Das Jahr 2019 war ohne Frage das Jahr der jungen Menschen: Greta Thunberg, Rezo, Fridays for Future und die Meme „OK Boomer“ haben bewiesen, dass die oft und lange getriezte Generation (Post-)Millennial wahrscheinlich mehr auf dem Kasten hat und mehr Impact erzeugen könnte, als viele Generationen zuvor. Eigentlich wäre das durchaus ein Grund zu feiern, wären die vielen Anlässe, weshalb junge Menschen wieder so politisiert werden, nicht derart drastisch und apokalyptisch. Jenseits dieser Gemeinplätze ist dennoch auch im Filter-Universum viel passiert. Daher lassen wir uns auch 2019 den ultimativen Jahresrückblick nicht nehmen. Unbestechlich subjektiv, Mainstream-resistent und ausnahmsweise mal ohne Donald Trump.
AOC
Bankern à la J.P. Morgan und Goldman Sachs, Pharma-Riesen, Militär-, Rüstungs- und Privatunternehmen, die Gesichterkennungstechnologie anwenden und die Daten an Regierungen verkaufen können, zieht sich seit Januar 2019 kollektiv der Schließmuskel zu, wenn die Initialen AOC fallen. Das Jahr hatte gerade erst begonnen, als die 29-Jährige Alexandria Ocasio-Cortez als bisher jüngste Frau für den 14. Kongresswahlbezirk New York Citys ins Repräsentantenhaus einzieht. In der South Bronx aufgewachsen, studierte sie International Relations, arbeitete in Bars und in einem Taco Shop in Downtown Manhattan und erlebte elitären Opportunismus am eigenen Leib: keine Krankenversicherung, mehrere Jobs gleichzeitig und Studentenschulden. Sie selbst verzichtet auf PAC-Geld, also fragliche Lobby-Zuwendungen von Seiten großer Unternehmen. Das hier eine Hand die andere wäscht, Gesetze kurzerhand umgeschrieben werden und „bad guys“ am Ende des Tages soviel Geld wie möglich mit geringstmöglichem Aufwand erwirtschaften können, exerzierte AOC bereits im Februar in einer großartigen Blitzrunde im Kongress durch.
Es folgt Mark Zuckerberg, der Lügen zwar scheiße findet, Faktenchecks aber nach wie vor mit Schulterzucken begegnet; politische Lügen bilden auf Facebook ja eine faktische Grauzone. AOC führte dabei nicht nur Zuckerberg vor wie einen Schuljungen, der die Aufgabe kurz mal für alle an der Tafel vorrechnen muss: keine Subventionierung in Milliardenhöhe für Amazons neues Headquarter in New York City, AOC sei Dank. Kann Amazon ja eigentlich auch egal sein und das ist es auch: „Won’t you look at that: Amazon is coming to NYC anyway - without requiring the public to finance shady deals, helipad handouts for Jeff Bezos, & corporate giveaways”, tweeted Ocasio-Cortez.
Bezahlten Mutterschutz? Sogar Hunde werden später von ihren Neugeborenen getrennt als Mütter in den USA, so AOC. Allen voran auf der Abschussliste, yours truly: Donald Trump. „Try to keep up“, schreibt sie im November in einem Tweet an den Präsidenten, der in vier Jahren weniger erreicht habe, als sie in elf Monaten. AOC legt das „fundamentally broken system“ mit großartigen Interrogationstaktik offen: demokratischer Sozialismus in Maschinengewehrdebatten, die nicht nur überfällig, sondern dazu auch noch höchst unterhaltsam sind. Wir sind gespannt auf ihre Beiträge 2020!
ausderzeitgefallen
Ein Filmjahr mit neuen Werken von Quentin Tarantino, Martin Scorsese und Woody Allen. Klingt doch erstmal gut, besonders für diejenigen, die wie ich ihre Kinoleidenschaft in den 90ern entwickelten. Und tatsächlich sind sowohl Once Upon a Time in Hollywood als auch The Irishman und A Rainy Day in New York sehr gelungene Filme. Alle drei bestechen durch grandiose Schauspiel-Performances, tolle Kameraarbeit und brillante Dialoge – wie häufig findet man diese Kombination heutzutage noch auf der Leinwand? Während Allen in sein geliebtes New York zurückkehrt und den immer gleichen Allen-Geschichten durch die drei Jungstars Timothée Chalamet, Selena Gomez und Elle Fanning frischen Wind verleiht, experimentiert Scorsese mit digitalen Verjüngungstechniken und präsentiert mit Netflix außerdem einen neuen Produktions- und Distributionspartner. Ausgerechnet der Jüngste im Bunde, Quentin Tarantino, verweilt dagegen in der bereits vor längerer Zeit eingenommenen Pose des trotzköpfigen Nostalgikers und setzt in Once Upon a Time in Hollywood gekonnt auf Retro- Charme.
Drei gelungene Filme von drei Regielegenden, und trotzdem will keine rechte Begeisterung aufkommen. Dafür wirken die Arbeiten einfach viel zu stark wie Reliquien aus einer anderen, lange vergangenen Epoche und machen außerdem schmerzhaft deutlich, dass es Zeit wird für neue Themen, neue Gesichter, neue Geschichten sowie neue Filmemacher und ganz besonders Filmemacherinnen – am besten von ähnlicher Qualität wie Quentin Tarantino, Martin Scorsese und Woody Allen.
Bahn
Heute nutzt man im Sport oder auch in anderen Lebenslagen gerne das Wort Momentum. Man könnte es auch Flow nennen. Wenn alles ziemlich geschmeidig passt, sich eine Großchance nach der anderen auftut, sich richtig Power aufbaut und man eigentlich nur den Ball einnicken muss. Eigentlich hat die Bahn aktuell so eine Situation. Klimadebatten, Nachhaltigkeit – die Bahn ist derzeit eigentlich das Verkehrsmittel. Oder könnte es sein. Aber man kennt ja Menschen, die immer lange Fresse ziehen. Leute, die selbst wenn sie einen richtig ausgefüllten Jackpot-Lottoschein auf der Straße fänden, meckern würden, dass da Reste von Cola dran kleben. Oder wenn Ferran Adriá und René Redzepi jemandem anböten ihn bis zum Lebensende gratis zu bekochen und die Antwort lautet: Essen macht doch fett. Dieser Duktus wurde auch deutlich beim unnötig aufgebauschten Gretagate. Auf diese Lächerlichkeit muss man nicht näher eingehen, zeigt aber das verquaste Mindset und die bräsige Verpeilung des Unternehmens. Das macht leider wenig Hoffnung auf eine sauberere Zukunft. Oder wurde etwa Andreas Scheuer ein Vorstandssessel versprochen?
