Nennt es nicht Künstliche Intelligenz!Understanding Digital Capitalism III | Teil 2
4.12.2017 • Gesellschaft – Text: Timo Daum, Illustration, Infografiken: Susann MassuteSo lange noch nicht geklärt ist, was Intelligenz wirklich ist und ausmacht, ist KI kaum mehr als ein werbewirksamer Marketing-Begriff. Alan Turing verwarf die Idee, dass Maschinen denken können, vorausschauend als absurd, weil die Parameter nicht geklärt sind. Was ist eine Maschine und was bedeutet es, zu denken? Während uns die Industrie einen schwammigen Forschungsbereich also weiterhin als Wissenschaft verkauft, klärt Timo Daum im zweiten Teil der neuen Staffel von »Understanding Digital Capitalism« die Basics des Alexa-Scheiterns.
Vor zwei Wochen ging es um die Frage, was künstliche Intelligenz ist. Zur Erinnerung: Vor nunmehr 70 Jahren definierten sie die Gründer der Disziplin als „eine Maschine, die sich so verhält, dass – wäre sie ein Mensch – wir sie für intelligent halten würden.“ Diese etwas schrullig und verquast klingende Formel ist seitdem ununterbrochen Gegenstand angeregter Debatten. Viel mehr als das Schlagwort selbst ist übrigens bei dem Event nicht herausgekommen. Diesmal geht es um den Intelligenz-Begriff selbst, Turings berühmten Test und um Gender geht es auch. Abschließend mache ich einen Vorschlag zur Vermeidung des Begriffs Künstliche Intelligenz.
– In memoriam Tom Fehse (*16.11.1978 † 30.10.2017)
1. Was ist Intelligenz?
Das Merriam-Webster Dictionary liefert folgende Definition: „Die Fähigkeit zu lernen oder zu verstehen oder mit neuen Situationen umzugehen, auch: die Anwendung von Wissen um die Umgebung zu verändern oder abstrakt zu denken in etwa durch Tests messbarer Weise.“ Aber kann ich Intelligenz tatsächlich messen, und sind die erwähnten Fähigkeiten (Lernen, Verstehen, Abstrahieren) definier- und quantifizierbar?
Dem US-amerikanischen Mathematiker Claude Shannon war es in den 1940er-Jahren gelungen, aus dem unscharfen, schillernden Alltagsbegriff Information eine mathematische Größe zu machen. In seiner berühmten Abhandlung von 1949 interpretierte er Information als statistische Größe und konstatierte: „Der Informationsgehalt einer Nachricht liegt in der statistischen Wahrscheinlichkeit. Information wurde quantifizierbar, Shannon selbst erfand die bis heute gültige Maßeinheit – bit, bzw. binary digit. Die Informatik als Wissenschaft der maschinellen Verarbeitung von Information (ein von Karls Steinbuch in den 1950er-Jahren kreiertes Kunstwort, gebildet aus Information und Mathematik) hatte ihre Grundlage bekommen.
Ganz anders verhält es sich bei der wenig später entstehenden Disziplin Künstliche Intelligenz: Ihr Gegenstand entzieht sich einem analytischen Zugriff. Intelligenz ist nicht modellierbar. Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe. Entweder wir definieren Intelligenz vom Ergebnis her, entwickeln einen Test, wie Alan Turing das vorschlug – dazu später mehr – oder wir klammern uns an das biologische Substrat menschlicher Intelligenz und erklären das materielle und funktionale Gehirn zu deren Voraussetzung. Das hilft uns aber nicht viel weiter, weil wir zwar viel über Biochemie, Neuronen und Ströme wissen, aber noch weit von einem umfassenden Verständnis des menschlichen Gehirns entfernt sind.
Künstliche Intelligenz ist also ein Forschungsbereich, aber keine wissenschaftliche Disziplin: Es gibt keine Theorie und demzufolge auch keine mathematische Formalisierung derselben. Kurz: Wir wissen nicht, was Intelligenz ist, was sie ausmacht, wie sie zustande kommt oder funktioniert, zumindest nicht in der Art und Weise, wie wir wissen, wie ein Auto funktioniert. Der anerkannte KI-Experte Jerry Kaplan schreibt resigniert: „Intelligenz als kohärentes Konzept, das formale Analyse, Messung und Reproduktion erlaubte, mag gut und gerne eine Illusion bleiben.“
2. Ist Intelligenz messbar?
Es gibt eine Vielzahl an Tests, die für sich beanspruchen, genau das zu tun und das Ergebnis in einer Zahl ausdrücken zu können, dem sogenannten Intelligenz-Quotienten. Der Test für Medizinische Studiengänge (TMS) etwa, der weithin als Mediziner-Test bekannt ist, beansprucht für sich, über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg die Essenz menschlichen Denkvermögens prüfen und quantifizieren zu können. Allein die Tatsache, dass für den Mediziner-Test zahllose Vorbereitungsseminare angeboten werden, widerspricht dem eigentlich.
