Filter Tapes 030„Out Of Context“ von Christian Kleine

Filter Tapes 030 Christian Kleine

Der Musiker und Produzent Christian Kleine war wichtiger Teil einer Jugendbewegung, die sich Anfang der 2000er Indietronica nannte. Christian veröffentlichte als Solokünstler auf Labels wie Morr Music und City Centre Offices und betrieb gemeinsam mit Thaddeus Herrmann das Projekt Herrmann & Kleine. Mit der EP „Kickboard Girl“ gelang ihnen 1999 ein veritabler, internationaler Independent-Hit. Aber das ist ja auch schon wieder fast 20 Jahre her. Vor einiger Zeit erschien Christian Kleines Werkschau „Electronic Music From The Lost World: (1998-2001)“ auf dem amerikanischen Label A Strangely Isolated Place. Und auch weiterhin ist er ein fleißiger Produzent, der im Eigenvertrieb regelmäßig traumhafte Alben veröffentlicht. Für die dreißigste Laufnummer unserer Filter-Tape-Reihe hat Christian eine wundersam eigenständige Sprache entwickelt. Die Beatles neben Labradford und Kenny Larkin: Immer ein bisschen außerhalb des Kontexts, dort, wo Musik erst anfängt, spannend zu werden. Ji-Hun Kim sprach mit ihm über Zigaretten-Preisausschreiben in der Spex, viele Jahre bei Ableton, die Krux mit dem Internet und Laptops als Bandkollegen.

Vielen Dank für dein wunderschönes Filter Tape. Erzähl doch erstmal ein bisschen darüber.
Es deckt ein breites Spektrum ab. Von 60er-Jahre-Easy-Listening bis Techno kommt so gut wie alles darin vor. Ich war ja nie Purist.

Gibt es eine Geschichte, die du damit erzählen wolltest?
Es sind hauptsächlich Sachen, auf die ich einfach Lust hatte. Es ging mir um Musik, die nicht zu sehr an einem Zeitkontext haftet. Ich finde es immer interessant, Musik zu hören, bei der man gar nicht beurteilen kann, ob sie jetzt 30 Jahre alt ist oder doch von gestern. Zum Beispiel die Platte „Silence of Wisdom“ von Deux Filles, die stammt aus den frühen 80ern. Aber die könnte genauso von letzter Woche sein.

Ich finde den Kontext, den du aufmachst, auch spannend. Ich habe wohl noch nie Bochum Welt oder UR so untechnoid wahrgenommen wie in deinem Mix.
Ich nehme das auch gar nicht so sehr als Techno wahr. Auch wenn das natürlich in den Clubkontext hineinpasst. Mir fällt aber oft auf, dass Musik, auch wenn man sie aus dem Genrekostüm befreit, immer noch funktionieren kann. Ich komme aus einer Kleinstadt, Lindau am Bodensee. Da habe ich Anfang der 1990er aufgelegt. Dort konnte man gar keine puristischen Abende machen, dafür gab es gar nicht genug Leute. So habe ich HipHop, House und Techno gemischt, aber auch frühen Jungle und Gitarrenmusik. Wir wollten ja einfach gute Musik hören.

Tracklist

  1. François Bayle – Erosphere
  2. Electroshock Presents Electroacoustic Music, Vol. IV – Tears [by Alexander Nemtin]
  3. Acreil – Miscellaneous Synth Demos - 21 Casio HT-6000-Digitech RDS 3.6 (Everything Happens Slowly)
  4. UR – Electronic Warfare
  5. Electroids – Midnight Drive
  6. MEC – Musique Expérimentale Castelroussine – 02 Méta
  7. Thomas Leer – Private Plane
  8. The Beatles – Mellotron Music No. 1
  9. Lizzy Mercier Descloux – Torso Corso
  10. Cecil Leuter – Crazy Sounds No. 4
  11. Dosh – My Favorite Colors Red
  12. Bochum Welt – Fortune Green
  13. Labradford – And Jonathan Morken
  14. Seefeel – Time to Find Me (AFX Fast Mix)
  15. Tone Language – Winters Thrill
  16. Kenny Larkin – Maritime
  17. Silence and Wisdom – Oakwood Green
  18. Haighinsha – Lusefeea

Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen und selbst da war es einfach viel eklektischer. Ich finde es rückblickend aber auch gar nicht so schlimm. In Berlin gab es in den 90ern ja schon kleinteilige Techno-Lager. War man jetzt eher Wolle oder Tanith …
Total. Ich fand es aber auch schade, dass es in Berlin nicht ein bisschen fluffiger gewesen ist. Dass man nicht einfach gesagt hat: Hauptsache gute Musik. Das kann ja alles Mögliche sein.

Heute legst du nicht mehr viel aktiv auf.
Natürlich fehlt mir das auch. Aber ich mache so viele Sachen, da wäre das Auflegen in meiner Baustellenliste auf Rang 23. Damals habe ich das ambitionierter gemacht, irgendwann wurde dann die Musikproduktion wichtiger. Sagen wir so: Bevor ich auflege, produziere ich lieber. Selbst da habe ich das Gefühl, dass es immer zu kurz kommt. Auch Musik mache ich nicht so oft, wie ich gerne würde.

Wobei ich schon erstaunt war, wie konstant du die vergangenen Jahre Platten veröffentlicht hast. Ich kenne deine Sachen von Anfang der 2000er gut und habe sie viel gehört.
Seit ich mit Musik angefangen habe – das ging 1995 los – war sie mir wichtig. Mir ging es nie darum, eine große Karriere zu starten. Ich wollte immer was machen, auch damit ich zurückschauen kann, um zu schauen, was ich in vergangenen Zeiten gemacht habe. Ich habe mal in einem Preisausschreiben gewonnen, das war 1998, und durfte dann zur Winter Music Conference.

Preisausschreiben? Wo denn?
Marlboro war das.

Ich hätte mit 19 auch beinahe bei einem Marlboro-USA-Road-Trip mitgemacht. Damals durften die ja noch.
Da gab es eine Annonce in der Spex. Ich habe mitgemacht und tatsächlich gewonnen. Zu der Zeit hatte ich angefangen mit der Produktion, erste Stücke gemacht und freute mich total auf die Reise. Das muss ja supercool werden, dachte ich mir. Daft Punk waren da, die ganzen Drum-and-Bass-Menschen aus London, die zu der Zeit dachten, sie würden die Weltherrschaft übernehmen. Eine lustige Zeit. Aber zeitgleich stand ich in dem Hilton-Hotel, wo die Konferenz stattfand, schaute mir das Treiben so an, ich quasi als Außenstehender – weil so richtig dazu gehörte ich ja nicht – und sah, wie die Musikindustrie so arbeitet. Da fragte ich mich schon, ob ich dabei so wirklich mitspielen will. Ist es was, das einen treibt? Irgendwie fand ich das ziemlich schrecklich.

Fremdelst du heute immer noch mit der Branche?
Zu der Zeit habe ich mich gefragt: Ist das ein Lebensentwurf? Ist Musik produzieren ein kompletter Lebensentwurf? Will ich Musiker sein? Ich habe mich dann aber dagegen entschieden. Einfach aus dem Grund, weil die Musikbranche eben merkwürdig ist und ich Musik auch als eine Art Ausgleich zu dem realen Leben da draußen betrachte.

Christian Kleine 01

Man sollte erwähnen, dass du quasi seit Anbeginn auch bei Ableton arbeitest.
Seit 17 Jahren etwa.

Für was bist du da genau zuständig?
Ich habe als technischer Support angefangen und dann habe ich die Sparte Max for Live betreut und viel dafür programmiert. Heute mach' ich zudem viel Prototyping für native Instrumente und Effekte, die in Ableton Live implementiert werden. Sprich alles, was mit DSP-Processing zu tun hat. Da arbeite ich derzeit viel an den grundlegenden Ideen. Heute nennt man das auch UX, User Experience.

