„Zwangsverheiratungen verletzen das Menschenrecht“Interview: Die Anwältin Sayima Kutluer über strukturelle Gewalt in islamischen Familien

Zwangsehe

In Deutschland werden Jahr für Jahr viele hundert junge Frauen und Männer von ihren Eltern zur Eheschließung gezwungen. Allein in Berlin wurden im vergangenen Jahr 570 Fälle registriert, die Dunkelziffer wird auf insgesamt 6.000 geschätzt. Viele Betroffene nehmen ihr Schicksal hin. Denn trotz dieses Eingriffs in das eigene Leben zählt die Familienehre unter Muslimen mehr. Diejenigen, die sich wehren, sind auf sich allein gestellt. Hilfe finde sie zum Beispiel bei der Berlin Anwältin Sayima Kutluer. Sie ist selbst Muslima und kennt die familiären Strukturen gut. Monika Herrmann hat sie getroffen.

Wenn zwei Menschen heiraten, tun sie das, weil sie sich lieben. Meistens jedenfalls. Doch es geht oft auch ganz anders: Junge Frauen und Männer werden zur Eheschließung gezwungen. Und zwar von ihren Eltern. Sie bestimmen, wen die Tochter oder der Sohn heiratet. Vor allem in islamischen Familien gehören Zwangsverheiratungen selbstverständlich zur Tradition. Das ist eben unsere Kultur, heißt es immer wieder. Auch in Berlin werden Jahr für Jahr einige Hundert dieser Zwangsehen geschlossen. Gegen alle Gesetze übrigens. „Die Ehe darf nur aufgrund der freien und vollen Willenseinigung der zukünftigen Ehegatten geschlossen werden“, heißt es in Artikel 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch eine wachsende Zahl von vor allem muslimischen Eltern kümmert dieses Menschenrecht überhaupt nicht. Dabei hat die UN-Menschenrechtskommission im Jahr 2001 Zwangsverheiratungen sogar als eine moderne Form der Sklaverei benannt und als Straftatbestand deklariert.

Wenn die Sommerferien beginnen, wird es dramatisch

Mitglieder des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung sprechen inzwischen sogar von einer Form sexualisierter Gewalt. In der Hauptstadt gab es einer Untersuchung des Arbeitskreises zufolge allein im letzten Jahr 570 registrierte Zwangshochzeiten. Eine Expertin, die nicht genannt werden möchte, spricht von einer Dunkelziffer von 6.000 Fällen. Besonders betroffen seien Mädchen und junge Frauen im Alter zwischen 13 und 21 Jahren, meldet die Pressestelle des in Kreuzberg ansässigen Arbeitskreises.

„Dramatisch wird es“, erzählt eine junge Muslima, die ihren Namen nicht nennen will, „wenn die Sommerferien beginnen und die Familien in ihre Herkunftsländer reisen, um dort Urlaub zu machen. Denn dort werden Töchter und Söhne sehr oft mit dort lebenden Frauen und Männern verheiratet“. Bei der Ankunft dort werden den Töchtern oder Söhnen Handy und Pass abgenommen. Der von den Eltern ausgesuchte Ehepartner steht bereit, und ein Imam gibt den Segen. Nach islamischem Recht sind die beiden dann verheiratet. Aber auch in Berliner Moscheen werden jede Menge Ehen zwangsweise geschlossen. Die jungen Ehefrauen werden dann von ihren Eltern gezwungen, die Schule oder ihre Ausbildung abzubrechen. „Nur wenige suchen Rat und Hilfe bei Anwältinnen, Notdiensten oder fliehen in Frauenhäuser“, erzählt Corinna Ter Nedden. Die Psychologin leitet seit über 30 Jahren Papatya, eine Anlaufstelle für Mädchen und junge Frauen, die physisch und psychisch oft bereits am Ende sind. Viele von ihnen haben Suizidversuche hinter sich. „Bei uns kommen sie erst mal zur Ruhe, können eine Weile bleiben, und manchmal organisieren wir für sie eine anonyme Unterkunft in Brandenburg, weil die Familie natürlich alles daran setzt, die Tochter wieder in die Zwänge der Familie zurückzuholen“.

Was ist da los in den Familien? „Die Eltern wollen auf ihre Art das Beste für ihre Töchter und Söhne und sie möchten, dass ihre Kinder in ihrem Sinn glücklich werden und vor allem die Ehre der Familie durch ihren Protest gegen all die Zwänge nicht verletzt wird,“ sagt die Anwältin Sayima Kutluer. Sie ist selbst Muslima, leitet den Verein Aufbruch Neukölln und kennt die Situation in den vor allem türkischen und arabischen Familien in Neukölln sehr genau. Sie weiß aus Erfahrung, welche wichtige Rolle die so genannte Familienehre spielt. Die Mutter von zwei Töchtern weiß auch, dass die Zwangsverheiratungen in den meisten muslimischen Familien zum Leben in Deutschland dazu gehören und dass die Zahlen von Jahr zu Jahr steigen. Sayima Kutluer kennt das Leid der Betroffenen und versucht, ihnen in ihrer Not zu helfen. Nicht immer gelingt das. „Denn oft kommen sie viel zu spät“, erzählt sie in ihrem Büro in der Neuköllner Uthmannstraße.

