Weltbekannt wider WillenBuchrezension: „Permanent Record“ von Edward Snowden

Permanent Record

Er ist eine der ikonischsten Figuren der Gegenwart. Dabei kann man schnell vergessen: Bekannt werden wollte Edward Snowden nie. Er hätte ganz bestimmt ein Leben im Privaten, wie er es versteht, bevorzugt. Es kam anders. Seine Autobiographie erzählt warum.

Wir alle kennen die Bilder aus dem Jahr 2013: Ein blasser, müder, etwas unsicher wirkender, häufig das Füllwort „äh“ verwendender junger Mann in einem Hotelzimmer in Hongkong richtet sich mithilfe zweier Reporter an die Öffentlichkeit. Was er zu sagen hat, verändert die Welt – Snowden verrät, wie die Regierung seines Landes, den USA, ein Spionagesystem aufgebaut hat, das seinesgleichen sucht. Das nicht nur Verdachtsfällen nachgeht, sondern praktisch die gesamte Kommunikation der Welt, private Chats, Nachrichten, Mails, Telefonate, Video und so weiter mitschneiden kann und dies auch im großen Stile tut. Edward Snowden ist heute der bekannteste Whistleblower aller Zeiten. Und sitzt seit Jahren mit seiner Frau Lindsay in Moskau fest. Eine Rückkehr in die Vereinigten Staaten würde die sofortige Verhaftung bedeuten. Die zu erwartende Strafe: zehn Jahre Gefängnis – pro Dokument. Er käme dann in 100.000 Jahren wieder frei, bei guter Führung etwas früher, denn die Zahl der Dokumente, die Snowden den Journalisten Glenn Greenwald, Laura Poitras und Ewen McAskill übermittelte, soll bei rund 10.000 liegen.

Trailer „Snowden“ von Oliver Stone, 2016

Snowden hat jetzt, gut sechs Jahre nach den dramatischen Ereignissen in Hongkong, seine Biografie veröffentlicht, „Permanent Record“. Das Buch nimmt uns mit auf (s)eine – erstaunlich interessante – Reise. Dass ein Daten-Nerd wie Snowden eine so spannende und unterhaltsame (Vor-)Geschichte zu erzählen hat, die ja auch in Oliver Stones Biopic nicht von Anfang an erzählt wird, überrascht tatsächlich schon etwas.

Recht idyllisch geht es los, wenn er berichtet, wie in den späten 1980er-Jahren der erste C64 ins Haus kam, wie er seinem Dad beim Arkanoid- und Flugsimulatorspielen zusah und irgendwann selbst ans Zocken kam – eine typische, heitere US-Kindheit. Die Nähe zum Staatsdienst im Allgemeinen und dem NSA im Besonderen ist von Anfang an da: Die Mutter arbeitet eine Weile dort, der Vater ist Beamter der Küstenwache, Verwandte waren Militärs und Kriegsveteranen – und das Land, auf dem die NSA sein Überwachungszentrum errichtet, gehörte, ein Irrwitz der Geschichte, den Vorfahren der Familie. Das Internet kommt ins Haus, Snowden junior entdeckt dessen Freiheiten und ist praktisch nur noch online, so viel, dass eine teure Flatrate angeschafft wird, damit seine Schwester parallel telefonieren kann. Zum ersten Mal zeigen sich Snowdens Programmierkünste, als er als Teenager digital in das Atomlabor von Los Alamos eindringt – ein paar Tage später kommt von dort ein Anruf mit Jobangebot. Aber Edward ist ja noch Schüler.
Dessen bis dato unbeschwertes Leben gerät aus den Fugen, als sich die Eltern trennen und er zudem mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat. Mit einem Trick gelingt es ihm, die drohende Wiederholung des Schuljahres zu umgehen und aufs College zu kommen. Während er dort ist, bekommt er einen Job in einem Start-up, das nur aus der Gründerin und ihm als Aushilfe besteht. Er ist unsterblich in sie verliebt, sie ist die Frau eines Staatsbeamten, ihr Büro befindet sich in der gemeinsamen Wohnung auf US-Sicherheitsgelände – und eines Tages versuchen alle Mitarbeiter dort, das Gelände möglichst schnell zu verlassen. Soeben sind zwei Flugzeuge in die Twin Towers gestürzt. Eine weitere Zäsur in Snowdens Leben: Er will etwas für sein Land tun, heuert beim Militär an, seine Karriere dort ist kurz und endet schmerzhaft, wer Oliver Stones Snowden-Verfilmung gesehen hat, kennt diese Episode.