Big Thief
Wenn eine Band in einem Jahr zwei Alben rausbringt, dann ist das in der Regel konzeptig, überflüssig oder klickgeil. Dass man zwei Alben binnen desselben Jahres herausbringt, die einzeln betrachtet schon meisterhaft sind und man es dennoch genauso entgegen aller Marketing-Direktiven macht, ist ein Zeichen von Größe und Erhabenheit. Anders lässt sich der Output von Big Thief nicht beschreiben. Die Band um Adrienne Lenker, Buck Meek, Max Oleartchik und James Krivchenia hat sich seit ihrer Gründung enorm entwickelt und 2019 erstmals transzendentale Ebenen erreicht. Das alles wird zwar noch immer understate und Indie präsentiert, darf sich aber gerne Weltklasse nennen. Denn so gute, bewegende und in ihrem Oeuvre vollkommene Bands habe ich lange nicht mehr erleben dürfen.
CO2
Laut Atmosfair habe ich 2019 11.030 kg CO2 an Bord von Flugzeugen produziert. Die fälligen 256 € habe ich eingeworfen. Dafür aber auch ein schönes Foto mitgebracht. Klingt zynisch, soll es aber gar nicht sein. Mein Stromanbieter schrieb mir vergangene Woche, dass ich weniger als die Hälfte eines durchschnittlichen Single-Haushalts verbrauche. I’m trying.
Conceptronica
Groß die Empörung, als Simon Reynolds den wachsenden Kuratierungsdrang in der Clubkultur beschrieb. Der Retromania-Autor vergoss dazu eine Rave-Nostalgie-Träne. Warum die Aufregung? Man kann die Wortschöpfung „Conceptronica“ ältlich finden. Catchy ist es trotzdem.
DDR
Wieder mal ein Jubiläum dieses Jahr, 30 Jahre Mauerfall. Bis zum Herbst waren die Zeitungen voll mit DDR-Themen, und die ostdeutsche Seele wurde achtsam befühlt, nicht nur wegen der Landtagswahlen. Dann passierte der 9. November – und danach war der Osten wieder passé. Der denkwürdigste Moment der 30-Jahre-Mauerfall-Feier am Brandenburger Tor war jedenfalls als Westbam auflegte – voll nett gemeint, so voll zeitgemäß; Berlin! Techno! Ach! – und er von einem Posaunenspieler begleitet wurde, der Playback zu einem Trompetensample spielte. So viel Fremdscham an einem Abend. Dabei möchte man, vor allem als ostdeutsch sozialisiertes Wendekind, die Feierlichkeiten ja auch ein bisschen gut finden. Schließlich profitierte ja die eigene Familie, der Lebensweg so davon. Ob es in einem Paralleluniversum eine unpeinliche Version dieser Feier mit Westbam, dem Sportstudio-Moderator und Laserharfe gibt? Oder liegt es in der DNA dieser Feiern, dass sie eben immer etwas awkward sind?
Death Stranding
Ich kann keine Videospiel-Jahresliste ernst nehmen, die dieses Spiel mit Starbesetzung und Edel-Soundtrack nicht auf den ersten Platz genommen hat. Hideo Kojimas Werk ist cineastisch, fesselnd und meditativ zugleich. Diese postapokalyptische Welt, in der man als Paketbotenheld Sam Porter Bridges mit tragbarer Gebärmutter und dazugehörigem Jenseits-Baby die versprengten Menschheitsüberreste in ihren Bunkern wieder verbindet und beliefert, wird von allergruseligsten (weil unsichtbaren) Totenwelt-Monstern bedroht. Es ist der jeweiligen Spieler*innen-Persönlichkeit gänzlich überlassen, wie mit Konflikten umgegangen wird: Schleichend vermeidend oder brachial konfrontativ. Das Töten von Mitmenschen sollte jedoch tunlichst vermieden werden, da schnell ein nächster Fallout drohen könnte. Und selten war Wetter bedrohlicher: Die Dynamik des so genannten Zeitregens und -schnees zerfrisst alles Lebende, Fracht geht kaputt und ungeschützte Menschenhaut altert um Jahre in wenigen Sekunden. Wann ließ mich ein Spiel je angsterfüllt einen Regenbogen anblicken?
