Die agile RevolutionUnderstanding Digital Capitalism IV | Teil 1
21.10.2019 • Gesellschaft – Text: Timo Daum, Illustrationen: Susann MassuteAgile Methoden haben die Softwarebranche revolutioniert: Kleine, selbstorganisierte Teams produzieren in kurzen Zyklen immer neue Iterationen in einem perpetuierten Kreativprozess. Auch darüber hinaus sind sie nicht mehr wegzudenken – man findet sie in nahezu allen Branchen, in denen Projekte gestemmt, neue Produkte und Dienste entwickelt werden und kreativ gearbeitet wird. Jenseits des Arbeits- und Projektlebens heißt die Parole ebenfalls: Sei agil, beweglich, flexibel! Bleib nicht stehen, investiere in dich selbst, erfinde dich neu! Schon Kinder müssen performant sein und Kompetenz beweisen, und selbst für Senioren gibt es keine Pause: Ruhestand war gestern, heute muss immer etwas unternommen werden. In der vierten Staffel unserer großen Reihe „Understanding Digital Capitalism“, die Phänomene, Hintergründe und Zusammenhänge des Kapitalismus im digitalen Zeitalter im Spannungsfeld von Technik-, Medien- und Ideologiekritik beleuchtet, untersucht unser Autor Timo Daum, was es mit den agilen Methoden auf sich hat. Und welche gesellschaftlichen Folgen sich daraus zwangsläufig ergeben, wenn Arbeitskraft-Unternehmer oder Franchise-Nehmer zum Role Model digitalkapitalistischer Geschäftsmodelle werden. Im ersten Teil klärt er zunächst die Basics. Agile Methoden: Was steckt eigentlich dahinter? Und wer hat es wann wo und vor allem warum erfunden?
In einem Wintersport-Resort im US-Bundesstaat Utah traf im Februar 2001 eine Gruppe von Leuten aus der Softwarebranche zusammen, um nichts weniger als eine Revolution einzuleiten. Auf einer Skihütte entstand ihr „Manifest für Agile Softwareentwicklung“, das Gründungsdokument der agilen Bewegung. Die zwölf Gebote und Prinzipien des Manifest sollten die Art und Weise, wie Software entwickelt wird, wie IT-Projekte gemanagt und Arbeitsabläufe organisiert werden, für immer verändern.
Die agilen Revolutionäre (unter den 17 Erstunterzeichnern findet sich keine einzige Frau) hatten die Nase voll von alten Projektmanagement-Methoden, von penibler Arbeitsteilung, klaren Zuständigkeiten, isolierten Projektphasen und ausgeprägten Hierarchien. Nur zu oft wurden Aufgaben anhand eines klar definierten Ablaufs nacheinander abgearbeitet: Eins nach dem anderen lautete das Credo des alten Wasserfall-Modells. Oft waren daher unflexible Projekte, ein erheblicher Steuerungsaufwand und ausufernde Dokumentationen die Folge. In der agilen Welt sollte all das keinen Platz mehr haben.
Bei agilen Projekten sollen sowohl die Anforderungen als auch die Lösungen in einem iterativen Prozess entwickelt werden; dabei sollen kleine, selbstorganisierte Teams eng zusammenarbeiten. In zwölf Geboten oder Prinzipien legten die Jünger der neuen Projektentwicklungs-Religion fest, wie in Zukunft gearbeitet werden sollte; wem zu Diensten – das drückt das erste Gebot unmissverständlich aus:
„Our highest priority is to satisfy the customer through early and continuous delivery of valuable software.“ – „Unsere höchste Priorität ist es, den Kunden durch frühe und kontinuierliche Auslieferung wertvoller Software zufrieden zu stellen.“ (1. Prinzip)
Die Arbeit mit agilen Methoden und Prinzipien hat klassisches Projektmanagement im IT-Sektor weitgehend abgelöst.
Frühe und ständige Auslieferung von funktionsfähigen Prototypen durch inkrementell nachprüfbare Produktverbesserungen ist das Ziel. Das bedeutet: Zu jeder Zeit engmaschig, typischerweise alle 14 Tage gibt es – auch für den Kunden – ein lauffähiges Zwischenprodukt mit klar erkennbaren Entwicklungsschritten. So etwas gab bis dato nicht. Vielmehr galt: Am Ende ist das Produkt fertig, mit möglichst den Spezifikationen, die ganz am Anfang festgelegt worden waren. Die Arbeit mit agilen Methoden und Prinzipien hat klassisches Projektmanagement zumindest im IT-Sektor weitgehend abgelöst. Das Beratungsunternehmen VersionOne fand in einer Umfrage heraus, dass 98 % der befragten Unternehmen agile Methoden einsetzten, jedes vierte arbeite sogar ausschließlich mit agilen Teams – das kann man wohl eine erfolgreiche Revolution nennen!
