Review: Apple iPhone 6sAlle Jahre wieder ...

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iPhone 6s looking at things: Kunst im Park

Man kann mittlerweile die Uhr danach stellen. Immer im September bringt Apple neue iPhones auf den Markt. Die einen kaufen die Smartphones, um sie YouTube-wirksam zu misshandeln, zu verbiegen, auf dem Schießstand zu durchlöchern oder in die Spülmaschine zu stecken. Die anderen jedoch, die meisten, wollen sie einfach nur benutzen, daran teilhaben, was sich Apple wieder Neues ausgedacht hat. Das iPhone ist kein Smartphone, es ist ein soziokulturelles Phänomen.

Es ist Herbst und es gibt neue iPhones.

Wie funktioniert das eigentlich? Zu welchem Zeitpunkt einigt sich die Welt darauf, ein Produkt zum Symbol und Namensgeber einer ganzen Produktkategorie zu erklären? Wieso wurde aus dem Wattestäbchen das Q-tip? Und waren alle anderen portablen Kassettenspieler wirklich so langweilig, dass man sie einfach wie das Sony-Vorbild auch Walkman nannte? Was braucht es, Teil des Kanons zu werden? Wann wurde aus dem Smartphone das iPhone?

Wenn der Kulturausschuss der Weltregierung in 100 Jahren zusammenkommt, um bei grellen Getränken auf dem Holodeck die Vergangenheit unter die Lupe zu nehmen und sich über technische Errungenschaften des 21. Jahrhunderts informiert, dann wird es das iPhone sein, das das bevorzugte Kommunikationsgerät der Menschen von damals exemplarisch repräsentiert. Faktisch als Gerät, aber auch als sprachliches Synonym. Da wird keine Rede sein von Galaxys, von Ones, von Lumias oder Motos. Dass es die auch gab, haben die Archivare der Weltregierung nahtlos dokumentiert. Doch die Experten stehen vor einem Rätsel. Da gab es eine Computerfirma namens Apple. Die war erst sehr erfolgreich, dann so gut wie pleite, bevor sie sich auf dem letzten Meter irgendwie aus der eigenen Scheiße zog und dann 2007 ein Mobiltelefon auf den Markt brachte. Das waren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Apparate, mit denen die Menschen damals kommunizierten, kleine Teile, die man sich ans Ohr hielt und die Stimme eines anderen Menschen hörte, mit denen man sich Nachrichten schicken und Computer-Programme, so genannte Apps, ausführen konnte. Sie erinnern sich vielleicht an das Internet, wertes Kollegium? Da ging man mit dem Mobiltelefon „rein“. Die wurden auch von anderen Firmen gebaut, aber das iPhone wurde erst zum Statussymbol und dann schließlich zum kulturellen Phänomen. Auch zum soziologischen. Immer im Herbst gab es neue Modelle. Da bildeten sich dann vor den Geschäften lange Schlangen, weil die Menschen das Telefon unbedingt am ersten Tag haben wollten. Die Anwesenden schütteln mit dem Kopf, raunen „Uuuuh“ und „Aaaah“. So war das damals in der Vergangenheit.

Es ist also Herbst und es gibt neue iPhones.

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iPhone 6s looking at things: rostige Wand

Previously, on iPhone

Die ungeraden Jahre stehen bei Apple für die S-Generation des iPhones. Das heißt: Im gleichen Gehäuse wie im Vorjahr wird neue Technik verbaut. Seit 2009 gibt es diese aufgebohrten Versionen: das 3GS mit Videoaufnahme, das 4s mit Sprachassistentin Siri, das 5s mit dem Fingerabdrucksensor Touch ID. Aber wie ist es beim 6s? Sich für ein Feature zu entscheiden, dass das S definiert, ist gar nicht so einfach. Es wird wohl das Display sein, also der Teil des Smartphones, das 2014 den großen Sprung machte. Apple reagierte damit tatsächlich zum ersten Mal auf einen Trend, als eben diesen selbst zu setzen. Was den Formfaktor, also die Größe des Displays angeht, war man hinter der Konkurrenz zurückgeblieben, die Kunden aber wollten größere Displays. Die iPhones wuchsen auf 4,7“ und 5,5“. Eine gute Entscheidung, die Verkäufe explodierten. So sehr, dass es eigentlich kein Problem gewesen wäre, das iPhone 6 und 6 Plus einfach noch ein weiteres Jahr zu verkaufen. Aber so funktioniert der Zirkus nicht, ein Zirkus, der ohnehin nur noch inkrementelle Verbesserungen in den Ring wirft – Ich sage es nicht zum ersten Mal: Die Geschichte des Smartphones ist weitestgehend auserzählt –, das betrifft alle Hersteller. Und mit den größeren Displays hatte sich Apple sehr komfortabel eingerichtet. Das Ende der Fahnenstange also? Nicht in Sicht. 13 Millionen iPhones wurden am ersten Wochenende – Ende September – verkauft. Rekord. Wieder mal. Der Hype gehört immer Apple, auch 2015. Dabei werden die Schwachpunkte des iPhones gar nicht angegangen. Das 6s und das 6s Plus bringen solide Hardware-Fortschritte und wieder mal eine Lektion in Sachen Zukunfts-Früherziehung.

