Pageturner: Literatur im Juni 2019David Peace, Marie Darrieussecq und William Boyle

buchkolumne mai 2019

Wer schreibt, der bleibt. Das gilt vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist unser Pageturner. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Im Juni geht es zunächst nach Japan. Der Brite David Peace, der selbst schon lange dort lebt und mit Romanen wie „1974“, „1977“, „1980“ und „1983“ Zeitgeschichte in packende Fiktion verpackt hat, hat eine Art Biografie von Ryunosuke Akutagawa geschrieben, einem der herausragendsten Autoren der 1920er-Jahre. Die Französin Marie Darrieussecq legt derweil eine – gar nicht so dystopisch scheinende – Dystopie zwischen Hyperkapitalismus, KI und dem Imperativ der Selbstoptimierung vor. Und William Boyle schließlich schildert einen Mord in einer katholisch geprägten Nachbarschaft in Brooklyn.

David Peace Patient X

Patient X (Affiliate-Link)

David Peace - Patient X (Faber & Faber)

Ryunosuke Akutagawa war einer der wichtigsten und ist (posthum) einer bekanntesten Schriftsteller und Poet der Japanischen Moderne. In der kurzen Taishō-Ära, dem japanischen Äquivalent zur Weimarer Republik, war er der Avantgardist der Kurzgeschichte und Musterbeispiel eines von Selbstzweifeln gequälten übersensiblen Künstlercharakters. Einer, der vom Christentum fasziniert und mit ihm hadernd die spanische Grippe und das große Erdbeben und Feuer von 1923 überlebte, um sich vier Jahre später das Leben zu nehmen. Seine mit Abstand bekannteste Geschichte ist das von Akira Kurosawa ziemlich frei verfilmte „Rashomon“. David Peace, britischer Genre-Avantgardist, der seit langem in Tokio lebt, schreibt über historische Kriminalfälle, über Fußball und Zeitgeschichte: „GB84“ ist wohl der heftigste Text zum britischen Bergarbeiter-Streik. „Patient X“ ist nun eine Art Biografie des japanischen Autors. Sie nimmt die Etappen von Akutagawas kurzem, unglücklichem Leben auf und verquicken sie mit den Charakteren seiner Kurzgeschichten, welche wiederum selbst mit europäischen (Jack the Ripper, Doppelgänger) und japanischen Volkserzählungen, Märchen und Horrormotiven spielen – zum Beispiel dem mythischen Trickster Kappa oder dem undankbaren Momotaro. Geister und Gespenster also überall, nicht zufällig ist „Patient X“ Mark Fisher gewidmet. Wie üblich schreibt Peace hochgradig nichtlinear mit zwanghaft wiederholten Gedankenfetzen und mäandernden Phrasen, die den eigentlich ziemlich linearen Erzählfluss immer wieder irritieren. Diese komplexe, manchmal enervierende Erzählweise funktioniert in „Patient X“ besser als je zuvor. Die kleinen japanischen Geistergeschichten sind wohl das Schönste und Traurigste, was Peace bislang geschrieben hat. Düster und bitter im Nachgeschmack waren bisher all seine Romane, doch so viel melancholische Süße hatten sie nie.

Marie Darrieussecq Leben in den Wäldern

Unser Leben in den Wäldern (Affiliate-Link)

Marie Darrieussecq - Unser Leben in den Wäldern (Secession)

Eine weitere Dystopie einer allzu nahen Welt, in der Künstliche Intelligenz und Hyperkapitalismus, Klone als Organreserve für die ein Prozent und allgegenwärtige Überwachung mit dem Imperativ zur Selbstoptimierung für den Rest eine lebensfeindliche Mischung ergeben. Das wohlbekannte Thema bekommt im Roman der Pariser Psychoanalytikerin und Autorin Marie Darrieussecq einen spannenden Dreh, weil sie ihre extrem lichtarme Zukunftsvision mit dem Glanz und Elend aktueller psychoanalytischer Praxis abgleicht. Elend, weil die Erzählerin des Romans – ebenfalls eine Marie, ebenfalls Therapeutin – vor allem damit beschäftigt ist, von ihrer Click-Work-Arbeit oder einer unfreiwilligen Organspende traumatisierten Menschen mittels EMDR und neurolinguistischen Methoden wieder funktional und fit zu machen für weitere Ausbeutung der geistigen und körperlichen Ressourcen. Glanz, weil die Psychologie auch Wege des Widerstands gegen das allgegenwärtige Kontrollsystem eröffnet, über Sprachspiele, Assoziationsketten, doppelte Verneinungen und Metaphern des Unbewussten.