Deepfake
Dietmar Dath
Der überproduktive Autor hat dieses Jahr gleich mal drei Bücher veröffentlicht, die Romane „Du bist mir gleich“, „Neptunation“ und das große, wohlmöglich recht subjektive „Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine“. Letzteres kann man schon allein wegen dieses Zitats aus der Einleitung lieben: „Es ist ohnehin eine grobe Unwahrheit, dass abseitige Beschäftigungen Menschen isolieren; in Wirklichkeit, durfte ich lernen, stiften gerade abseitige Interessen wie UFOs, Mathematik, Briefmarken oder Bolschewismus eine Sorte Nähe zwischen denen, die sie teilen, an der sich die Zeit die Zähne ausbeißt […].“ Wer so dicke Bücher schreibt, wird leider tendenziell wenig rezensiert – denn etwaige Kritiker*innen müssen ja die 942 Seiten erst einmal durchwälzen und dann noch vergleichbar viel Ahnung haben. Für alle Menschen mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne hat er aber gleich mal das Genre der Video-Filmkritik gerettet als er den zweiten Teil von Frozen mit Elsa-Gewand und Star Trek-Brosche besprach. Da kann man abschließend nur Heike Lindhold, auf Twitter @Symposiarchin, zitieren: „Wenn alle jedes Mal, wenn sie sagen "Ich find die FAZ ja auch unmöglich, aber kann auf das Feuilleton einfach nicht verzichten", 5 EUR in die Akademikerproblem-Spardose tun, können wir davon ne eigene Zeitung gründen und uns vom Restgeld Dietmar Dath kaufen.“
Falter-Fail
Eigentlich wird ja seit längerem gepredigt: Die Geschichte des Smartphones ist auserzählt. Nicht nur die – die der Gadgets allgemein. 2019 hat bewiesen, dass das Gegenteil der Fall ist. Das Dumme dabei ist nur, dass wir uns dabei warm anziehen müssen – sehr warm und uns weiter an unsere Rolle als Beta-Tester*innen gewöhnen sollten. Denn Giganten wie Samsung scheint es nicht sonderlich zu interessieren, ob ein Produkt wirklich fertig ist oder nicht. Wir kennen das aus der OS-Hölle und den daraus resultierenden Updates im Wochentakt. „Galaxy Fold“ heißt das Produkt, mit dem der südkoreanische Großkonzern frischen Schwung in die zunehmend langweilige Evolution des Taschentelefons bringen wollte. Und irgendwie auch immer noch will. Nur: Die ersten Exemplare des faltbaren Telefons waren so schlecht verarbeitet, dass sie reihenweise vor laufenden YouTube-Kameras den Geist aufgaben; natürlich in 4K. Peinlich, aber auch ein Zeichen dafür, wie buchstäblich zerbrechlich es heute immer noch oder wieder sein kann, wenn man den Status Quo hinterfragen will. Immerhin kroch man bei Samsung zu Kreuze, besserte nach und verkauft den Klopper jetzt wirklich: für 2.100 €, dafür aber auch mit 5G. Muss man Displays falten? Nein. Kann man Displays falten? Vielleicht. Bald. Irgendwann. Was wir davon haben? Rein. Gar. Nichts. Wir sollten lieber unsere Hände falten und uns des Wahnsinns gewahr werden, den man uns als Wahrheit verkaufen will.
Forest 404
Großartiger Podcast der BBC: Wir befinden uns in einer digitalen Dystopie des 24. Jahrhunderts, in der fast time, in der alles zu eng und nicht mal mehr Platz für Audio-Aufzeichnungen ist. Das Archiv muss geräumt werden, und dabei stößt die Protagonistin, deren Job vor allem das Löschen alles Alten ist, auf Naturgeräusche aus der längst vergangenen slow time. Was ist das? Eine spannende, deepe Reise beginnt – Forest 404 ist ein subtiler „Umweltthriller“ mit tollem Bonobo-Soundtrack, verpackt in eine Sci-Fi-Story. Auch gute Fiction-Podcasts anno 2019: Backup und Blackout.
Hinter Gittern: Russischer Befreiungsschlag
Das vielleicht traurigste Gefängnis des Jahres wurde geräumt. Prominente Stimmen hatten die Massenbefreiung aus dem Whale Jail gefordert. Wer genau? Die Liste ist erstaunlich: allen voran natürlich Leonardo DiCaprio, dicht gefolgt von Pamela Anderson, die gleich einen Brief an Präsident Putin schrieb, Umweltschutzorganisationen, 1.5 Millionen Unterschriften auf der Plattform Change.org und, man will es kaum glauben, Vladimir Putin selbst. Rund 87 Belugawale und 11 Orcas wurden im Osten Russlands auf engstem Raum gehalten, um von dort an chinesische Marineparks und Aquarien verkauft zu werden. Nach einem Gerichtsbeschluss begann das Russische Institut für Fischerei und Ozeanographie (VNIRO) bereits im Juni mit der Auswilderung der Tiere ins Ochotskischen Meer, die im November vollständig abgeschlossen wurde. Die Strafe lässt die Kasse ordentlich klingeln: 433.000 US-Dollar. In Rubel klingelt es da natürlich gleich 64-mal mehr: 28.1 Millionen Rubel. Bitte mehr Befreiungsschläge dieser ungewöhnlichen Koalition.
Hope
Huawei
Kein Tech-Unternehmen hat in diesem Jahr in der westlichen Welt so auf die Fresse bekommen wie Huawei. Mit anderen Worten: Die Spionage-Vorwürfe im Zuge des Aufbaus der 5G-Netze wurden Tagesschau-Material. Skurril eigentlich, denn die Firma steht seit Jahren in der Kritik, auf Kuschelkurs mit der chinesischen Regierung zu sein. Das ist ein Nobrainer. Wer in China wachsen will, muss im Politbüro zum Tee erscheinen, und zwar pünktlich. Aber wie so oft denkt die westliche Welt nicht mit, bzw. ignoriert die eigenen Langzeitfehler. Wenn Huawei die 5G-Netze nicht baut, wer denn dann? Selbst wenn Ericsson oder Nokia in die Bresche springen, wird der Ausbau länger dauern und teurer werden. Der Smartphone-Abteilung von Huawei derweil aus den USA heraus die Lizenzen für Google-Dienste zu entziehen, wird das zukünftige Wachstum zwar verlangsamen, aber nicht aufhalten. Der Westen wurde von China überholt, und Huawei von 5G auszuschließen ist ungefähr so clever wie die Idee, Batterien für E-Autos zukünftig in Europa zu bauen, ganz egal wie viel Subventionen aus Brüssel dafür fließen. Wir sprechen uns in zehn Jahren zum Kassensturz.