Am Drücker

Notiert euch bitte folgende Begriffe, wir fragen die am Ende des Textes nochmal ab: 3D Touch, Peek & Pop, 4K, Live Photos, Selfies und Das Display als Kamerablitz. Das sind – kurz zusammengefasst – die neue Features der beiden iPhones. Ah, und – ganz wichtig –: Lichtgeschwindigkeit. Notiert euch aber bitte auch folgendes: Die neuen iPhones sind schwerer. Und haben eine marginal kleinere Batterie. Beim ewigen technischen Wettrüsten nach dem „Schneller, höher, weiter“-Prinzip ließ sich das wohl nicht vermeiden. Warum schwerer? Das liegt vor allem am neuen Display und dem „3D Touch“. Eine extra Schicht Sensoren kann nun den Druckpunkt eurer Berührung messen und je nachdem unterschiedliche Aktionen ausführen. Drückt man fester auf ein App-Icon auf dem Homescreen, steht eine Auswahl von Programm-spezifischen Presets zur Verfügung: neue E-Mail oder ungelesene E-Mails in der Übersicht öffnen zum Beispiel, in der Musik-App ist es der zuletzt gehörte Titel, das Beats1-Radio oder die Suchfunktion. „3D Touch“ lässt sich auch in den Apps nutzen. So öffnet ein fester Druck auf einen Link in einer Mail beispielsweise eine Preview, das Gleiche gilt auch für Mail, hier noch mit allerhand Archivierungsmöglichkeiten versehen. Apple nennt das „Peek“. Drückt man ein weiteres Mal („Pop“), öffnet sich die Mail ganz traditionell oder die App der Preview, zum Beispiel der Browser.

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3D Touch ermöglicht Quick Actions in Apps.

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„Lasst uns doch gemeinsam daran arbeiten und wachsen, boys and girls“.

Das ist immer dann praktisch, wenn man sich daran erinnert, dass man diese Möglichkeit ja nun hat: Smartphone-Nutzer sind Gewohnheitstiere. Das wäre aber noch viel praktischer, wenn es von allen Apps unterstützt würde. Natürlich sind Drittanbieter eifrig dabei, 3D Touch zu integrieren (Facebook, Instagram, Fantastical, Day One, Twitter oder auch Medium haben bereits Updates veröffentlicht), das Feature wird aber bislang nicht mal in allen Apps made in Cupertino unterstützt. Kamera: ja, FaceTime: nein. Fotos: ja, Wetter: nein. Kalender: ja, Aktivität: nein. Konsistent ist das nicht. Bestimmt aber kein Zufall. Apple ist ein Meister darin, neue Features in Geräte zu integrieren, sie gleichzeitig heftig zu bewerben, faktisch dann aber in den Produkten nur anzuteasen. Das ist die schrittweise Konditionierung für die Zukunft, dieses „Lasst uns doch gemeinsam daran arbeiten und wachsen, boys and girls“. Technisch brillant umgesetzt, die eigentliche Story wird nachgereicht. Und dass es technisch einwandfrei funktioniert, ist keine Überraschung: Apple nutzt das Prinzip bereits sowohl auf der Apple Watch (dort allerdings nicht so ausgefeilt) und auch in den Trackpads neuer MacBooks.

