Über die unsichtbare Hand des PlansInterview mit Sabine Nuss und Timo Daum
21.5.2021 • Gesellschaft – Interview: Ji-Hun KimDer Begriff der Planwirtschaft ist vermint und in heutigen kapitalismuskritischen Diskursen kaum zu gebrauchen. Dennoch oder gerade deshalb widmen sich Sabine Nuss und Timo Daum in ihrem aktuell herausgegebenen Buch „Die unsichtbare Hand des Plans“ genau diesem Thema – und finden, dass gerade im Zeitalter des digitalen Kapitalismus mehr denn je geplant wird und hier tatsächlich Potentiale zu finden sind, globale Ökonomien demokratischer zu denken und wieder mehr an eigentlichen Bedürfnissen zu orientieren. In dem Buch finden sich zeitkritische Beiträge von unter anderem Geert Lovink/Ned Rossiter, Anna-Verena Nosthoff/Felix Maschewski, Sun Wei, César Rendueles und vielen mehr. Ji-Hun Kim sprach mit beiden über einen (un)möglichen grünen Kapitalismus, mehr Kooperation statt Konkurrenz und weshalb die freie Marktwirtschaft alles andere als gottgegeben ist.
Was war die Prämisse eures Buchprojekts?
Sabine Nuss: Die erste Prämisse für uns war, dass die moderne Ökonomie, wie wir sie kennen, nicht zur besten aller möglichen Welten führt. Zweitens gehen wir davon aus, dass grundsätzlich in jedem ökonomischen Prozess und in jedem Arbeitsprozess geplant wird. Die Frage ist nur, zu welchem Zweck geplant wird und wie man plant. Davon ausgehend war für uns natürlich die zu beobachtende Renaissance der Planwirtschaftsdebatte interessant. Auslöser für diese zarte Wiederbelebung von Fragen ökonomischer Planung waren die neuen Technologien, algorithmische Steuerung, digitale Vernetzung, Big Data, usw. Wir wollten diese Debatte mit dem Buch weiter vorantreiben. Da war es uns natürlich auch wichtig zu fragen: Wie wird denn im digitalen Kapitalismus geplant? Inwiefern sind Marktverhältnisse auch Herrschaftsverhältnisse? Und gibt es mit den neuen Technologien ein Potential für emanzipatorische Alternativen?
Timo Daum: Wir sind ja mit der Opposition von Plan und Markt alle aufgewachsen: Planwirtschaft ist Murks, siehe real existierender Sozialismus. Marktwirtschaft auf der anderen Seite wird als ideales Instrument für die Allokation von Ressourcen und die Befriedigung von Kundenbedürfnissen und auch für Innovation gefeiert, Marktwirtschaft als ideale Reinform des Kapitalismus. Es gibt also historisch eine Verknüpfung zwischen Planwirtschaft und Sozialismus auf der einen, und Marktwirtschaft und Kapitalismus auf der anderen Seite. Das ist zunehmend fraglich geworden. Das Argument der freien Marktwirtschaft ist eine rein ideologisch geführte Debatte. Wir haben es heute mit Monopolen zu tun. Plattformen sind alles andere als freie Märkte. Zunächst: Wird im Kapitalismus nicht schon immer geplant? Innerhalb der Betriebe ist da so, da wird nichts dem Markt innewohnenden Kräften überlassen. Dann: Im digitalen Kapitalismus gibt es Plattformen, neue Technologien wie KI. Es entsteht ein sogenannter Voraussage-Kapitalismus, in dem selbst Befriedigungen von Kundenbedürfnissen geplant werden können. Auf der anderen Seite bedeutet das aber auch für uns Linke, Kapitalismus-Kritikerinnen und -Kritiker – für diejenigen, die eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus zeichnen wollen –, dass es nicht reicht zu sagen: Wir machen vernünftige Planwirtschaft im Gegensatz zum chaotischen Markt, zur wilden Konkurrenz, zum Kampf aller gegen alle im Kapitalismus. Da müssen wir schon mehr bieten als nur das Stichwort Plan.