In Fabric
Mein Lieblingsfilm 2019: Peter Stricklands In Fabric. Sheilas (Marianne Jean-Baptiste) neuer, blutroter Fummel, der ihr tristes Beziehungsleben aufpeppen soll, bringt ihr schlussendlich nur wenig Freude. Das Kleid hat nämlich seine ganz eigene Agenda. Peter Stricklands In Fabric katapultiert einen mal eben gute 30 Jahre zurück: Da beschwört der Film die Zeiten herauf, als man sich seinen Horrortrash noch teuer importieren musste, aus den USA oder aus Japan, um eben diese eine besondere Schnittfassung zu bekommen, auf Laserdisc oder als NTSC-Videoband. Denn natürlich hat dieses weirde Kleinod keinen deutschen Verleih bekommen und so blieb mir dieses Jahr nichts anderes übrig, als mir von Freunden den bereits 2018 erschienen Film auf Blu-ray aus London mitbringen zu lassen. Hatten sich um Berberian Sound Studio noch Rapid Eye Movies und um The Duke of Burgundy noch Salzgeber gekümmert, ist Stricklands Neuester hierzulande vollständig unveröffentlicht geblieben – sogar bei Amazon Prime und Netflix wird man nicht fündig. Gut so. Mein Vorsatz für 2020 ist eh, mir ausschließlich obskures Zeug anzuschauen, das man sich mühsam beschaffen muss. Das scheint mir die einzig richtige Strategie, um angesichts der Flutwelle von Streaming-Diensten nicht weggespült zu werden. In Fabric ist eine ganz wunderbar doppelbödige Hommage an den europäischen Gruselunfug der 70er- und 80er-Jahre, für das die Italiener immer ein sicheres Händchen hatten und mit dem wir uns in den 90ern unser eigenes Videoprogramm kuratiert haben. Da schnappt sich Strickland diese haarsträubenden Prämisse und trägt sie in ganz ungeahnte Höhen und Tiefen. Irgendwas über Warenfetischismus will uns In Fabric sagen, aber ich habe keine Ahnung, was. Muss ich mir dieses Rätsel wohl noch 20 mal vornehmen, um das herauszufinden.
Jon Mueller - Canto (Sige)
Jon Mueller ist der beste Drummer, den niemand kennt. Oder zumindest nur eine kleine Gruppe Eingeweihter. Erinnert sich hier aber noch jemand an die Post-Rocker von Pele? Deren Nachfolger Collections of Colonies of Bees? Die dann gemeinsam mit Justin Vernon (Bon Iver) Volcano Choir aus dem Boden gestampft haben? Tja. Dabei ist Mueller doch seit der Jahrtausendwende als nimmermüder Solo-Künstler unterwegs, mal im Verband mit anderen, mal unter seinem Pseudonym Death Blues. 2019 veröffentlichte er ein gemeinsames Album mit Faith Coloccia (u.a. bei Mamiffer) und Aidan Baker (von Nadja) sowie eine LP mit Jeremy Popelka auf seinem Label Rhythmplex, bei dem Mueller auf von Popelka angefertigten Glasinstrumenten spielt. Darf auch mal sein. Schöner, intensiver und eindrucksvoller war da nur „Canto“, sein Album für das von Coloccia gemeinsam mit Aaron Turner betriebene Label SIGE. Über drei Stücke hinweg stellt Mueller erst Gongs („Oil“), dann die eigene Stimme („Wick“) und noch mehr Gongs („Flame“) in den Fokus. Was daran bitte so geil sein soll, ist schwierig zu erklären. Und genau deswegen ist „Canto“ eine meiner liebsten Platten des Jahres.
Kinder
Dieses Jahr gingen erstmals vor allem die Kleinsten zum Demonstrieren auf die Straße. Schüler*innen und sogar Kita-Gruppen. Aus Wut und Angst über eine nicht ungewisse, sondern über eine gewisse Zukunft: Gewiss ist, dass sie schlimm, viel zu heiß, überschwemmt und ein meteorologisches Dauerdesaster wird. Wie schlimm, das entscheiden leider nicht die Kleinsten im Schulterschluss mit der Wissenschaft, sondern die Altvorderen aus Politik und Wirtschaftslobbyismus. Und die Alten haben mit dem Fail von #cop25 einmal mehr gezeigt: Ein wahrer Wille, zumindest zu versuchen, die Klimakatastrophe abzuwenden, ist nicht vorhanden. #weilihrunsdiezukunftklaut
Kompostiermaschine
Wollte man als Trendrestaurant bisher was auf sich halten, dann stellte man sich einen Reifeschrank in den Gastraum, in dem die mittigsten Stücke vom Mittelstück dry-agen und dann teuer auf den Teller kommen. Die neue Zero-Waste-Welle – leave no Speisereste behind – hat ihre eigenen Edelstahl-Helden: Kompostiermaschinen für die Lebensmittelabfälle, die binnen Tagen oder Stunden aus Essensresten wertvollen Humus und somit Nährboden für neue Lebensmittel machen. Die Liebe zeigt sich in der Benennung: Im Pionier der Bewegung, dem „Silo“ in Brighton (jetzt in London wieder eröffnet), wird das bauchige Gerät der Firma Oklin „Berta“ genannt, im Berliner Zero-Waste-Restaurant „Frea“ heißt die Kompostiermaschine „Gersi“. Aber mal im Ernst: Sich, zumal als Restaurant-Startup, so ein Gerät für einen fünfstelligen Betrag zu kaufen, um Kreislaufwirtschaft Wirklichkeit werden zu lassen, statt einfach die Mülltonne aufzumachen, ist schon eine Ansage.
Marie Thompson - Beyond Unwanted Sound: Noise, Affect and Aesthetic Moralism
Es gibt so Bücher, die nur in bestimmten Sprachen geschrieben werden können und „Beyond Unwanted Sound: Noise, Affect and Aesthetic Moralism“ ist eines davon. Mit wissenschaftlicher Akribie, theoretischer Stringenz und nicht zuletzt einleuchtenden und lebensnahen Beispielen nimmt die Klangforscherin Dr. Marie Thompson die kuriose englische Doppelbedeutung des Worts "noise" einmal kräftig durch die Mangel, erklärt die klassistischen und rassistischen Dimensionen in seiner Verwendung und pisst nebenbei noch R. Murray Schafer ans Bein. Dekonstruktive Hochleistungsarbeit, die anschaulich und natürlich der einen oder anderen Merzbow-Referenz gespickt ist und das eigene Verständnis von dem, was nun ungewollter Krach oder doch friedliches Geräusch ist, ordentlich auf den Kopf stellt. What’s not to love? Eine der wichtigsten Veröffentlichungen im Sound-Studies-Bereich der letzten Jahre, das ich recht spät entdeckte und dann auch noch in der erdrückenden Stille einer süditalienischen Kleinstadt las. Ein wenig Noise hätte da gut getan, aber immerhin hatte ich Thompsons großartiges Buch an meiner Seite.