Das ist schon nerdig.
In der Tat. Ich bin in der Hinsicht auch ein ziemlicher Nerd. Ich habe fast jeden Synthesizer der Welt zumindest mal angefasst. Aber eigentlich mag ich das Wort Nerd ja gar nicht.

Wenn man so lange eine Erfolgsgeschichte wie Ableton backstage miterlebt hat, wie lässt sich das an?
Für mich fühlt sich das an, als hätte ich vier oder fünf Firmen durchlebt. Es haben sich tiefe Wandlungen im Laufe der Zeit vollzogen. Innerhalb der Branche, innerhalb der Firma, innerhalb der Gesellschaft. Die Wahrnehmung, wie Menschen Computer benutzen, hat sich in den letzten 15 Jahren sehr verändert. Aber auch die Art der Menschen, die solche Sachen nutzen.

Ende der 90er warst du dann in Berlin. Es ging damit los, dass Leute mit Laptops Musik gemacht haben. Labels wie Morr Music wurden bekannt. Indietronica war plötzlich ein Thema. Mir fällt immer wieder auf, dass heute viele Menschen Berlin nie als Indie-Stadt wahrgenommen haben. Berliner Bands wie Contriva waren für mich total inspirierend. Heute zucken die allermeisten mit der Schulter.
Es existiert nicht mehr in der Wahrnehmung. Mir scheint, als wenn das total aus dem Kanon verdrängt wurde. Die Indie- und Electronica-Szene war ein großer Pfeiler dieser Stadt. Kulturell stadtgeschichtlich, wenn man das sagen kann, spielt das aber keine Rolle mehr. Was schade ist, aber Techno walzt halt einfach alles platt. Das ist Fakt. Für mich war das Indietronica-Ding ein Pflänzlein, das man sorgsamer hätte pflegen müssen.

Auch mainstreamigere Acts wie Paula sind daraus entstanden.
Es wurde ja in der ganzen Welt wahrgenommen. Indietronica aus Berlin fand in Japan, USA und auch Kanada Beachtung. Das war relevant und ich fand das daher auch so spannend. Es war nicht ein nur auf Berlin bezogenes Ding. Das haben Berliner Themen ja oft an sich, dass sie nie aus Berlin herauskommen und nur mit sich selbst beschäftigt sind.

Wenn man international unterwegs ist, ist es dann doch wieder Industrie?
Erstmal sind es ja alles Freunde und Kumpel gewesen, daher war die Großindustrie weit weg. City Centre Offices war ja jetzt nicht Sony Music oder so.

„Die Indie- und Electronica-Szene war mal ein großer Pfeiler Berlins. Kulturell stadtgeschichtlich spielt das aber heute keine Rolle mehr. Was schade ist, aber Techno walzt hat einfach alles platt. “

Fehlt dir das Unterwegssein?
Ich vermisse es schon. Aber es war auch sehr anstrengend, da ich die Touren immer auf meine freien Urlaubstage gelegt habe. Wenn man das ein paar Jahre mitmacht, dann gibt es kaum noch freie Wochenenden. Das klingt nach Jammern auf hohem Niveau und ist es wahrscheinlich auch. Aber mit einem Fulltimejob und der Musik gleichzeitig – da kommt man schon dem Burnout nahe. Ab und zu gebe ich noch Konzerte, aber das ist mit damals nicht zu vergleichen. Aber ich bin froh, dass ich es hatte. Das hat viel Spaß gemacht.

Dennoch hast du es geschafft, konstant in den letzten Jahren eigene Alben zu produzieren und selber zu veröffentlichen.
Alles auf Bandcamp. Ich hatte an mich selber den Anspruch, weiter Musik zu produzieren, auch weil es für mich einfach wichtig ist. Ich habe mich hier und da bei ein paar Labels beworben. Aber da ich völlig außerhalb des Kontexts stattfand, ist daraus auch nichts geworden. Das waren vielleicht drei Mails. Unter anderem habe ich bei Mute Records angefragt, völlig größenwahnsinnig (lacht). „Erstmal bei den Kleinen anfangen.“ Da passierte natürlich nichts, aber dank Bandcamp kann man so was heute ganz gut selber machen.