Es geht zum einen um das Definitorische, wenn ich es richtig verstehe, also den Terminus der Planwirtschaft so aufzuarbeiten, dass er eben nicht nur mit Lenin oder Bauernstaat, LPG und Sozialismus gleichgesetzt wird. Geht es auch um eine Rehabilitation des Begriffes?
Sabine Nuss: Meine Position ist es, auf die alten Begriffe, wie beispielsweise Planwirtschaft, die stark mit der Geschichte verknüpft sind, weitgehend zu verzichten. Planungsprozesse sind ja nicht per se schlecht, im Gegenteil, gerade jetzt in der Pandemie merken wir, was eine gute Planung ausmachen würde, wenn sie nicht komplett verlernt wäre, da wir so viel dem Markt übergeben haben. Sobald du aber von »Planwirtschaft« sprichst, hast du das Problem, dass du sofort in die Ecke des historischen, real existierenden Sozialismus gestellt wirst mit seinen schlimmsten Erscheinungsformen: Gulag, verletzte Menschenrechte, Repression, marode Häuser, Mangelwirtschaft und so fort. Damit ist dann aber jede weitere Diskssion unterbunden. Auf Twitter hatte ich kürzlich eine Diskussion, da ich sinngemäß twitterte, dass eine demokratisch organisierte Ökonomie schön wäre. Und sofort wurde entgegnet: das ist zentrale Planwirtschaft und habe noch nie funktioniert. Und schon ist man bei der Diskussion über die DDR und man ist nur dabei zu erklären, was man alles nicht meint. Ich will aber lieber drüber sprechen, wie demokratisierte Produktion jenseits von zentraler Planwirtschaft gehen könnte. Es scheint aber, als gäbe es in den Köpfen der Leute nur zwei Dinge: den freien Markt oder die Planwirtschaft. Darüberhinaus zu denken – das wünsche ich mir. Den Begriff der Planwirtschaft müsste man demnach nicht rehabilitieren, sondern vermeiden und gleichzeitig eher von kooperativer Ökonomie sprechen. Das ist für mich ein guter Begriff, weil hier auch die Konkurrenz kritisiert wird und der Schwerpunkt auf der Kooperation liegt.
„Es scheint, als gäbe es nur den freien Markt oder die Planwirtschaft. Darüberhinaus zu denken, das wünsche ich mir. Den Begriff der Planwirtschaft müsste man demnach nicht rehabilitieren, sondern vermeiden und eher von kooperativer Ökonomie sprechen. Das ist für mich ein guter Begriff, weil hier auch die Konkurrenz kritisiert wird und der Schwerpunkt auf der Kooperation liegt.“ (Sabine Nuss)
Timo Daum: Ich stimme dir zu, dass der Begriff Planwirtschaft ausreichend vergiftet ist. Bei der historischen Kalkulationsdebatte der 1920er Jahre geht es eigentlich um ein Informationsproblem. Eine zentrale Planung könne niemals genug Informationen verarbeiten, um tatsächlich die einzelnen kleinen Granulate, einzelne Transaktionen wirklich vernünftig abzubilden – das Wissen über Bedürfnisse etc. seien jetzt dezentral. Das könne nur ein Markt letztendlich lösen. Soweit die Österreichische Schule: Wenn man das ernst nimmt, ist das ein informationstheoretisches Problem. Ein Problem von Datenvolumen, Taktfrequenz etc. Heute sind wir tatsächlich in der Situation, dass wir darüber als Informationsproblem debattieren können. Zudem sind wir in der Lage, Informationen tatsächlich bis ins kleinste Detail zu verarbeiten. Wir kennen das von Unternehmen wie Amazon.
China nimmt einen großen Teil eures Buches ein. Da könnte man wieder von kommunistischer Planwirtschaft statt von kooperativer Wirtschaft sprechen. Auch hier gab es Agenden, die über viele Jahre geplant wurden. Ich würde jetzt der chinesischen Planwirtschaft nicht unterstellen, dass es eine kooperative, nachhaltige humane Ökonomie ist. Lass uns darüber sprechen, wie seht ihr das?