Mauer-Patrouille
Jetzt, wo der Brexit dank Boris in trockenen Tüchern ist, wird es allerspätestens Zeit, die härtesten Fantasien zur selbst gewählten Isolation des Königreichs richtig hart zu feiern. John Lanchester ist seit jeher Krisen-Chronist, ob nun journalistisch oder literarisch. Wirklich zugeben, dass sein aktueller Roman „The Wall“ auf dem Austritt seines Landes aus der EU gemünzt ist. Und tatsächlich greift die Geschichte weiter – was sie nicht ansatzweise besser oder erträglicher macht. Die Insel hat sich abgeschottet und eine Mauer rund um die Küste gezogen. Wer drin ist, also an Land, kann einigermaßen leben. Wer draußen ist, also auf dem Meer, will rein. Und das muss jeder junge Mensch verhindern – mit seinem Militärdienst auf der Mauer. Und wenn es ein Eindringling – also ein Flüchtling – an ihm oder ihr vorbei schafft, also die Mauer überwindet, wird selbst aufs Meer verstoßen. Ein großes und doch ganz leises Werk, das einfühlsam offenlegt, welcher Realität wir uns gemeinsam entgegenstellen müssen.
Mietendeckel
Der Gipfel der diesjährigen Mietendeckel-Debatte war die Vermieter-Demo am 9. Dezember in Berlin. Es lässt sich streiten, ob diese Maßnahme wirklich langfristig für bezahlbaren Wohnraum sorgen könnte oder ob es nicht eine politische Verzweiflungstat ist. Doch was die Damen und Herren von der Immobilien-Lobby auftrugen, war schon fast Satire. Hier nur ein kurzes Best-Of der Demoschildchen – bitte innerlich mit Caps-Lock-Stimme vorlesen: „Häuser brauchen Dächer und keinen Deckel!“, „Mietendeckel zerstört unsere Altersvorsorge!“, „Bauen statt Klauen!“, „Alle Wege der Regulierung führen nach Pjöngjang“, „Friede den Palästen!“, „Nie wieder Sozialismus”, „HITLER ULBRICHT MIETEN BREMSE NICHTS GELERNT? FRAU LOMPSCHER” und „Die Häuser, denen die sie kaufen“.
Netflix
Die Nominierungen für den besten Film in der Kategorie Drama bei den Golden Globes im Dezember 2019 machten noch einmal deutlich, dass das Kino, wie wir es kannten, nicht mehr existiert. Neben dem fürchterlich dummen Joker und dem unter der Regie von Sam Mendes entstandenen Weltkriegsdrama 1917 wurden mit Martin Scorseses The Irishman (siehe ausderzeitgefallen), Noah Baumbachs Marriage Story und dem kurz vor Weihnachten erscheinenden The Two Popes von Fernando Meirelles ganze drei Netflix-Produktionen nominiert. Es ist anzunehmen, dass alle Filme auch bei der 2020 stattfindenden Oscar-Verleihung eine gewichtige Rolle spielen werden. Außerdem feierten in diesem Jahr neue Arbeiten von Steven Soderbergh (The Laundromat, High Flying Bird), Isabel Coixet (Elisa & Marcela), J.C. Chandor (Triple Frontier), Dan Gilroy (Velvet Buzzsaw) sowie The King mit dem 2019 zum absoluten Hipster-Liebling aufgestiegenen Timothée Chalamet und seinem Vorgänger Robert Pattinson bei dem US-amerikanischen Streaming-Anbieter ihre Premiere. Keiner der Filme hatte vorher einen nennenswerten Kinostart. Netflix’ Strategie, sein Portfolio mit bekannten Regisseursnamen, denen man Geld und kreative Freiheit verspricht, aufzuhübschen, scheint zu funktionieren: Noch nie konnte man sich über so viele hervorragende Eigenproduktionen des US-Konzerns freuen. Dass daraus resultiert, dass die internationalen Kinoleinwände nahezu komplett den Sequels, Prequels, Remakes und Superheldenfilmen überlassen werden, ist eine bedauerliche Nebenerscheinung.
Phoebe Waller-Bridge
Bei der 1985 in London geborenen Phoebe Waller-Bridge muss man sich oft die Stirn kratzen, wie das alles eigentlich geht. Waller-Bridge ist Schauspielerin, Autorin, Produzentin und Showrunnerin, ganz offensichtlich vielseitig talentiert, enorm umtriebig und wahrscheinlich eines der Lichtblicke und Entdeckungen der britischen Unterhaltungsindustrie der letzten Jahre. Wer ihre brillante Serie „Fleabag“ gesehen hat, ist ob der Dichte und Tiefe der Dialoge noch immer baff und dann sprechen wir hier auch noch von Themen, die mal nicht der typische Mainstream sind. Das ist nicht die Welt von Justin Bieber und Selena Gomez, das ist der durchaus knallharte Mittelklassenstruggle und dass so etwas derzeit derart mit Preisen überhäuft wird, verwundert dann doch, wenn auch positiv. Phoebe Waller-Bridge hat zudem beim Buch des kommenden James Bond mitgeschrieben. So schnell kann’s gehen. Wer hätte je gedacht, dass es derartige Überschneidungen zwischen Indie-Comedy und Blockbuster gibt. Nun werden alle erwarten, dass Phoebe Waller-Bridge auch noch Marvel und Star Wars rettet. Wir sind gespannt, was kommt. Mit „Fleabag“ soll es ja leider nicht mehr weitergehen.