Understanding Digital Capitalism – Alle Texte im Überblick
Was ist eigentlich ein Projekt?
Insbesondere in der Softwarebranche sind gescheiterte oder aus dem Ruder gelaufene Projekte an der Tagesordnung: Dabei sind gesprengte Budgets, gerissene Deadlines und das Verfehlen der eigentlichen Projektziele die häufigsten Mängel. Das Forschungsunternehmens Standish Group kam zu dem Ergebnis, dass 94 % aller großen öffentlichen IT-Entwicklungsprojekte im untersuchten Zeitraum von zehn Jahren erfolglos waren – mehr als die Hälfte war verspätet, lag über dem Budget oder erfüllte nicht die Erwartungen der Benutzer. 41,4 % scheiterten vollständig. Das vielleicht berühmteste Beispiel ist der Versuch, den britischen Gesundheitsdienst NHS zu digitalisieren: nach zehn Jahren wurde es als gescheitert erklärt, beendet und viele Millionen Pfund waren verschwendet worden.
Das Projektmanagement ist eine relativ junge Disziplin. Aus der Römerzeit sind keine Projektmanager bekannt, auch wenn vor 2.000 Jahren schon erfolgreiche Groß-„Projekte“ realisiert wurden. Als eigenständige Disziplin entwickelte sich das Projektmanagement aus verschiedenen Anwendungsgebieten erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Als eigentlicher Begründer der Planungs- und Steuerungstechniken, die wir heute als Projektmanagement bezeichnen, gilt Henry Gantt, dessen nach ihm benannte Diagramme bis heute Verwendung finden.
Die Vordenker der Wirtschaftsinformatik Laudon und Laudon definieren ein Projekt folgendermaßen:
„Eine geplante Abfolge verbundener Aktivitäten zur Erreichung eines bestimmten Unternehmensziels”
Das klassische Projektmanagement ist gekennzeichnet durch eine Abfolge von Projektschritten, die auf detaillierten Vorgaben beruhen und Schritt für Schritt nacheinander abgearbeitet werden, meist einhergehend mit einem hohen Maß an Arbeitsteilung unterschiedlicher Gewerke. Das führt oft zu einem hohen Aufwand sowohl bei der Festlegung der Erfordernisse, als auch bei der Steuerung des Projektablaufs. Von Nachteil ist insbesondere, dass das Ergebnis und damit der erfolgreiche Projektabschluss auch erst ganz am Ende erkennbar ist. Etwaige Änderungen der Projektziele sind nach dem Projektstart nicht vorgesehen, im Extremfall muss das Ende abgewartet werden, bevor Korrekturen implementiert werden können, die wiederum die gesamte Kaskade durchlaufen müssen.
Agilität – wichtige Begriffe
Iteration: Eine Iteration ist ein Zeitfenster, in dem die Entwicklung stattfindet. Die Dauer kann von Projekt zu Projekt variieren und ist in der Regel festgelegt.
Lauffähiges Produktinkrement: Ein Inkrement ist die Summe aller während eines Sprints abgeschlossenen Aufgaben.
Sprint: Ein Sprint ist eine zeitbasierte Iteration eines kontinuierlichen Entwicklungszyklus, der oft 14 Tage dauert. Innerhalb eines Sprints muss die geplante Menge an Arbeit vom Team erledigt und zur Überprüfung vorbereitet werden.
Continuous Deployment: Kontinuierliche Bereitstellung ist eine Strategie, um die Zeit zwischen der Erstellung von Features und deren Veröffentlichung/Sichtbarmachung für Benutzer zu minimieren.
Agile Methoden
Ganz anders bei agilen Projekten: Idealerweise arbeiten kleine Teams in kurzen, typischerweise zwei Wochen dauernden Iterationen, an deren Ende ein lauffähiges Produktinkrement steht, also ein funktionsfähiger Prototyp, der wiederum den Ausgangspunkt für die nächste Iteration (Projektschritt) darstellt. Man nennt das auch continuous deployment. Team-Kommunikation und flache Hierarchien sind dabei gewünscht, schnelles Reagieren auf geänderte Kundenwünsche wird nicht nur möglich, sondern zum Normalfall. Änderungswünsche während des laufenden Projekts – für klassisches Projektmanagement ein rotes Tuch – sind nunmehr willkommen, wie das zweite Prinzip betont:
„Welcome changing requirements, even late in development – „Heiße Anforderungsänderungen selbst spät in der Entwicklung willkommen.“ (2. Prinzip)
Mittlerweile gibt es zahlreiche Schulen, Varianten und Frameworks, die unter Agilität subsumiert werden, Scrum oder Canban sind dabei die bekanntesten. Der Name Scrum ist einer Figur aus dem Rugby entlehnt, bei der alle Spieler einer Mannschaft einen kompakten Block aus Körpern bilden. Zusammengehörigkeitsgefühl, Nähe, direkte Kommunikation stehen im Vordergrund. Teamarbeit, Selbstorganisation und Rechenschaftspflicht werden zentral, um die Entwicklung optimal den Kundenbedürfnissen bzw. Unternehmenszielen unterordnen zu können.