Der geniale Mathematiker Alan Turing nahm sich des Themas an und stellte 1950 in seinem berühmten Artikel „Rechenmaschinen und Intelligenz“ die Frage, ob Maschinen denken könnten, um sie sofort als „absurd“ zu verwerfen. Denn schon die Diskussion darüber, was denn eine „Maschine“ und was mit „denken“ eigentlich gemeint sei, ist ihm zufolge zum Scheitern verurteilt. Turing schlägt vor, den Versuch einer solchen Definition zu verwerfen und stattdessen eine andere Frage zu stellen, die mit dieser eng verwandt ist, sich dafür aber eindeutig beantworten lässt. Was nun folgt, ist sein Beitrag zur aufkommenden Disziplin: der berühmte Turing-Test der Künstlichen Intelligenz.
„Die neue Form des Problems lässt sich in Terms eines Spiels beschreiben, das wir das ‚Imitationsspiel‘ nennen. Es wird von drei Personen gespielt, einem Mann (A), einer Frau (B) und einem Fragesteller (C), der beiderlei Geschlechts sein kann.“
Darin besteht das von Turing vorgeschlagene Imitationsspiel (so auch der gleichnamige Film über Turings Verdienst auf dem Gebiet der Kryptoanalyse, dem Lösen der „Enigma“-Verschlüsselung mit Hilfe einer Rechenmaschine, bei dem ein Mann so tun muss, als sei er eine Frau. In einer Art Travestie muss er den neutralen Fragesteller erfolgreich hinters Licht führen, das Verhalten einer Frau perfekt imitieren oder vielmehr der bei C existierenden Erwartung, wie sich eine Frau verhält, bestmöglich entsprechen. Die Frau wiederum muss die neutrale Instanz vom Gegenteil, sprich von der Wahrheit überzeugen. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Der homosexuelle Alan Turing schlägt eine Art queeres Quiz vor.
Turing fährt fort: „Was passiert, wenn eine Maschine die Rolle von A in diesem Spiel übernimmt?“ In einem zweiten Schritt ersetzt Turing den Mann durch eine Maschine. Dieser obliegt jetzt, die gleiche Täuschung zu versuchen: Sie muss nun so tun, als sei sie die Frau. Wird der Fragesteller sich in diesem Fall ebenso oft falsch entscheiden, wie dann, wenn das Spiel von einem Mann und einer Frau gespielt wird? Dieses Problem tritt an die Stelle der eingangs gestellten Frage, ob Maschinen denken können.
Alan Turing kann also mit seinem Imitationsspiel durchaus als intellektueller Vorläufer moderner Auffassungen von Geschlecht gelten. 1952 wurder er wegen „grober Unzucht“ – er hatte eine Affäre mit einem Mann – verurteilt. Er bekannte sich schuldig, wurde chemisch kastriert, woraufhin er eine Depression entwickelte und kaum zwei Jahre später an einem – vermutlich von ihm selbst – vergifteten Apfel starb. Im vergangenen Jahr erhielt er von der Königin von England eine längst überfällige posthume Entschuldigung.
3. Was ist ein Mann, was ist eine Frau? Wann ist ein Mann eine Frau?
Es geht Turing hier um zweierlei. Erstens darum, sich von jedem Essenzialismus zu lösen und die Frage abzukoppeln vom biologischen Substrat. Und zweitens die Beantwortung der Frage gleichzusetzen mit dem erfolgreichen „So-tun-als-ob“. Es geht ihm nicht um eine wie auch immer geartete „echte“ Intelligenz. Das erfolgreiche Vorspiegeln derselben ist hinreichend – ein quasi agnostischer Intelligenz-Begriff. Entscheidend ist, was hinten rauskommt. Mit anderen Worten: Intelligenz wird zur performativen Kategorie.