Sayima Kutluer Portrait

Foto: privat

Frau Kutluer, wie relevant ist das Problem der Zwangsverheiratung eigentlich? Kennen sie genaue Zahlen?
Nein, genaue Zahlen liegen nicht vor. Der Grund dafür ist, dass Frauen und übrigens auch Männer diese Zwänge, die ihnen von ihren Familien auferlegt werden, in den meisten Fällen hinnehmen, selbst wenn sie diese Hochzeiten eigentlich ablehnen. Insofern bleibt vieles – auch an Leid – unbekannt.

Warum wehren sich die Betroffenen selten oder gar nicht?
Vor allem, weil es in der islamischen Kultur in vielen Familien einfach dazu gehört, dass die Eltern glauben, den besten Partner für ihre Töchter oder Söhne erkennen zu können. Die Entscheidung der Eltern wird zur Ehre stilisiert, so dass gleich die Ehre der ganzen Familie auf dem Spiel steht, wenn etwas schief geht. Wenn das Bild der kulturellen Tradition bei den jungen Menschen auch noch positiv belegt ist, wehren sie sich nicht. Sie sind zwar nicht einverstanden mit der Eheschließung, aber die Liebe zu den Eltern und die Hoffnung, es werde schon gut gehen, ist ihnen wichtiger.

Als Anwältin werden Sie konfrontiert mit dem Thema. Was erleben Sie, was passiert in den Familien?
Es kommen vor allem Frauen. Die meisten leben schon in einer Zwangsehe und haben Kinder. Sie wollen da raus. Sie suchen Rat und einen Ausweg. Auch Paare kommen, die ihre Ehe in den jeweiligen Heimatländern schließen mussten. Ich erinnere mich an ein Paar, das aus Afghanistan stammt und durch den Zwang zur Eheschließung traumatisiert wurde. Die beiden flohen nach Deutschland und gaben diese Zwangsverheiratung als Asylgrund an. Sie berichteten, dass nicht nur die Eltern, sondern auch die Taliban sie zur Eheschließung gezwungen hatten.

Gibt es Strafverfahren gegen Eltern, die ihre Töchter und auch die Söhne zu einer Ehe zwingen?
Grundsätzlich könnte das passieren, weil der Tatbestand natürlich eine Straftat ist. Aber in der Realität passiert es kaum oder gar nicht. Denn die Kinder lieben ihre Eltern. Und sie achten die Familienehre, die ja immer als Argument verwendet wird. Protest gegen solche Zwangsmaßnahmen der Eltern ist deshalb ein schwieriger Prozess. Denn in der Regel heißt das für die Betroffenen, dass die bis dahin schützende Gemeinschaft der Familie zum Gegner wird – mit allen Konsequenzen im persönlichen Leben. Die Protestierenden werden für immer verstoßen. Aber Zwangsverheiratungen verletzen natürlich das Menschenrecht. Das Paradoxe ist: Keiner möchte selbst so behandelt werden.

Sie sind selbst im muslimischen Kontext aufgewachsen, kommen Sie bei ihrer Arbeit in Gewissenskonflikte?
Nein, ich bin in Deutschland aufgewachsen und von Anfang an meinen eigenen Weg des Verstehens gegangen. Meine Eltern haben das akzeptiert. Ich habe Jura studiert, bin Anwältin und gebe diese Freiheit im Leben auch an meine Töchter weiter. Meine Familie ist vielleicht eine Ausnahme. Wichtig für mich ist jetzt, denen zu helfen und zur Seite zu stehen, die diese Freiheiten in ihren Familien nicht haben und einen Ausweg suchen. Die Familie spielt bei Muslimen eine grundlegende Rolle. Die familiären Beziehungen sind stark. Der Bruch dieser Tradition wird als überwältigend empfunden, als Ausnahmezustand. Das ist kulturell bedingt. Die Auswirkungen sind oft unmenschlich.

Sollte die deutsche Bevölkerung, also die Nachbarn, die mit türkischen, arabischen Familien Tür an Tür wohnen und das ganze Elend mitbekommen, stärker sensibilisiert sein und auch eingreifen?
Ja, das wäre hilfreich. Aber: Das Thema Zwangsverheiratung ist in der deutschen Kultur irrelevant. Es taucht nur in den Medien, etwa in Zeitungsberichten, auf. Dazu kommt, dass die islamische Kultur für die deutschen Nachbarn fast immer unbekannt und auch uninteressant ist, mit vielen Vorurteilen behaftet natürlich auch. Ich plädiere dennoch dafür, dass Menschen, die unterschiedlichen Kulturen angehören, miteinander reden, sich kennenlernen und dabei mehr von der jeweils anderen Sicht auf Familie und Zusammenleben erfahren und Unglück auch beenden. Dann könnte sich sicher etwas ändern.

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