbar immer nur dafür reichen, die Fettaugen von der Suppe abzuschöpfen.
In den Diskursen um den ÖRR wird heute immer wieder über Public Value gesprochen. Welchen Wert hat der Rundfunk für die Gesellschaft? Kann der ÖRR für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Selbstbestimmung sorgen bzw. einen Beitrag dazu leisten? Prof. Dr. Alexander Filipović, Medienethiker an der Universität Wien, analysierte den ÖRR aus philosophischer und ethischer Sicht. Zu den Funktionen und Leistungen des ÖRR erklärt er: „Die Frage lautet jetzt, wie sich der ÖRR im Licht der ethischen Grundoptionen (Demokratie, Gemeinwohl, Integration) darstellt.“ Und: „Der naheliegende Verdacht lautet, dass die sozialethischen Ansprüche an den ÖRR höher sind als in die Medien der öffentlichen Kommunikation schlechthin?“ Gerade der digitale Strukturwandel würde große Institutionen wie den ÖRR oftmals überfordern. Filipović fordert aber auch „großen Mut und Experimentierfreude, nicht auf der Ebene der Distribution, der Formate und der Inhalte, sondern auch auf organisationeller Ebene.“
Große Schiffe lassen sich schwer navigieren. Ein Tenor, der in den Diskussionen immer wieder zum Vorschein kommt. Kann eine Struktur, die Mitte des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde, auf die Anforderungen der Digitalisierung überhaupt zeitgemäß reagieren und die Medienwelt proaktiv mitgestalten? Es handelt sich offensichtlich um einen gigantischen Knoten, der auch im Rahmen der Tagung nicht gelöst werden konnte. Der intergenerationale und interdisziplinäre Austausch der Teilnehmenden zeigte aber auch, dass der Bedarf für einen ÖRR weiterhin besteht. Der Auftrag allerdings besser kommuniziert werden könnte, um gerade die junge Generation, die heute vermehrt non-lineare Inhalte konsumiert, in das Programm zu integrieren.
Zwei Bereiche wurden für die Zukunft des ÖRR als zentrale Baustellen ausgemacht: Transparenz und Partizipation. Wie lassen sich Zuschauer:innen integraler in die Programmgestaltung involvieren? Führt mehr Partizipation nicht auch zu mehr Identifikation mit dem ÖRR? Haben Sendeanstalten Nachholbedarf, wenn es um die transparente Darstellung der Arbeit von Rundfunkräten und Intendant:innen geht? Lassen sich Vorurteile entkräften, wenn der ÖRR aktiver in den Dialog mit den Zuschauer:innen geht? Wie weit kann man mit dieser Interaktion überhaupt gehen? Wollen das die Leute überhaupt? Wie demokratisch kann und soll der ÖRR sein? Die Tagung endet erwartungsgemäß nicht mit absoluten Antworten, aber dafür mit vielen konstruktiven Fragen. Das Schaffen von Kanälen und Infrastrukturen für diese partizipativen Diskurse könnte aber ein wesentlicher erster Schritt sein, um die Rolle des ÖRR in der Gesellschaft neu zu positionieren. Wie dies in der komplexen Welt der föderalen Senderlandschaft umgesetzt werden kann, wird sich aber dann zeigen müssen.