Porträt einer Frau in Flammen
Der Plot von Céline Sciammas Film Portrait de la jeune fille en feu (zu Deutsch Porträt einer Frau in Flammen) ist schnell erzählt: Marianne (Noémie Merlant) landet auf einer Insel in der Bretagne, wo sie ein Porträt von Héloïse (Adèle Haenel) malen soll - und zwar ohne, dass diese etwas davon mitbekommt. Denn Héloïse ist stinksauer, und wer kann es ihr verdenken: Sie soll nach Mailand zwangsverheiratet werden. Die beiden Frauen kommen allerdings gut miteinander klar und sich schließlich näher. Was genau der Moment ist, in dem Sciamma den doppelten Boden aufklappt. Denn Portrait weiß als meisterhafte Verhandlung von Repräsentation und den damit einhergehenden Problemchen, dass das Gezeigte niemals so stark wirkt wie das, was eben nicht auf der Leinwand zu sehen ist. Scheint die nämlich noch in einem Moment vor erotischer Energie zu platzen, entweicht all die Spannung mit dem ersten Kuss. Was nur eben kein Nachteil, sondern vielmehr zum Vorteil dieses ebenso überragend inszenierten wie besetzten Films ist, der damit auf die Metaebene geht und doch das Geschehen weiterlaufen lässt, bis am Ende kein Auge mehr trocken ist. Intensiver als Sciamma hat in diesem Jahr niemand über Sehen und Gesehenwerden im Zusammenhang Liebe und Erotik, die Grenzen der Sprache und die Freuden der Musik nachgedacht. Dass sie dazu noch eine gleichermaßen utopische wie differenzierte Analyse von solidarischen Bündnissen unter Frauen im frühen 19. Jahrhundert mitliefert, macht Portrait de la jeunne fille en feu nur umso beeindruckender.
Puffer Jackets
Puffer Jackets oder auch Puffy Jackets gehören seit spätestens letzter Saison zum absoluten Musthave in der kalten Jahreszeit. Auch diesen Winter gibt es keine Brand egal welcher Preisrange (von Prada bis Uniqlo), die keine Michelin-Mann-Staffagen im Angebot hätten. Dass sich Haute Couture und Streetwear mittlerweile sehr selbstähnlich geworden sind, musste nicht erst Virgil Abloh beweisen. Prinzipiell finde ich Mode ja aber ziemlich uninteressant. Diese Puffer Jackets sind aber aus soziologischen Aspekten irgendwie doch spannend. Kleidung ist ja immer ein Statement. Militärische Funktionsjacken in der Stadt bspw. beweisen, dass man auf alle Situationen preppermäßig vorbereitet ist. Aber was sagen diese tragbaren Schlafsäcke über uns aus? Wollen wir damit sagen, dass jeder Tag #Vanlife ist? Heißt das, dass wir in komplizierten schwierigen Zeiten, lieber unser Camping-Bett direkt mit in die U-Bahn nehmen? Dass das neue Understatement darin liegt, den eigenen Körper mit Yoga, Crossfit, Gym zu stählen, um der Welt da draußen bloß nichts vom Körperkapital zu zeigen und lieber wie die Allianz-Arena auszusehen? Oder löst sich das Heimische im Zeitalter der digitalen Nomaden nun doch völlig auf? Wenn nicht, gibt es gar Zyniker, die sich mit Obdachlosen in ihren Schlafsäcken unter der Brücke solidarisieren wollen, indem sie sich im Vuitton-Puffer zeigen? Man ist vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt? Home is where my puffer is? Was sagt eigentlich die Schlafsackindustrie dazu?
Rap
Dass Rap die größte Musik der Welt ist, ist keine News. Interessant aber, wie diese Kultur dieses Jahr auch in diversen anderen (Netflix-)Formaten aufgearbeitet wurde. Neben der Gangster-Rap-Serie „Skylines“, die in Frankfurt am Main spielt und offenbar schon nach Staffel 1 abgesetzt wurde (so schlimm war sie eigentlich nicht), zeigte vor allem die Casting-Show „Rhythm & Flow“, worum es im Rap-Game heute geht. Die Jury bestehend aus Cardi B, TI und Chance The Rapper reiste durch ganz USA, um den nächsten Superstar of Rap zu diggen, und bei allen Street-Narrativen und teils wirklich deepen Charakteren, dennoch irgendwie alles kaputt zu hauen. Es entspricht sehr wahrscheinlich der Realität. Aber wie sehr hier nur nach Outcome, Rendite und Verwertung geschielt wird, zeigt mal wieder, wie wenig das Musikbusiness mit Musik zu tun hat. Das kann man pragmatisch sehen. Wenigstens wird hier deutlich, was Sache ist. Ob der Gewinner der Show D Smoke sich demnächst zur Beletage des Rap zählen darf, wird man abwarten müssen. Rap ist ja ein Verdrängungs-Business. Mal gucken, ob Cardi und Chance Platz auf ihren aufgewärmten Sesseln machen.
Sally Rooney
Die irische Schriftstellerin ist der Literatur-Shooting-Star schlechthin im Jahr 2019. Und wenn ihr „Normal People“ oder ihr Debüt „Conversations with Friends“ (mittlerweile auch auf Deutsch erschienen) noch nicht gelesen habt, hier noch einmal die dringende Leseempfehlung. Um ihr Dasein als Autorin entspann sich jedoch auf Twitter auch der Hashtag #dichterdran, als der Schweizer Literaturkritiker Martin Ebel im Tagesanzeiger in seiner Buchrezension Rooneys Aussehen „wie ein aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen“ beschrieb. Dass Frauen, die als Künstlerinnen erfolgreich sind, in Kritiken auf ihr Aussehen reduziert werden, ist ja leider nicht neu – selbst als Politikerin wird man nicht verschont, wie man an der Berichterstattung über die neue finnische Premierministerin Sanna Marin gut lesen konnte (Jung! Hübsch! Mutter!). #dichterdran zeigte jedenfalls, wie gelassen man auf derartige Übergriffigkeiten in Buchstabenform reagieren kann: den Spieß umdrehen. So fragte Nutzerin @Guzinkar „Sie sehen blendend aus für Ihr Alter, Chapeau! Verraten Sie uns Ihre drei Must-Have-Körperpflege-Produkte, Frank Schätzing?“ und @FrauFrohmann hielt den Lookism von so typischen Interviews so blendend fest: „Richard David Precht pustet sich kapriziös eine kecke Haarsträhne aus dem Gesicht, schlägt grazil die in modischen Satinshorts steckenden schlanken Beine übereinander und beginnt über sein Steckenpferd, die Philosophie, zu sprechen - ein David Garrett der Populärwissenschaft.“
Dass aber nicht nur die Literaturkritik Teil der Maschinerie ist, sondern ebenso die Verlage zur Autor*innen-Inszenierung beitragen mit nachdenklichen Porträts, die in die Ferne schweifen oder mit so dämlichen Anpreisungen wie „Salinger for the Snapchat generation“ im Falle von Rooney, sollte auch nicht unerwähnt bleiben. Die Kultur- und Medienlandschaft ist vom männlichen Blick geprägt, Bücher von Frauen werden weniger veröffentlicht und weniger besprochen (siehe auch der andere diesjährige Literatinnen-Hashtag #autorinnenschuber). Die neue Dekade bringt hoffentlich frischen Wind – oder besser einen Sturm – in diese Strukturen.