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Ein Live Photo, via The Verge

Koksen mit Zuckerberg

3D Touch wird auch benötigt, um die so genannten Live Photos zu animieren. Die funktionieren wie animierte GIFs mit Sound, sind aber faktisch kleine Filme, die sich mit den neuen Kameras der iPhones erstellen lassen. Die Hauptkamera hat jetzt zwölf statt acht Megapixel, ein Upgrade, das im täglichen Gebrauch so gut wie nicht auffällt, die vordere Kamera, die Selfie-Maschine, ist mit ihren neuen fünf Megapixeln (rauf von 1,2) der eigentliche Gewinner. Auch hier war Apple hinter der Konkurrenz deutlich zurückgefallen, in der Android-Welt sind fünf bzw. acht MP mittlerweile Standard.

Aber der Reihe nach. Wie funktioniert das mit den Live Photos? Ist der Modus aktiviert und öffnet man die Kamera-App, wird kontinuierlich aufgezeichnet. Betätigt man dann auf den Auslöser, werden ein paar Bilder vor und nach dem eigentlichen Drücken zu einer Animation zusammengebaut. Hat man es auf so ein Live Photo abgesehen, gilt ab sofort also die Prämisse: immer schön ruhig halten, das iPhone, vor, während und jetzt auch nach dem Auslösen. Sonst ist das Resultat Wackelpudding. Um sich die Live Photos hinterher anzuschauen, kommt wieder 3D Touch ins Spiel.

Aktuell geht das Anschauen nur auf dem iPhone selbst und in der Fotos-App auf OS-X-Rechnern. Export in die soziale Welt? Bislang Fehlanzeige, auch wenn Facebook bereits signalisiert hat, dass man das Format demnächst integrieren wolle. Rocket Science ist das nicht, ohne diese Unterstützung steht dem Feature jedoch ein wundervoll trauriges Leben als Rohrkrepierer bevor. Natürlich hat man sein iPhone die ganze Zeit vor der Nase, wer aber die wirklich tollen und besonderen Dinge nicht teilen kann, findet sie sehr schnell plötzlich gar nicht mehr so toll. Ein Blick in die vergangenen Jahre beweist das. Erinnert sich noch jemand an die „Zoes“ von HTC? Die App, bastelte aus Fotos und Videos eine Art Kurzfilm, unterlegte diesen mit Musik und schnitt die Bilder mehr oder weniger im Beat dazu. War super, aber nicht wirklich anschlussfähig. Nun ist das Verhältnis von iPhones zu HTC-Telefonen da draußen in der Welt ungefähr 1.000.000:1 und wenn Apple nicht ganz schnell in allen Vorstandsetagen der sozialen Datenkraken das Koks auf den Tisch legt, sieht es für die Zukunft von Live Photos ziemlich finster aus.

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iPhone 6s looking at things: Bäume.

Apple konnte sich die vergangenen Jahre darauf verlassen, als einziger Hersteller von Telefonen die Kamera-Software wirklich im Griff zu haben. Das iPhone lieferte so immer die besseren Bilder, Megapixel hin oder her. Das ist aktuell nicht mehr so. Bei Samsung oder LG ist man mittlerweile fast auf Augenhöhe. So ist es eigentlich keine Überraschung, dass im 6s und 6s Plus an genau dieser Schraube gedreht wurde. Zwölf Megapixel. Was das bedeutet? Dass das iPhone immer noch die besten Bilder macht. Zwar gibt es Situationen, in denen andere Telefone die iPhones ausstechen können, nimmt man aber alle Nutzungsszenarien zusammen und bildet die User-Quersumme, dann liefert das iPhone die verlässlichsten Ergebnisse. Ob sich das Mehr an Megapixel nun tatsächlich auf die Bildqualität auswirkt, sei dahingestellt. Wer sich für das neue 6s Plus entscheidet, hat – genau wie im letzten Jahr – den großen Vorteil der optischen Bildstabilisation: noch bessere Bilder, weil weniger Wackler. Diese Stabilisation lässt sich 2015 erstmals auch für Videos nutzen.

Würde im Berghain nicht sowieso Fotoverbot herrschen: Nach dem ersten Selfie mit dem 6s bekäme man Hausverbot, auf Lebenszeit.

