Filter Tapes 029„Behind Melodies“ von Vito Gatto

filtertape 29 vito gatto

Der Italiener Vito Gatto arbeitet an der Schnittstelle zwischen Wohlklang und Experiment. Das klingt 2018 fast schon gewöhnlich. Doch der Violinist entwickelt dabei eine eigene musikalische Sprache, die auf einigen Erkenntnissen seiner noch jungen Karriere beruht: Das Timbre seines Instruments ist Fluch und Segen zugleich, Romantik kann bezaubern und anwidern. Zwischen diesen Polen komponiert sich Gatto die Seele aus dem Leib – mit einem Setup, in dem die Bassdrum und das elektronische Geräusch ebenso große Rollen spielen wie seine geliebte Geige. Und weil bei der die Melodie so bestimmend ist, hat er sich für sein Filter Tape die Welt hinter der Melodie als Thema gesucht. Nach der Produktion seiner aktuellen EP „Wood And Meat“ und seinem Auftrags-Remix von Debussy klingt das fast schon nach Katharsis – für Gatto ist es Ansporn, weiterzumachen.

Lieber Vito, vielen Dank für deinen Mix. Bevor wir uns mit dem beschäftigen, möchten wir dich ein bisschen besser kennenlernen. Du bist aus Mailand, hast 2010 deinen Abschluss an der Conservatorio di Milano gemacht, spielst Violine und verbindest das in deinen Produktionen mit viel Elektronik. Da gibt es einige Leerstellen. Bitte sehr.
Die Musik begleitet mich schon seit meiner Kindheit. Ich hatte von kleinauf Unterricht, mein Alltag war randvoll und durchgetaktet. Von 2004 bis 2014 spielte ich zudem in einer Rockband, da blieb eigentlich keine Zeit für gar nichts. Schule, Konservatorium, Bandprobe, am Wochenende Gigs und während der Ferien entweder eine Tour oder am nächsten Album arbeiten. Ich merkte schließlich, das mich das nicht länger glücklich machte. Ich hatte andere Bedürfnisse. Die Leerstellen, von denen du sprichst, musste ich mir also erst schaffen – mir die Zeit nehmen, andere Dinge zu tun, um wirklich herauszufinden, was mich inspiriert und inspirieren kann bei meiner Musik. Ich koche gerne – absolutes Amateur-Level, aber mit Engagement –, trinke Wein – das waren dann auch alle italienischen Klischees –, rede mit meinen Katzen und gehe auf Techno-Parties. Und ich verordne mir regelmäßig Perioden der Stille, in denen ich nicht spreche. Daraus entsteht meine Musik.

Wenn man als Kind ein Instrument lernt, ist das ja oft die Entscheidung der Eltern. Dabei zu bleiben hingegen etwas ganz anderes. Wann hast du gespürt, dass die Violine Teil deines Lebens wurde?
Den einen Moment erinnere ich nicht. Ich bin mit meinem Instrument ziemlich verwachsen, ich kann mich gut mit ihrer Hilfe ausdrücken, besser als mit Worten. Aber die Geige macht mich auch regelmäßig wütend, dann nervt mich das Timbre. Es ist so eindeutig. Und manchmal fast schon nervend romantisch und melancholisch. Immer dann brauche ich eine neue Perspektive, muss mich mit etwas Anderem beschäftigen.

Da passt es ja, dass du auch mit Synths, Controllern und Laptop arbeitest.
Mir ist auch einfach schnell langweilig. Da bietet sich die elektronische Musik als Erweiterung natürlich an, weil sie sich konstant weiter entwickelt und es ständig etwas Neues zu entdecken gibt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass man diese Art der Musik niemals wirklich verstehen können wird, etwas Unbekanntes bleibt immer zurück. Und das spornt mich an. Für meine eigene Arbeit eine gewisse Ordnung in dieses Chaos zu bringen und mich auf wenige Sounds zu konzentrieren, die selbst schon so lebendig sind, das sie wie von selbst zu Musik werden.