Spider-Man
Das letzte Jahr war wahrscheinlich eines der besten Spider-Man-Jahre aller Zeiten. Wobei das große Spinnenjahr eigentlich schon im Herbst 2018 losging. Und ehrlich, so richtig Spider-Man-Fan war ich ja eigentlich nie. Mir war Peter Parker immer zu lauchig und vorlaut. Aber Meinungen können sich ja ändern. Zunächst kam das PS4-Game „Spider-Man“ heraus, das wie nie zuvor die einzigartige Physik des Marvel-Helden brillant eingefangen hat und mit fantastischer Grafik, viel Superheldenfeeling und tollen Combats aufwarten konnte. Zwischen den Jahren erschien in den Kinos der Animationsfilm „Spider-Man: Into the Spider-Verse“ von Bob Persichetti, Peter Ramsey und Rodney Rothman. Für mich ist das einer der besten Animationsfilme aller Zeiten. Derart liebevoll detailliert, komplex arrangiert und zeitgemäß gedacht – und trotzdem ist der Film irgendwie untergegangen. Beziehungsweise kenne ich keinen, der den Film gesehen hat. Was aber auch an der Übersättigung durch das MCU liegen könnte. Denn auch beim dritten Avengers-Film „Avengers: Endgame“ spielte Spider-Man eine Schlüsselrolle und zum Abklapp des dekadenlangen großen MCU-Narrativs durfte Tom Holland als „Spider-Man: Far from Home“ das große Epos (stabil unterhaltsam) sogar in diesem Jahr abschließen. Nicht klar war, ob Cutie Holland als Spider-Man im MCU weitermachen durfte. Zwischen Disney und Sony gab es immer wieder Streit und Unstimmigkeiten und kurz hieß es sogar, dass der kecke Holland keine Bookings mehr als Spidey bekommt. Offenbar hat man sich hier aber geeinigt. Das mag Fans besänftigen. So gut und intensiv wie die letzten anderthalb Jahre wird es mit Peter Parker aber lange erstmal nicht werden.
The Last Days of August
Warum hat sich Pornostar August Ames umgebracht? Wurde sie von einem Twitter-Mob in den Selbstmord getrieben, nachdem sie sich vermeintlich homophob geäußert hat? Das jedenfalls behauptet ihr Partner und Produzent Kevin Moore, der wiederum eine Kampagne gegen Ames‘ Kollegin Jessica Drake lostritt, die er hauptsächlich für die Eskalation verantwortlich macht. Doch schon bald werden Stimmen laut, die Moore in einem anderen Licht erscheinen lassen. Gleich zu Beginn der zweiten Episode bremst Autor Jon Ronson die Zuhörer seines Podcasts „The Last Days of August“ direkt aus: Dies sei kein Whodunnit, an dessen Ende die Lösung eines Kriminalfalls steht. Ronsons Ausflug in die Pornoindustrie der US-amerikanischen Westküste ist das Panoptikum einer Szene, die bevölkert ist von beschädigten, unreifen, widersprüchlichen und also ganz normalen Individuen, die sich allesamt als äußerst unzuverlässige Erzähler ihrer eigenen Geschichte entpuppen. Nach „So You’ve Been Publicly Shamed“ (über selbstgerechte Social-Media-Mobs und ihr Opferlämmer) und „The Butterfly Effect“ (über die vielfältigen und unerwarteten Effekte, den kostenloser Pornokonsum zur Folge hat) findet Ronson hier wieder eine lehrreiche Parabel über unser (Online-)Leben in den 10er- und nun bald 20er-Jahren. Zweierlei kann man mitnehmen, wer sich diese Tragödie in sieben Teilen vollständig angehört hat: Niemand das Zeug dazu, um im öffentlichen Leben des 21. Jahrhunderts – ob x-rated oder nicht – unversehrt davonzukommen. Und: Wir müssen viel netter zueinander sein. Kann man ja nicht oft genug sagen.
Universum al dente (10. April 2019)
Die Wissenschaftswelt hat eine geisterhafte Erscheinung festgehalten: Die vereinte Kraft ganzer acht Teleskope, die auf der ganzen Welt verteilt sind und virtuell im Superteleskop Event Horizon akkumuliert wurden, konnte das erste Bild eines schwarzen Lochs aufnehmen. Vielleicht lieber nicht direkt reinschauen? Halb so wild: die kleinsten Objekte im uns bekannten Universum werden genau genommen nur deshalb sichtbar, weil umliegenden Sternen und Gase in sie hineingesogen werden – tatsächlich zeigt das Bild den Ereignishorizont. Ähnlich also wie ein Stein, der beim Hineinwerfen ins Wasser einen Welleneffekt hinterlässt. Dichte und Schwerkraft sind im schwarzen Loch unendlich. Science-Fiction-Träume, die dort, in der Singularität, wahr werden. Was das ist? Weiß keiner so genau. Im April 2019 unter Astrophysiker*innen der Welt also Grund zum kollektiven In-die-Hände-Klatschen, ist die Menschheit der Singularität nun doch zumindest bildlich auf der Spur. Das erste Bild eines schwarzen Lochs wird direkt mit jenen der aufgehenden Erde (Earthrise) während der Apollo 8 Mission verglichen: Paradigmenwechsel in der Astrophysik!