Deutlich besser hingegen sind nun die Ergebnisse der vorderen (Selfie-)Kamera. Dank der fünf Megapixel ist sie endlich auf der Höhe der Zeit angekommen. Die Bilder werden aber nicht nur aufgrund der höheren Kamerauflösung besser. Die iPhones haben zwar keinen traditionellen Blitz auf der Vorderseite, nutzen aber das Display, um Licht ins Dunkel zu bringen. Das funktioniert überraschend gut, ist aber alles andere als ein subtiler Effekt: Der Zweck heiligt die Mittel. Würde im Berghain nicht sowieso Fotoverbot herrschen: Nach dem ersten Selfie mit dem 6s bekäme man Hausverbot, auf Lebenszeit. Vielleicht doch lieber heimlich ein 4K-Video auf dem Dancefloor drehen? Denn auch das können die neuen Telefone. Nutzen sollte man das jedoch nur, wenn man ein Telefon mit ausreichend Speicher hat: Eine Minute 4K verbraucht rund 375 MB Platz. Da ist bei den kleinen Modellen schnell Schluss. 4K-Videos mit Telefonen aufzunehmen, ist keine bahnbrechende Erfindung, es gibt bereits zahlreiche Geräte von Mitbewerbern, die das ebenfalls können. Mangeln tut es eher noch bei den Abspielgeräten (Fernseher), auch wenn die immer preisgünstiger werden.

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Lichtgeschwindigkeit

„Why walk on the moon, if you could fly to the sun. All you need is a rocket ship, and you’ll always be warm“, textete Daniel Miller vor 35 Jahren im Song „Sun Flight“ für seine Band Silicon Teens und umschreibt damit genau das, worum sich die Technologie-Branche auch heute noch dreht. Weiter, immer weiter.

Das iPhone 6s ist das rocket ship. Dass 4K-Aufnahmen jetzt möglich sind, ist dabei aber eher auf einer Meta-Ebene interessant. Die Prozessoren unserer Mobiltelefone sind mittlerweile derart schnell, dass sie die Existenz von Desktop-Chips mittelfristig in Frage stellen. Apple ist hier in der bestmöglichen Situation, weil sowohl die Soft- als auch die Hardware selbst entwickelt und so aufeinander abgestimmt werden können. Süffisantes Detail: Auf der Website von Apple kann man ein mit dem iPhone aufgenommenes 4K-Video herunterladen. Und während ich auf dem Telefon zwei 4K-Videos simultan editieren kann, will mein MacBook das Demo nichtmal ruckelfrei abspielen.

Aber was braucht ein Weltraumtaxi? Benzin. Die Akkuleistung des iPhones war und ist einer der größten Kritikpunkte überhaupt an Apples Telefonen und auch 2015 ändert sich hier nicht viel. Zwar ist die aktuelle Version des Betriebssystem, iOS 9, mit einem speziellen Energiesparmodus ausgestattet – auch das kennt man bereits von anderen Herstellern – und informiert über besonders aktive Stromfresser-Apps, jede Optimierung ist jedoch irgendwann ausgereizt. Apple spielt Catch-up. Die Akkuleistung entspricht der der letzten Generation. Das ist einerseits bemerkenswert, da de neuen Akkus ja kleiner sind, andererseits aber auch irgendwie doof. Das Techno-Mantra der vergangenen Jahre greift heuer erneut: Wer dem nächsten Quantensprung in der Batterietechnik auf die Spur kommt, dem gehört die Welt. Schade eigentlich, dass Apple und Elon Musk nur so semi-gute Buddies sind.

Zwölf Monate Zukunft

Umso bessere Buddies sind die über 13 Millionen Menschen, die das 6s und das 6s Plus unwiderruflich sofort am ersten Tag haben wollten, nein: mussten. Woher dieses Phänomen wirklich rührt, sollen die Sozialwissenschaften klären und uns mit system- und konsumkritischen Studien überhäufen. Fakt ist: Apple gelingt es, Neuerungen in der Technik nicht nur überzeugend umzusetzen und so tatsächlichen Mehrwert anzubieten, sondern genau dies auch – entschuldigt das Wort – engaging zu verpacken. Man will dabei sein. Das sagt mehr über unsere Gesellschaft, als alle Studien, die genau die untersuchen. Das Display ist die rosa Brille, die die Welt erträglich macht. Und Apples Display scheint das beste zu sein, das es gibt. Bis zum September 2016, wenn das iPhone 7 in den Handel kommt, sich neue Schlangen vor den Läden bilden und die schreibende Zunft beginnt darüber nachzudenken, wie man die Geschichte eines Handys neu erzählen kann.

Dann ist wieder Herbst und es gibt wieder neue iPhones.

iPhone 6s 07

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