Sabine Nuss: Ich würde das die chinesische Variante des Kapitalismus nennen, weil dort nach wie vor Gewinn, Waren- und Geldtausch eine Rolle spielen. Das System ist dominant, und Herrschaftsverhältnisse inklusive Menschenrechtsverletzungen stehen auf der Tagesordnung. Daher würde ich das nicht als emanzipatorische, kooperative Ökonomie bezeichnen. Für mich ist das eher Industriepolitik, also massive staatliche Intervention. Meine Frage ist: Nähern sich die Modelle Ost und West einander an oder wird es Alternativen geben? Das bleibt offen, von EU-Seite wird ja seit einiger Zeit eher Kritik am chinesischen Modell formuliert, weil es sich durch seine starke Industriepolitik unlautere Wettbewerbsvorteile gegenüber der EU und anderen Weltmächten verschaffen würde.
Timo Daum: Es gibt ein Buch – „People’s Republic of Walmart“ –, das für die Entstehungsgeschichte unseres Buchs wichtig war. Die Autoren schreiben, dass die Sowjetunion und Walmart die beiden ungleichen Geschwister der undemokratischen Planung sind. Bei beiden handelt es sich um planerische Institutionen, die eine riesige Maschinerie am Laufen halten. Aber beide Systeme unterdrücken Menschen, sie beuten aus. Das Argument der freien Marktwirtschaft ist eine rein ideologisch geführte Debatte. Wir haben es heute mit Monopolen zu tun. Plattformen sind alles andere als freie Märkte. Egal wohin man schaut – wir haben es mit globalen Infrastrukturen zu tun. Global-planerische Institutionen, in denen die Markmechanismen, wenn überhaupt, nur noch an anderen Rändern stattfinden. Der Investor Peter Thiel, der sich im Silicon Valley gut auskennt, sagt: Wettbewerb und Markt – das ist was für Dummies, für Loser. Natürlich will man alles platt machen, das Monopol sein, der eine Player sein.
Kapitalismus und Demokratie basieren oft auf sehr unterschiedlichen Prinzipien. Die CEOs von Amazon oder Daimler werden nicht von der Belegschaft gewählt – und die Spitze wechselt auch nicht alle vier Jahre. Die vemeintliche Erfolgsgeschichte Chinas der letzten Jahrzehnte beruht auf dem Narrativ, dass man eben so viele Jahrzehnte systemimmanent planen konnte, um die landesweite Armut beispielsweise zu bekämpfen.
Sabine Nuss: Wenn nach der Bundestagswahl tatsächlich Grün-Rot-Rot an die Macht kommen sollte, könnte ich mir vorstellen, dass unter diesem Regime dem Kapital ein paar Manschetten mehr angelegt werden – Umweltauflagen oder die Bepreisung von CO2. Unter Bedingungen von Weltmarktkonkurrenz ist das natürlich im nationalen Alleingang schwierig, weil Konkurrenz ja auch über Umweltauflagen läuft – wer hat die für das Kapital günstigsten Bedingungen? Da werden wir sehen, wie viel die überhaupt verändern können. Was ja grundsätzlich gilt, ist, dass die Unternehmen in einer Ordnung fungieren, die auf Privateigentum beruht. Und Privateigentum verkörpert das Prinzip: Ich produziere mit dem Zweck, mein Kapital zu vermehren, in der Konkurrenz gegen andere und versuche, Absatzmärkte zu gewinnen. Und das tue ich natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Ich lege meine Produktionskenntnisse und -zahlen nicht offen. Ich verrate mein Betriebsgeheimnis nicht. Genau das Problem haben wir jetzt mit den Impfpatenten, die nicht freigegeben werden. In der Tat: Mit Demokratie hat das wenig zu tun. Wir haben nun das Paradox, dass der Staat allerdings genau die Bedingungen dafür schafft, dass die Unternehmen so undemokratisch agieren. Er schafft einen Nährboden für Konkurrenz und zwar so, dass sie auf seinem Boden möglichst gut gedeiht und so das Kapital es möglichst gut hat – niedrige Löhne, niedrige Umweltauflagen und so weiter. Und andererseits muss er dann wieder eingreifen, wenn das Kapital die Umwelt zerstört. In diesem Spannungsverhältnis bewegen sich eigentlich alle Regierungen.