„Unser Leben in den Wäldern“ erzählt in karger Sprache und kurzen Passagen mit vielen Leerstellen, Auslassungen und Wiederholungen vom (weitgehend vergeblichen) Widerstand gegen das Überwachungsregime im Exil – im sprichwörtlichen Untergrund in den letzten verbliebenen Wäldern. Interessant an der Geschichte, die an Trostlosigkeit gemessen näher „Never Let Me Go“ als an the „The Isle“ liegt, ist weniger das erwartungsgemäß hoffnungsarme Setting der äußeren Handlung, als vielmehr das psychologische Erwachen der Protagonistin. Was Darrieussecq mit ihrer unsicheren überforderten Heldin vermittelt, ist eine ganz grundlegende Einschätzung von Bewusstsein und Denken an sich: Das menschliche Denken wird sich aufgrund seiner unperfekten, vergesslichen und assoziativ-metaphorischen mit Emotionen verknüpften Natur immer von maschineller Kognition unterscheiden, wie komplex und mit wie vielen „Hidden Layers“ diese auch immer aufgesetzt sein mag. Was nicht heißen muss, dass das menschliche Denken auf lange (oder sogar auf absehbar kurze) Sicht erfolgreicher sein wird als das rational-effiziente der Maschinen. Das ist eine eher bittersüße Erkenntnis, aber nicht komplett ohne Hoffnung.

William Boyle - The Lonely Witness

The Lonely Witness (Affiliate-Link)

William Boyle - The Lonely Witness (No Exit Press)

Nach der tendenziellen Enttäuschung, die Jonathan Lethems jüngste Noir-Pastiche „The Feral Detective“ bot, ist William Boyles „The Lonely Witness“ genau der Brooklyn-Noir, den Lethem seit „Motherless Brooklyn“ nicht mehr hinbekommen hat. Boyles Story spielt in den Arbeiter- und Kleinbürger-Vierteln Brooklyns, in die kein Hipster je einen Fuß gesetzt hat und wo die Gentrifizierung (noch?) ein fernes Gerücht ist: Bensonhurst und Gravesend, wo die meisten Häuser runtergekommene Mietskasernen mit miefigen kleinen Wohnungen sind. Eine katholische Gegend, geprägt von den alteingewanderten und meist aus Italien stammenden Dritt- oder Viertgenerations-Migranten, aber ebenso von den jüngst angekommenen Migranten aus Südostasien und Nahost. Ein Teil New Yorks also, von dem Manhattan (oder schon Williamsburg) ungefähr so weit weg erscheint wie Tokyo oder Paris.

Boyles Protagonistin Amy, nicht mehr junge Lesbe, sucht von ihrer großen Liebe Alessandra verlassen Zuflucht in einem zurückgezogenen und Social-Media-freien Leben in der römisch-katholischen Gemeinde. Dort fungiert sie als Sozialkontakt für die alten Damen der Gemeinde, die die Messe nicht mehr besuchen können. Als sie bei einer ihrer Klientinnen vorbeischaut, wird sie Zeugin, wie einer der hiesigen kleinkriminellen Macho-Typen im Streit erstochen wird – Echo eines Mordes, den sie als Kind beobachtet hat – und tut nicht das Naheliegende. Weder ruft sie die Polizei noch den Mafiaboss des Viertels. Stattdessen nimmt sie die Mordwaffe an sich und beschließt, der Sache selbst nachzugehen. Diese Spontanidee bringt sie in Gefahr und in die Versuchung, selbst kriminell zu werden, verbindet sie aber auch mit ihrem früheren Leben und der alten Liebe. Was mit gemischten Gefühlen endet und der Option, der Enge und Perspektivlosigkeit der Nachbarschaft zu entkommen.
Es ist nicht unbedingt der sich ganz langsam entfaltende Krimiplot, der diese Geschichte ausmacht, eher schon die atmosphärische Schilderung eines insularen endemischen Milieus, das absehbar verschwinden wird. Verdrängt, ohne dass dem viele Tränen nachgeweint würden. Boyle, der aus dieser Nachbarschaft stammt, aber schon lange nicht mehr dort lebt, schildert die verloren gehende Welt lakonisch, mit viel Empathie und Sympathie für die Verlierer, die wohl bald ihre letzte Nische ebenfalls verlieren.

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