Großunternehmen wie SAP, Bosch und viele andere gründen heute eigene Start-ups oder integrieren Teams in die eigene Unternehmensstruktur, die wie Start-ups funktionieren.
Radical Agility
Agile Methoden sind insbesondere in Start-Ups populär geworden. Bei Zalando etwa, der erfolgreichsten Neugründung der Start-Up-Schmiede Rocket Internet, werden sie gar zur Management-Philosophie erhoben. Seit 2015 implementierte der Online-Händler eine neue Unternehmensarchitektur (Radical Agility), in der Technologie und Unternehmenskultur verbunden werden und die sich an „verschiedenen verhaltens- und systemtheoretischen Ansätzen“ orientiert. Anwendungen werden von vielen kleinen Teams entwickelt, die zentrale Entscheidungen selbst treffen, sich dabei aber in kurzen Iterationen immer wieder untereinander abstimmen. Da das Warten auf Entscheidungen des Managements weitgehend entfalle, sei die Entwicklungsgeschwindigkeit enorm gestiegen, betont Eric Bowman, Senior Vice President Engineering bei Zalando SE: „Radical Agility fördert maßgeblich die Flexibilität und Kreativität unserer Mitarbeiter und ist damit wichtiger Treiber für Zalandos Innovationskraft, Resilienz und Wachstum.“
Auch außerhalb der Software-Industrie sind agile Methoden populär geworden. Besonders bei Projekten, deren Ergebnis nicht feststeht, kommen sie zum Einsatz – also bei solchen mit hohem kreativem Anteil und bei der Entwicklung neuer Produkte. Großunternehmen wie SAP, Bosch und viele andere gründen heute eigene Start-ups oder integrieren Teams in die eigene Unternehmensstruktur, die wie Start-ups funktionieren. So rief Bosch-Chef Volkmar Denner bereits 2015 seine 375.000 Mitarbeiter*innen auf, mit Ideen die eigenen Geschäftsmodelle anzugreifen und „Disruption Discovery Teams“ zu bilden. Um schnell Innovationen entwickeln zu können, wird vermehrt auch organisatorisch auf Projekte umgestellt und die Start-up-Kultur in-house kultiviert, um in immer schnelleren Märkten zu bestehen.
Große Firmen wie IBM, Oracle und Microsoft setzen ebenfalls auf agile Techniken und das nicht nur bei der Software-Entwicklung. IBM führte schon vor einiger Zeit neue Arbeitsmodelle ein („liquid“). Sie erlauben einen flexibleren Zugriff auf humane Ressourcen und unterlaufen bzw. dynamisieren klassische Abteilungen mit ihren festen Hierarchien, festgelegte Job-Beschreibungen, Arbeitszeiten- und orte – und tarifliche Regelungen. Technologische Strukturen werden hier mit sozialen Strukturen, eben selbstorganisierten Teams verknüpft und dem Ziel einer radikalen „serviceorientierten Architektur“ untergeordnet. Der neue CEO der Schweizer Pharmafirma Novartis, Vasant Narasimhan, hat gar zum konzernweiten „unbossing“ aufgerufen, selbst in der konservativen Branche weht ein frischer wind of change. Aus Chefs und Untergebenen werden Coaches und Buddys, aus Abteilungen und Hierarchien werden Projekte und Teams. Aber eins bleibt gleich – der Kunde ist König:
„Agile processes harness change for the customer's competitive advantage.“ – „Agile Prozesse nutzen Veränderung zum Wettbewerbsvorteil des Kunden.“ (2. Prinzip, Teil 2)
Nächstes Mal bei UDC:
Auch Volkswagen wird agil, trackt die velocity (ihr ahnt vermutlich, worum es hierbei geht) und überhaupt: Zwei Franzosen haben es schon lange gesehen – das Projekt löst die Fabrik ab, und der Betrieb wird ins Innere verlagert.
Der zweite Teil der vierten Staffel erscheint am 4. November.
Quellen und Links
- The Agile Manifesto
- VersionOne, 12th annual State of Agile report overview, 24.4.2018
- Claudia Lemke, Walter Brenner, Kathrin Kirchner. Einführung in die Wirtschaftsinformatik Band 2: Gestalten des digitalen Zeitalters. Berlin: Springer Gabler, 2017.