Vito Gatto GIF

Es gibt seit längerer Zeit eine Renaissance der klassischen Musik, wenn auch in einem vermeintlich neuen Kontext. Nils Frahm, Francesco Tristano, Hauschka oder auch die Grandbrothers haben diesen Hintergrund, brechen ihn aber auf und erweitern ihn mit anderen Instrumenten und neuen Sounds. Kannst du diesen Trend einordnen und bewerten?
Man nennt das ja Neoklassik, richtig? Das finde ich nicht sonderlich treffend. Mir würde überhaupt kein Name dafür einfallen. Aber gleichzeitig erscheint mir der Ansatz dieser Künstler nur konsequent – er beschreibt nichts anderes als eine intensive Auseinandersetzung mit Musik, zunächst vielleicht fast schon akademisch, dann aber vor allem auf einer emotionalen Ebene, bei der dieses gewisse Wisschenschaftliche in den Hintergrund tritt. Neu ist das natürlich nicht. Elektronische Instrumente und Produktionsmethoden werden schon seit Jahrzehnten von „klassischen“ Musikern eingesetzt, die ihre Musik weiterentwickeln wollen, an neuen Ansätzen interessiert sind. Die Sprachen der elektronischen und der klassischen Musik gelten vielen als gegensätzlich. Das stimmt nicht.

Mir ist ein Video von dir aufgefallen, in dem du deinen Track „Moving Air“ live spielst. Dabei loopst du dein Violinenspiel und baust das Stück so Schritt für Schritt auf. Eigentlich eine Technik, die vor allem bei Gitarristen beliebt ist. Du bist also deine eigene Band – das Gegenteil des Orchesters. Das ist bei deinem Hintergrund besonders interessant.
Ich hatte ja schon erklärt, dass ich ein durchaus gespaltenes Verhältnis zu diesem Instrument habe – der Ansatz kommt genau daher: Ich will nicht das tun, was die Menschen mit einer Geige assoziieren und damit ja auch mit mir. Sätze wie „Da kommt wieder der Melancholiker“ – die brauche ich nicht. Daher muss meine Geige auch einiges aushalten. Der Track ist aber auch etwas Besonderes. Ich bin ein riesen Fan vom Pizzicato, daher diese Emphase. Ich kann mich aber auch ganz gut zurückhalten.

Du hast im letzten Jahr einen Remix von einer Debussy-Komposition gemacht, für das „re:Works Piano“-Projekt des Klassik-Labels Decca. Hast du dir das Stück bewusst ausgesucht?
Ja, ich wollte „Clair de Lune“ remixen. Das Stück fasziniert mich. Es klingt sehr simpel, man hört gerne zu. Gleichzeitig ist es harmonisch aber enorm komplex. Sich so einer Komposition anzunehmen mit einem Remix, empfand ich als Herausforderung.

Du hast dein Filter Tape „Behind Melodies“ genannt. Was genau passiert denn so hinter den Melodien?
Zunächst mag ich Musik, die ohne Melodie auskommt. Ich finde das kompositorisch und strukturell interessant. Wie gelingt es den Musikern, dich zu kriegen? Keine Melodie zum Mitpfeifen, kein Refrain zum Mitsingen. Und dennoch passiert etwas mit dir in diesem Moment. Das ist eine Empfindung, die keine Spuren hinterlässt. Diese Welt fasziniert mich, vor allem, weil ich ursprünglich aus einer ganz anderen komme. Die Konfrontation beflügelt mich hoffentlich.

Woran arbeitest du gerade?
An neuen Tracks bin ich sowieso immer dran. Mal sehen, wohin diese Reise führt. Ich fände auch Remixe spannend, aber das ist noch nicht spruchreif. Vor allem will ich mein Liveset auf die Beine stellen. Für unterschiedliche Konstellationen – für mich allein, aber auch in Kombination mit einem Streichquartett und Piano.

Tracklisting

  • Suuns - Infinity (Beatrice Dillon remix)
  • Shygirl - Want More
  • Beatrice Dillon and Call Super - Inkjet
  • Rival Consoles - Johannesburg
  • Throwing Snow - Cantor's Dust, Pt. 2
  • Elena Pavla - Hight People (Original Mix)
  • Gesaffelstein - Out Of Line
  • Equiknoxx - Kareece Put Some Thread In A Zip Lock Original Mix
  • Coucou Chloé - Sylph (feat. KABLAM)
  • Dawn Of Midi - Nix
  • Raving George - Alternate (Original Mix)
  • Nu - I Got A Dog
  • Tzusing - Nature Is Not Created in the Image of Man's Compassion
  • HVOB - Azrael
  • Coucou Chloé - Stamina
  • N'to - J'oublie (Original Mix)
  • Tzusing - King of Hosts

Für dieses Filter Tape gestaltete unsere Artdirektorin Susann Massute das Artwork. Die Aufgabe: Während der Zeit des Tape-Hörens ein Bild assoziieren, finden, ausdenken und umsetzen. Auch Mixtapes haben passende Bilder verdient. Vielen Dank, Susann!

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