Erinnert seine Herangehensweise nicht stark an Judith Butlers Gendertheorie? Diese fragte in ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“, was eigentlich Geschlecht ist. Ist es biologisch determiniert, oder ist, was wir als Frau und Mann bezeichnen, definiert durch eine bestimmte Verhaltensweisen und gesellschaftliche Codes? Judith Butler ist es zu verdanken, die Beantwortung dieser Frage einerseits – in einer Turings Überlegung ähnlichen De-Essenzialisierung vom biologischen Geschlecht (sex) gelöst und andererseits als soziales Konstrukt (gender) definiert zu haben, das sich jeglichen körperlichen Essenzialismen verweigert und es ausschließlich als Emanation einer sozialen Praxis bestimmt. Ging es hier nicht auch darum, sich vom sex, also der körperlich-biologischen Essenz, zu lösen und darum, dass Gender eben in performativen Akten konstituiert wird, in denen sich die Person und ihre Umgebung im Rahmen fester Rollenvorstellungen ihres sozialen Geschlechts durch Handlungen, eben performativ, versichert?
Ich wage die These, dass Judith Butler ihre Inspiration bei Alan Turings Imitationsspiel erhalten hat.
Gender als performative Praxis ist ein Imitations-Spiel: Ich imitiere Verhaltensweisen, die als männlich oder weiblich gelten, diese oder jene geschlechtliche Position in der heterosexuellen Matrix bedeuten, und damit konstruiere ich in einem unendlichen Prozess mein soziales Geschlecht, bis der neutrale Beobachter (C) restlos davon überzeugt ist, ich sei ein Mann oder eine Frau.
4. Wann ist es soweit mit der Künstlichen Intelligenz?
Alan Turing selbst wagte eine Prognose: Er schätzte die Speicherkapazität des menschlichen Gehirns auf 1010 bis 1015 Bit, der damals noch ganz jungen digitalen Speichereinheit; Computer mit 107 Bits schienen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 1950 in Reichweite zu sein: „Es sollte mich überraschen, wenn mehr als 109 [Bits] erforderlich wären, um das Imitationsspiel befriedigend zu spielen (Beachte: die Kapazität der Encyclopaedia Britannica beträgt 2 x 109).“ Der erste algorithmische Schachweltmeister (IBMs Deep Blue) verfügte 1996 über 36 Knoten à 1010 Bit, jeder handelsübliche Laptop verfügt heutzutage über ca. 1011 Bit Arbeitsspeicher, und doch hat meines Wissens bis heute kein Computer den Turing-Test bestanden bzw. das Imitationsspiel gewonnen.
5. Nennt es nicht Künstliche Intelligenz!
Wenn wir über Künstliche Intelligenz reden, hantieren wir mit einem schwer zu fassenden Begriff. Außerdem schwingt immer der Vergleich mit dem Menschen und seinen geistigen Fähigkeiten mit. Daher möchte ich Zweierlei vorschlagen: Wir sprechen nicht über Künstliche Intelligenz, sondern nennen es einfach anders, zum Beispiel Software 2.0 (An dieser Stelle würde ich mich über Vorschläge aus der Leserschaft freuen, vielleicht findet sich ein adäquaterer Begriff).
Im Übrigen sollten wir nicht darüber reden, ob oder wie intelligent ein Algorithmus oder eine Maschine sind, sondern welche Aufgaben sie auf welche Weise und in welchem Maße erfolgreich bewältigen können. Dann werden Eliza, Deep Blue oder Watson plötzlich zu etwas ganz und gar Irdischem. Wie Blitz und Donner das Magische verlieren, sobald ihre wissenschaftliche Erklärung bekannt ist, so entmystifiziert auch das Verständnis, wie eine Software oder ein Automat die ihnen aufgetragenen Aufgaben lösen, ihre Magie. Und das ungeachtet dessen, ob es sich bei der gelösten Aufgabe um eine einfache Rechnung, um das Steuern eines Fahrzeugs oder das Führen eines Gesprächs in natürlicher Sprache handelt.
Quellen und Links
Alan M. Turing, Rechenmaschinen und Intelligenz, in: Ad libitum, Sammlung Zerstreuung, Berlin 1990, Band 18, S. 111- 150.
Tom Hawking, Alan Turing and the Myth of Gender Essentialism, flavorwire, 25.11.2014
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