Timo Daum: Wir haben Beiträge in dem Buch, die sich mit der Frage beschäftigen, wie wir ökonomische Entscheidungen irgendwie demokratisch treffen können? Hier heißt es dann, wir haben doch die Technologie, wir haben das Internet. Wir können digitale Wahlen veranstalten. Und damit könne sich doch alle beteiligen und Entscheidungen treffen. In den Beiträgen des Buchs wird praktisch davor gewarnt, dass diese politische planerische Deliberation nicht so aussehen kann. Sondern dass da vielleicht auch ganz neue Wege beschritten werden müssen, wir nicht in eine soluzionistischen Optimierungsfalle reintappen dürfen. Zum Thema Markt und Monopol noch eine Anmerkung. Das hat Joseph Schumpeter schon vor vielen Jahren geschrieben. Er beschreibt ebenfalls die Tendenz zu Monopolen. Er erkennt die Prozesse, die wir heute Disruption nennen. Dass praktisch in einer monopolistischen Situation ein neuer Player mit etwas ganz Neuem kommt, und so den Markt und die Bedingungen selbst revolutioniert. Innovationsdynamik ist trotz des monopolistischen Kapitalismus möglich. Google, Facebook, Apple sind Herrscher ihrer Domänen, sind unangefochten und trotzdem Innovatoren ihrer Welt.
„Wenn wir von der unsichtbaren Hand des Plans sprechen, dann sagen wir, das Kapital ersetzt den blinden Markt durch den Plan. Und der bleibt aber unsichtbar, weil es Verhältnisse sind, die proprietär sind, versteckt von Copyright und Patenten.“ (Timo Daum)
Ihr sprecht und schreibt von der unsichtbaren Hand des Kapitals. Was hat man sich darunter vorzustellen? Man könnte auch Verschwörungen vermuten, wenn es unsichtbare Kräfte gibt, die aus dem Hinterzimmer alles regeln.
Sabine Nuss: Das ist ambivalent. Eigentlich dürfte gerade die Marktwirtschaft nicht der Verschwörung verdächtig sein, weil die Wirtschaftsakteure konkurrieren, sich also grade nicht abstimmen. Sie produzieren vielmehr blind für einen anonymen Markt. Aber intern planen sie natürlich, die Unternehmen. Aber wir nehmen die internen Planungsprozesse des Kapitals nicht wahr. Wir sehen nur Marktkräfte am Wirken. Dann gibt es zwei Aspekte, die Verschwörungsphantasien nahelegen. Zum einen Betriebsgeheimnisse, etc., also mangelnde Transparenz abgesichert über geistiges Eigentum, zum anderen aber führen die wirtschaftlichen Einzelinteressen in ihrem antagonistischen Wettbewerb zu Krisen, ein Auf und Ab der Konjunktur, zu Preissenkungen oder -steigerungen, etc., das wirkt wie von Geisterhand, als passiere es hinter unserem Rücken. Eine Wirtschaftskrise kann beispielsweise kaum prognostiziert werden auf den Monat oder das Jahr genau. Sowas kann gut als Projektionsfläche für Verschwörungen dienen: wo man nicht personalisieren kann, wer welche Bewegung verursacht, wird eine oder mehrere Personen ersonnen, die da vermeintlich dahinter stehen. Deshalb wäre es auch so wichtig, transparente Prozesse in der Ökonomie einzufordern. Die sichtbare Hand der Planung. Die war auch mal Ausgangspunkt der historischen Debatten, die wir in unserem Buch an den Anfang stellen. Wie lässt sich die Komplexität einer arbeitsteiligen Produktionsweise bewältigen, wenn es den einen großen Master nicht gibt, der alles sieht und weiß?. Die einen sagten damals, der Preis und damit der Markt sei das beste Mittel, um zu ermitteln, wie viele Hosen und wie viele Häuser wollen die Leute und wie kann es am effizientesten produziert werden. Die Kritiker sagten, im Preis sei soziale Ungleichheit eingeschrieben und ökologische Kosten ausgeblendet, der Preis sei daher keine neutrale Instanz und daher nicht die Lösung. Wie aber ohne Preis und damit Markt eine komplexe Ökonomie organisieren? Heute hat sich der Markt als derart alternativlos und naturhaft etabliert, dass man bei den zeitgenössischen Planwirtschaftsdebatten hinter diese sehr grundsätzlichen Fragen zurück fällt, sie kommen gar nicht mehr als Frage in den Sinn. Jetzt könntest du aber tatsächlich sagen, dass man mit Hilfe von Algorithmen und KI berechnen kann, wieviele Hosen, Bücher und Häuser benötigt werden. Amazon sagt uns heute schon, was wir morgen haben möchten. Dass wir aber mit dieser rein technologischen Möglichkeit, Bedürfnisse zu ermitteln, noch nicht die Entscheidung getroffen haben, was wir produzieren und was nicht, ist auch klar. Das ist keine technische sondern eine soziale Frage. Es geht nicht darum, die perfekte Technologie zu finden, sondern es geht darum, ein neues soziales Verhältnis zueinander zu finden, jenseits von Konkurrenz und Kapitalvermehrung um seiner selbst willen, also Profitmaximierung. Technologie ist nur ein Hilfsmittel, aber nicht schon die Lösung. Das Ziel sollte eine demokratische Ökonomie sein, die auf Kooperation beruht.