Edward Snowden spricht mit Zeit-Redakteur Holger Starkund beantwortet Fragen des Publikums

Dann also dem Staat mit seinen wahren Skills dienen: der IT. Dieser Teil zählt zu den unterhaltsamsten des Buches, denn er macht klar: Das Gehirn der US-Geheimdienste ist großenteils outgesourct, es befindet sich in den Köpfen nerdiger, gepiercter, tätowierter IT-Cracks, mit denen Snowden zusammen den Freelance-Staatsdienst aufnimmt. „Homo contractus“ ist der Begriff, den er dafür verwendet. Nichtregierungsangestellte sitzen an den wahren, nämlich digitalen Schnittstellen, weil diejenigen, die klassische Staats- und Sicherheitsdienstkarrieren durchlaufen haben, es nicht können und sogar im Hochsicherheitsbereich auf Facebook unterwegs sind.

Doch während es um ihn herum kaum jemanden juckt, was da alles gespeichert und gesammelt wird, dass sich Mitarbeiter Nacktbilder von Privatpersonen wie Trophäen zeigen, wachsen bei Snowden die Zweifel, besonders während seiner Dienstzeiten in Japan und später Hawaii: Was geht hier eigentlich ab?

Er beginnt nicht nur, die Dokumente zu lesen (über deren Inhalte er sich auch in diesem Buch bedeckt hält), sondern versucht das System dahinter zu verstehen – wie die Überwachung organisiert und programmiert ist. Wir lesen, wie das interne Newsboard „Heartbeat“ funktioniert, wie die Systeme „Prism“ und „Upstream Collection“ organisiert sind – und wie Snowden in quälend langen Nächten Daten auf SD-Karten kopiert und die unter anderem in seinem Zauberwürfel durch die Sicherheitsschleusen bringt. Wir lesen aber auch, wie sich die – freilich sein Leben verändernde – Entscheidung, dieses zu tun, in ihm manifestiert, wie er seine privaten Daten löscht, sein Konto plündert, einen Flug nach Hongkong bucht, raus aus den „Five Eyes“, und dort zehn lange Tage und Nächte auf die Ankunft der Journalisten wartet. Diese Reise ins Ungewisse sei eine Vorbereitung gewesen, als würde man seinen eigenen Tod vorbereiten, schreibt er an einer Stelle sehr treffend.

Was ab dann geschieht, kennt die Welt und doch ist es allein durch die subjektive Perspektive Snowdens hochinteressant zu lesen: Das Video aus dem Hotel, das Untertauchen in der Stadt, der gescheiterte Versuch, über Moskau und Havana nach Ecuador zu fliehen/fliegen, viele Tage am Flughafen in Moskau, schließlich das Asyl in Russland, das vorerst nur bis 2020 gilt. Einen spannenden Sichtwechsel gibt es zum Ende des Buches: Snowdens Frau hat sich bereit erklärt, einige Seiten aus ihren Tagebüchern bereit zu stellen, in denen sie sein plötzliches Verschwinden und alles, was dann passiert, aus ihrer Perspektive darlegt.

„To refuse to claim your privacy is actually to seed it either to a state trespassing its constitutional restraints or to a private business. To surrender your own privacy is really to surrender everyone's.“

Edward Snowden, Permanent Record

Eins sei noch gesagt: „Permanent Record“ ist weit mehr als eine was-passiert-dann-Geschichte. Immer wieder spricht, ja philosophiert Snowden über Freiheit, Privatsphäre, Anonymität und wie wir all diesem durch das Sharing auf Plattformen, deren Produkt wir selbst und unsere Kommunikation sind, ein Ende bereiten.

„Permanent Record“ ist auf Deutsch im S. Fischer Verlag erschienen, hat 432 Seiten und kostet 22 Euro. Alternativ gibt es ein englischsprachiges Hörbuch.

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