Anarchie im Alltag zieht sich wie ein roter Faden durch das literarische Werk von J. G. Ballard, einem der Urväter der gar nicht so utopischen Dystopie. Romane wie „Crash“, erfolgreich von Cronenberg verfilmt, aber auch „Kingdom Come“ zeigen dies eindrücklich. Jetzt hat Ben Wheatley „High-Rise“ filmisch umgesetzt. Ein gigantischer Wolkenkratzer am Rande Londons bietet seinen Bewohnern jede nur denkbare Annehmlichkeit: Schwimmbad, Supermarkt, Restaurants, Clubs und Bars. Abschottung gegen „die Welt da draußen“ – aktuell vielerorts wieder ein großes Thema –, soziales Experiment und großes Scheitern. Was leider auch für den Film gilt, trotz brillanter Besetzung mit Tom Hiddleston und Elisabeth Moss.
„Später, als er auf dem Balkon saß und den Hund aß, dachte Dr. Robert Laing über die außergewöhnlichen Ereignisse nach, die sich während der vergangenen drei Monate in diesem riesigen Apartmentgebäude zugetragen hatten.“
So beginnt J. G. Ballards Roman in der Übersetzung von Michael Koseler und auch die filmische Adaption gewährt zu Beginn einen kurzen Blick darauf, wohin sich der folgende Wahnwitz entwickeln wird. Damit wären wir auch schon bei einem der vielen Probleme, die den Film niemals wirklich abheben lassen. Während der Kunstgriff, die Geschehnisse im Rückblick zu erzählen, im Buch eine schöne Spannungskurve anlegt, sorgt es im Film lediglich für den Eindruck, dass da eh schon von Anfang an ein durchgeknalltes Chaos herrscht in dem titelgebenden Hochhaus. Trotz viel Gezappel und visueller Mätzchen steht der Film merkwürdig still. Nichts entwickelt sich wirklich, alles ist schon von Beginn an zum Teufel. Schade ist das, denn eigentlich scheint sich in diesem Durcheinander, das High-Rise geworden ist, ein prima Film zu verstecken, der gerne raus will, aber leider nicht kann.
High-Rise, sowohl das Buch aus dem Jahr 1975 als auch der Film, erzählt von den Bewohnern eines hochmodernen Wolkenkratzers, in dem es an nichts mangelt: eine vertikale Stadt, die für alle Bedürfnisse ihrer Mieter Sorge trägt, so dass theoretisch niemand mehr diesen Ort verlassen müsste. Im Mittelpunkt stehen der Universitätsarzt Laing, der Dokumentarfilmer Wilder und der Architekt des Gebäudes Anthony Royal. Durch ihre Augen sehen wir, wie die Barbarei Einzug hält, sich die Bewohner zuerst nur wegen Nichtigkeiten zanken und sich später Stellungskriege um die verbleibenden Lebensmittel und andere Konsumgüter liefern. Ballard zeichnet ein grimmig-komisches Bild einer höchst surrealen Situation, die dabei vorgibt, völlig rational und vernünftig zu sein. Kannibalismus und die Not, Deadlines für geistreiche Filmrezensionen einzuhalten, stehen widerspruchslos Seite an Seite: „Was ist mit Eleanors Batterien? Du hast versprochen, welche für die aufzutreiben. Sie muss wieder mit ihren Filmkritiken anfangen“, lässt Ballard eine der Protagonistinnen Dr. Laing bitten, auf der vorletzten Seite, kurz bevor auch im Nachbarhaus endlich die Lichter ausgehen.
##Katastrophen-Management
Der Roman High-Rise bildet zusammen mit Concrete Island (1974) und Crash (1973) – den David Cronenberg sehr schön verfilmt hat – so etwas wie eine Trilogie. Gemein ist ihnen und eigentlich allen anderen Büchern, die der Brite geschrieben hat, dass sich Ballards Protagonisten in den Katastrophen, die ihnen widerfahren, lustvoll einrichten statt zu versuchen, das Althergebrachte zu bewahren. Seine Romane lesen sich häufig wie Bedienungsanleitungen, so distanziert und nüchtern ist sein Stil. Seine Figuren beobachten und analysieren ihre eigenen Transformations- und/oder Zerfallsprozesse voller Interesse und ohne dabei wirklich Angst zu haben. Das entwickelt häufig eine ganz eigene Poesie.