Timo Daum: Wenn wir von der unsichtbaren Hand des Plans sprechen, dann sagen wir ein Stück weit, das Kapital ersetzt den blinden Markt durch den Plan. Der bleibt jedoch unsichtbar, weil es Verhältnisse sind, die, das hat Sabine richtig gesagt, proprietär sind, versteckt von Copyright und Patenten. Das ist Betriebsgeheimnis. Zugespitzt ist also praktisch eine kapitalistische Planwirtschaft möglich. Das Management kann sich im Boardroom zurücklehnen und das System beobachten. Es greift nur im Notfall ein und hat alle Prozesse im Blick. Es gibt eine Software von SAP, die sich Digital Boardroom nennt, und die erlaubt, jederzeit in Arbeitsprozesse bis zur einzelnen Schraube einzugreifen. Das verstehe ich unter der unsichtbaren Hand des Plans. Was wir als Alternative anbieten müssen, ist mehr als das. Wir brauchen mehr Plan. Das ist ganz sicher. Wir wollen nicht zum chaotischen Marktgeschehen zurück. Aber das Entscheidende, was sich ändern muss, ist die Form, die die Arbeitsprodukte annehmen, die Warenform. Das müssen wir sprengen, mit der können wir nicht planen. Das hat auch der real existierende Sozialismus nicht geschafft.
Wer macht das aber? Schaut man sich die heutige Situation an, dann rennt die Politik zu Goldman Sachs, wenn es um finanzielle Fragen geht. Man fragt Google, Telekom und SAP, wenn die Bildung oder Kultur digitalisiert werden soll. Lässt man denen nicht zu viel Macht, deren Aktionsradius nicht eigentlich besser kontrolliert werden soll?
Timo Daum: Wir können uns umschauen, ob es nicht andere Systeme gibt. Nach Organisations- und Allokationsprinzipien, die nicht marktförmig, nicht wertförmig sind. Ich würde gerne drei erwähnen. Das erste ist das Internet. Diese Protokolle folgen ganz einfachen Vorschriften und Regeln, die die Struktur eines Systems beschreiben, das in den letzten 50 bis 60 Jahren fantastisch skaliert hat und Automatismen praktisch darstellt. Ein unglaublich komplexes System, in dem Datenpakete von A nach B transportiert werden. Ein weiteres System, um den Begriff von Luhmann zu nehmen, ist die Wissenschaft. Die Wissenschaft ist nicht wertförmig und schafft es trotzdem, weltweit mit unglaublich komplexen Sachverhalten tatsächlich an einem Korpus an Wissen zu arbeiten, mit Korrekturmechanismen und so weiter. Da geht es weder um Preis, noch zentrale Macht. Drittes Beispiel: Wikipedia ist gerade 20 Jahre alt geworden. Ein oft bemühtes Beispiel, aber Wikipedia ist heute ein Produktionsmittel für uns geworden. Es ist ja nicht irgendein Projekt mit Texten, es handelt sich um eine der wichtigsten Ressourcen für Informationen weltweit und das ist auch Open Source – nicht wertförmig. Es gibt also gute Beispiele, da bin ich ein bisschen hoffnungsvoll.