Das supermassive schwarze Loch im Zentrum der 54 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxie M87 (oder Virgo A) schluckt langsam alles, was an seinem Ereignishorizont erscheint. Genau genommen ist so ein schwarzes Loch auch gar kein Loch, sondern ein Objekt im Universum, das Zeit und Raum dehnt, aufheizt, verstrahlt, wenn es sich zu schnell dreht sogar ein Wurmloch erzeugen kann – zumindest in der Theorie. Was passiert, wenn ein Mensch dem Loch zu nahekommt? Langgezogen wie eine Spaghetti, würde der Körper völlig außer Form geraten im Nichts (oder Allem?) verschwinden und Zeit und Raum dann absolut aus dem Ruder laufen. Einen passenden Namen für das Phänomen, das ja so, soweit bekannt, noch nie passiert ist, gibt es auch: Spaghettifizierung.
Watchmen
Damon Lindeloffs freimütige Adaption des Kultcomics von Alan Moore war Teilchenbeschleuniger, Plotpopschatzkiste und psychedelisches Gesamtkunstwerk. Vor allen Dingen aber war die HBO-Serie eine brillante Ermächtigungshistorie der zu kurz Gekommenen. Und John Lennon resümiert zum Schluss: We are the Eggmen!
What Happens To The Heart
Der beste Song des Jahres kommt von Leonard Cohen. Am 7. November 2016 starb der Musiker, zwei Wochen zuvor war mit „You Want It Darker“ noch sein letztes Album erschienen. David Bowie waren Anfang des gleichen Jahres nur zwei Tage geblieben zwischen Album-Release und Tod. Cohens Sohn Adam hat nun auf Wunsch des Vaters einige Demos und Skizzen ausproduziert. Posthume Alben haben etwas Befremdliches, doch allein „What Happens To The Heart“ lässt mich auf ewige Zeit dankbar zurück. Nichts ist mir dieses Jahr näher gegangen, als diese vier Minuten und 33 Sekunden Musik und noch viel mehr der Text. So beherzt und abgeklärt. „I had no trouble betting / On the flood against the ark / You see, I knew about the ending / What happens to the heart.“
Zwangsverheiratet
Ehrlich gesagt, ich wusste gar nichts von Zwangsverheiratungen im Islam. Bis ich Alina traf, eine junge Friseurin, 19 Jahre alt und Muslima. Sie erzählte mir, dass eine gleichaltrige Freundin von ihr gerade zur Hochzeit gezwungen wurde. In der Türkei, im Land ihrer Eltern, sei das passiert. „Aber sie wollte gar nicht heiraten, nicht jetzt, nicht diesen entfernten Cousin, den sie gar nicht kennt, geschweige denn liebt.“ Als Alina, die in Wirklichkeit anders heißt, mein Erstaunen bemerkte, erzählte sie mehr von dieser kulturellen Tradition, die in muslimischen Familien auf der ganzen Welt verbreitet ist. Auch in Deutschland und in Berlin-Neukölln, wo Alina lebt, sind solche Zwangshochzeiten an der Tagesordnung. Die Ehre der Familie ist damit verbunden. Nur wenige Eltern üben diese Zwangsmaßnahme nicht aus.
Ich beschloss, das Thema in einer Reportage zu veröffentlichen, machte mich auf den Weg nach Neukölln, recherchierte, führte Interviews mit Muslimas, die das ebenfalls erlebten oder davon Kenntnis haben. Sarah zum Beispiel: „Ich wurde gezwungen einen völlig fremden Mann zu heiraten als ich 18 war. Ich bekam eine Tochter und mein Mann schlug mich, weil es kein Sohn war“, erzählt sie. Sie floh damals ins Frauenhaus, bekam Hilfe: eine kleine Wohnung und eine Anwältin, die ihre Scheidung durchführte. Ich traf auch eine Sozialarbeiterin von Papaptya, einem Hilfezentrum für Mädchen, die aus ihren Familien fliehen, weil sie sich nicht zwangsweise verheiraten lassen wollen. Ich höre, dass sie auch im Hilfezentrum aufgespürt werden: von ihren Brüdern zum Beispiel, vom Onkel oder Cousin. Sie werden zurückgebracht in ihre Familien. Die Eltern versprechen, dass sie keinen Zwang mehr ausüben werden, halten sich aber nicht daran. Manche Mädchen springen dann aus dem Fenster, manche sterben. Von einer türkischen Anwältin erfahre ich, dass es im Islam reicht, wenn ein Imam diese Eheschließungen absegnet und sie für gültig erklärt. Staatlich anerkannt sind sie nicht, aber die Eltern stört das nicht, schließlich geht es um die Ehre der Familie, und die ist wichtiger für sie als staatliche Gesetze.
Die Sozialarbeiterin erzählt, dass es auch die Polizei und die Gerichte wenig stört, dass da muslimische Familien die deutschen Gesetze missachten und eine Straftat begehen. Nur selten greifen sie ein. Ausnahme: Wenn es sich um Minderjährige handelt. Alina erklärt mir, dass die betroffenen jungen Frauen auch sehr selten oder gar nicht Anzeige erstatten. „Wir lieben unsere Eltern und tun alles für sie, das ist anders als bei euch“. Ein halbes Jahr ist das alles jetzt her, aber mein Erstaunen und Entsetzen sind immer noch präsent. Jedes Mal wenn ich eine junge Frau mit Kopftuch in der U-Bahn sehe, würde ich sie am liebsten fragen nach ihrem Leben. Bist du verheiratet? Hast du Angst vor einer Zwangsverheiratung? Weißt du, dass es Schutzräume und Beratungsstellen gibt? Mit Alina habe ich noch diverse Male über dieses Thema gesprochen. Sie ist fest entschlossen, sich zu wehren, abzuhauen, egal wohin – falls ihre Eltern sie zur Eheschließung zwingen würden.
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