Da muss man sich dennoch ganz schön für disziplinieren.
Genau. Das ist zudem ziemlich merkwürdig. Weil es gibt ja weit und breit kein Feedback. Du bist der Macher von letztlich allem: von der Musik bis zum Cover, und es gibt vor allem niemanden, der das reflektiert. Es gibt auch niemanden, der das rezensiert, weil es auf keinem bekannten Label erscheint. Das sind quasi ich und das Internet. Das Internet selber gibt dir ja auch kein Feedback.

Dabei heißt es doch, dass das Internet alle Länder zusammenbringt.
Ja und nein. Natürlich freue ich mich, wenn mir jemand aus Argentinien schreibt und sich über meine Musik freut. Das ist aber dennoch ein anderer Prozess, als jemanden zu treffen und über deine Musik zu sprechen, sei es, weil diejenige Person ein Label hat. Das Internet gibt mir aber nichts. Da habe ich keinen persönlichen Bezug zu. Nachdem ich nicht mehr bei Morr Music war – bis dahin fiel mir ja alles in den Schoß – musste ich erst lernen, alles autark zu machen. Das war ein wichtiger Prozess.

Christian Kleine Electronic Music From The Lost World

Erst kürzlich erschien deine Werkschau „Electronic Music From The Lost World“ mit Stücken aus den Jahren 1998 bis 2001.
Ich habe einen Jutebeutel voll mit alten DAT-Tapes. 40 bis 50 Tapes sind da drin. Vor vier Jahren fing ich an, die alten Bänder durchzuhören und zu digitalisieren. Dann sprach ich mit Thomas Morr, der das auch erst veröffentlichen wollte. Das zog sich dann, weil immer wieder Sachen dazwischen gekommen sind. Daraufhin bin ich mit dem Label A Strangely Isolated Place aus Los Angeles ins Gespräch gekommen. Über Arovane, Uwe Zahn, bin ich zu dem Kontakt gekommen und so kam es zu dem Release. Nach 20 Jahren, dachte ich, wurde es ja auch mal Zeit. Ich bin froh, dass es in der Form auf Doppel-Vinyl erschienen ist. Es repräsentiert dann doch eine völlig andere Zeit. Es war alles viel unschuldiger.

Für mich bist du musikalisch aber immer noch ein Indie-Musiker und Gitarrist, der in Berlin schlichtweg in die falschen Kreise gelangt bist.
Das stimmt (lacht). Ich habe Computer ja immer gehasst. Bis ich festgestellt habe, dass man damit auch Musik machen kann, aber bis dahin wollte ich damit nichts zu tun haben. Schon ironisch, wenn man sich meinen Beruf von heute anschaut. Aber ja, eigentlich komm ich aus der Gitarrenecke. Dass ich mit Rechnern angefangen habe, Musik zu machen, lag hauptsächlich an der Ermangelung von Musikern, mit denen man hätte eine Band gründen können.

Vier Leute in Berlin regelmäßig in einen Proberaum zu bringen, ist auch ein Ding der Unmöglichkeit.
Das versteh ich total. Aber ja, vielleicht ist elektronische Musik auch einfach ein urbanes Ding. Das war in New York und in London so. Elektronik war ja in den 90ern schon der Grundtenor in Berlin. Ich hatte aber auch nie Anschluss zu Berliner Gitarren-Szenen. Als ich Ende der 90er Drum and Bass produziert habe, kannte ich nur die Radioshow von Thaddi. Da bin ich dann mit meinen Tapes hingetingelt und hab versucht sie ihm anzudrehen, damit er sie spielt. Damit hat ja alles angefangen.

Für dieses Filter Tape gestaltete Julian Priess das Artwork. Die Aufgabe: Während der Zeit des Tape-Hörens ein Bild assoziieren, finden, ausdenken und umsetzen. Auch Mixtapes haben passende Bilder verdient. Vielen Dank, Julian!

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