Sabine Nuss: Es gibt viele andere Beispiele. Man könnte den Freizeit- und Care-Bereich nennen, hier existieren auch keine Waren-Geld-Beziehungen, die ja Tendenz oder Zwang zur Kapitalverwertung in sich tragen. Ich sehe da aber ein Bewusstseinsproblem. Es heißt immer: Wenn wir Waren, Geld, Konkurrenz und Profitmaximierung aus der Welt nehmen, liegen wir alle nur noch faul auf dem Sofa und verhungern dann. Die Wirtschaftsform, die wir heute kennen, existiert seit 500 Jahren, aber auch zuvor haben Menschen überlebt. Es gibt einen Selbsterhaltungstrieb der Gattung Mensch, da wird sich niemand in die Hängematte legen. Aber: Das Kapital geht in der Regel dorthin, wo die Profitrate den durchschnittlich höchsten Profit erzielt. Dort ziehen die Kapitalmassen hin, dort wird dann auch produziert, bis der Markt gesättigt ist. Produktionsentscheidungen werden durch solch einen Mechanismus getroffen und selten durch eine bewusste Entscheidung der Menschen. So entsteht eine Innovationsdynamik, es gibt alle zwei Jahre ein neues iPhone, was aber auch eine zerstörerische Kehrseite hat, wie wir wissen. Die Gretchenfrage lautet also: Wie ersetzt man diesen Mechanismus, wenn du nicht mehr die Konkurrenz hast und nicht mehr permanent nur für die höchstmögliche Profitrate produzierst? Und das ist eine Frage, die diskutiert werden muss. Und eigentlich kann das nur nach dem Kriterium demokratischer Aushandlungsformen passieren.
„Ich bezweifle, dass ein grüner Kapitalismus funktionieren kann, weil es ein Widerspruch an sich ist – Wachstumszwang und Ressourcen.“ (Sabine Nuss)
Wie hat man sich das in der Praxis vorzustellen?
Timo Daum: Ich drücke dem grünen Kapitalismus die Daumen, dass er es, ohne an den Grundfesten unserer Gesellschaftsordnung zu rütteln, schafft, die Klimaerwärmung auf zwei Grad zu begrenzen und trotzdem an Profit, Gewinn und Geld verdienen zu perpetuieren. Als radikaler Gesellschaftskritiker oder Kommunist ist aber meine Aufgabe, die Totalität nicht aus dem Blick zu verlieren. Auch angesichts der vielen kleinen Schritte. Ich gehe gerne für ein Tempolimit auf die Straße, das ist sehr wichtig. Es gibt aber gesellschaftliche Abstraktionen, Dinge, die hinter unserem Rücken passieren. Das, was bei Hegel, Marx und Žižek, Ideologie heißt. Die unsichtbaren Verhältnisse, die uns alle prägen. Darauf müssen wir den Scheinwerfer richten, auf die Designfehler unserer Gesellschaftsordnung.
Sabine Nuss: Zur Zeit des Feudalismus war ja alles gottgegeben. Dass jemand Leibeigener war, war scheinbar durch Gott bestimmt. Das wurde auch nicht hinterfragt. Heute sehe ich das auch. Dass viele den Kapitalismus zum großen Teil als eine Wirtschaft verstehen, bei der sich rechtlich gleiche und freie Subjekte als Tauschende begegnen und ihre jeweilige Cleverness ihren Erfolg bestimmt. Herrschaftsverhältnisse sind hier nicht sichtbar. Und diese Marktwirtschaft wird als eine ganz natürliche Form des Menschenumgangs wahrgenommen, die es so immer schon gab. Ich zweifle zwar auch, dass ein grüner Kapitalismus funktionieren kann, weil es ein Widerspruch an sich ist – Wachstumszwang und Ressourcen. Nichtsdestotrotz denke ich, wird wahrscheinlich auch ein Übergang in die postkapitalistische Gesellschaft nicht ganz bewusst von allen so vorangetrieben werden, so wie auch im Feudalismus keiner gesagt hat: Komm, wir schaffen jetzt bürgerliche Freiheit. Es wird eine Mischung sein.