Ein zu langes Musikvideo, wie es heute nicht mehr gedreht wird.
In Wheatleys Verfilmung ist diese ballardische Perspektive auf die Dinge durchaus zu erkennen. Der Regisseur ist Fan des Autors und kennt sein Werk sehr gut. Viele typische Ballard-Motive finden in der Verfilmung ihren Platz: Statuen und Schaufensterpuppen, Unfallfahrzeuge, leere Swimmingpools, Seevögel (hungrige), um nur einige zu nennen. Aber es gelingt Wheatley nicht, aus dem Stoff einen funktionierenden Spielfilm zu machen. Und das liegt in erster Linie am Schnitt: Sie haben es sich nicht nehmen lassen, das Ehepaar Ben Wheatley und Drehbuchautorin Amy Jump, ihr Material selber zu montieren und in eine sehr spezifische Form zu gießen. Die Binsenweisheit, dass ein Film erst im Schnitt entsteht, ist hier noch einmal sichtbar wie nie. Sie leisten sich den Fehler, ihren Stoff immer wieder von einer antiquierten 90er-Jahre-Videoclipästhetik vereinnahmen zu lassen. Da gibt es in der Mitte des Films diese Montagesequenz, die das Abdriften des hochmodernen Wohnkomplexes in Anarchie und Irrsinn einfach mal eben kurz mit vielen kleinen Momentaufnahmen zusammenfasst und so der Narration den Pflock durchs kalte Herz schlägt. Ein langsames Abdriften, das wäre ein Film gewesen. So ist es dann doch nur ein zu langes Musikvideo, wie es heutzutage eigentlich gar nicht mehr gedreht wird. Auch die Szene, die von Portisheads unglaublicher Coverversion von ABBAs SOS untermalt wird, fällt völlig flach: Ihr wird von dem tollen Popsong der Hals zugeschnürt, eine Überdosis Ironie verabreicht.
Das ist symptomatisch für das Scheitern des Films. Viel zu viel in High-Rise ist auf den komischen Effekt gebürstet. In einer der zwecklosesten Szenen seziert Dr. Laing äußerst ruppig einen der medizinischen Forschung hinterlassenen menschlichen Kopf, mit dem Effekt, dass einer seiner Studenten in Ohnmacht fällt. Es soll wohl ein Witz sein, aber Wheatley bringt diesen einfach nicht rüber. Genau genommen ist auch der Witz überflüssig. Der Drang, permanent comic relief über den Filmtext zu streuseln, offenbart, wie unsicher und unentschlossen Wheatley bei der Umsetzung eigentlich ist. Alles ist ein bisschen zu komisch, das lässt permanent Luft raus aus der Geschichte.
Ich schätze, mein Hauptproblem mit High-Rise ist, dass der Film nicht Crash ist. Cronenberg hat einen sehr schönen, dissonanten und auch verhalten komischen Film gedreht, der in seiner Kühle und Nüchternheit vollkommen zeitlos ist. Eigentlich hat Cronenberg auch High-Rise bereits verfilmt, und zwar mit Shivers – Parasiten-Mörder. So ist High-Rise eher ein überflüssiges Remake als die langersehnte Adaption von Ballards Roman: halbwegs amüsant, aber lauter, schriller und mehr als die Vorlage. Aber eben nicht besser.
High-Rise
Großbritannien, Belgien 2015
Regie: Ben Wheatley
Drehbuch: Amy Jump, basierend auf dem Roman von J. G. Ballard
Darsteller: Tom Hiddleston, Jeremy Irons, Sienna Miller, Luke Evans, Elisabeth Moss, James Purefoy
Laufzeit: 119 Minuten
im Kino