Inside Apple MusicExklusiv: Vier Jahre Streaming – Interview mit Oliver Schusser, dem Musik-Chef von Apple und Besuch bei Beats1

Apple Music full lede

Vier Jahre Apple Music, vier Jahre Musik-Streaming unter iOS und macOS. Zum nicht ganz runden Geburtstag hat Apple Das Filter nach London eingeladen. Um die neuen Features des Streaming-Dienstes kennenzulernen, aber vor allem, um den Chef des Musik-Geschäfts Oliver Schusser zu interviewen und dem hauseigenen Radio-Sender Beats1 einen Besuch abzustatten. Streaming ist 2019 weit mehr als Streaming. Aus London berichtet Thaddeus Herrmann.

Musik-Streaming gehört 2019 für die meisten zum digitalen Einmaleins. Die Zeiten, in denen man CDs rippte, Festplatten tauschte oder bei mp3.ru „shoppen“ ging, um alles erst in iTunes zu stecken und dann auf den iPod zu laden, sind lange vorbei. Genauso passé scheint heute das Phänomen, MP3s legal zu kaufen – zum Beispiel beim Platzhirschen Apple. Als deren iTunes Store im April 2003 eröffnete, traute die Musikindustrie Steve Jobs und seinem Team zunächst nicht über den Weg, winkte den Deal aber schlussendlich durch – man hatte der Krise ob der florierenden Piraterie, die die Labels und Verbände mit der Preispolitik bei CDs und DRM selbst befeuert hatten, schlicht nichts mehr entgegen zu setzen. Der iTunes Store entwickelte sich in nur wenigen Jahren zur vielleicht größten Vertriebs-Erfolgsgeschichte überhaupt.

Heute jedoch stellt sich der Musikkonsum wieder ganz anders dar. Schien es bis zum Ende der Nuller-Jahre noch schick und zeitgemäß, keine CDs mehr zu horten, sondern lieber Files auf Rechner und portable Player zu schaufeln, sind heute selbst diese Dateien unnötiger Ballast. Warum eine Festplatte für Musik opfern, wenn doch alles zu jedem Zeitpunkt aus der Wolke auf das Telefon, den Computer, das Tablet oder den smarten Lautsprecher streamen kann? Spotify trat 2008 mit seinem Markteintritt die nächste Revolution los. Und weil die Bandbreite im Netz immer besser wurde, wagte Netflix nur zwei Jahre später den nächsten Schritt und adaptierte das Prinzip für Filme und Serien. Nicht zuletzt, um das eigene, dramatisch einbrechende Geschäftsmodell des DVD-Verleihs ablösen zu können. 2019 sind Ton-, Bild- und Datenträger unwichtiger denn je.

Beim Streaming von Musik ließ sich Apple – wie so oft bei neuen Produkten oder Phänomenen – erstaunlich viel Zeit. Kalkül? Verpeilung? Selbstüberschätzung bezüglich des eigenen MP3-Ladens? Die Antwort kennt nur die Führungsriege in Cupertino. Doch dann verdichteten sich die Anzeichen des Wandels – mit dem Beats-Imperium von Dr. Dre, Jimmy Iovine und Luke Wood sicherte man sich nicht nur die Verkaufserlöse der ikonischen Kopfhörer, sondern kaufte auch eine komplette Lösung für das Musik-Streaming ein, die seit Anfang 2014 in den USA verfügbar war und tatsächlich gut funktionierte. Und am 30. Juni 2015 ging Apple Music an den Start – Cupertino war im Streaming-Zeitalter angekommen, wenn auch nicht ohne Skandälchen. Man war begeistert.

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Apple-Manager Eddy Cue bei der Vorstellung von Apple Music, 2015.

Alleinstellungsmerkmal, dringend gesucht

2019 gehört das Streaming nicht nur zum digitalen Einmaleins, sondern ist auch ziemlich langweilig. Will sagen: Ob man nun Spotify, Deezer, Amazon, Google, Tidal, Apple Music oder Napster als Dienstleister bucht – letztendlich bekommt man überall das gleiche Angebot, wenn man denn vornehmlich oder ausschließlich Musik hören will. Alle Anbieter versuchen jedoch, mit zusätzlichen Funktionen und Angeboten die Konkurrenz auszustechen. Exklusives Album hier, Video-Doku dort, die größte Datenbank mit Song-Texten ... einen messbaren Unterschied macht das alles nicht. Interessant ist eher die generelle Richtung. Denn: Mit dem Streaming von Musik Geld zu verdienen, ist hart. Verdammt hart. Die Margen sind generell schlicht zu gering, dazu noch regional unterschiedlich und oft genug wollen Reseller, zum Beispiel die Mobilfunkanbieter, auch noch ihren Schnitt machen. Das hat Konsequenzen für das Produkt. Spotify legt zum Beispiel den Fokus auf Podcasts, kaufte den Content-Anbieter „Gimlet“ und die Produktions-App „Anchor“, um Podcasts im eigenen Ökosystem nicht nur populärer zu machen, sondern um das Unternehmen vom reinen Streaming-Anbieter zur Mitmach-Plattform umzubauen. Die Motivation ist glasklar: Die Monetarisierung der Podcasts kann Spotify selbst steuern. Je weniger Musik man auf Spotify hört, desto mehr Geld verdient die Firma von Daniel Ek. Ein zwingend notwendiger Schritt, um an der Börse zu bestehen.

Über 60 Millionen Kundinnen und Kunden hören nach vier Jahren bereits Apple Music, beim Radiosender „Beats1“ schalten laut Apple ebenfalls „mehrere Millionen Menschen“ ein.

Auch bei Apple Music geht es nicht nur um das Streaming von Musik. Von Beginn an spielte der hauseigene Radiosender „Beats1“ eine integrale Rolle in der Außenwirkung. Frei und kostenlos verfügbar, schießen sich hier renommierte und frühere Radio-DJs aus drei Studios weltweit die Beats zu: von Los Angeles über New York nach London und wieder zurück. Dazu kommen eigens produzierte Shows von Stars wie Drake, Frank Ocean oder Elton John, lange Video-Interviews und das „Up Next“-Programm, in dem neue Musiker*innen vorgestellt werden. Leisten kann man sich dieses Engagement in Cupertino problemlos. Auch wenn die so genannten „Services“ in der Bilanz des Unternehmens immer wichtiger werden – Apple Music ist mit den 9,99 € Abo-Gebühren pro Monat einer davon –, ist die Musik und das Streaming eben nur eine von zahlreichen Einnahmequellen – das eine oder andere iPhone subventioniert die Musik. Ein klarer Vorteil gegenüber Spotify, der durchaus Erfolge bringt: Über 60 Millionen Kundinnen und Kunden hören nach vier Jahren bereits Apple Music, beim Radiosender „Beats1“ schalten laut Apple ebenfalls „mehrere Millionen Menschen“ ein. In den USA, so ist immer wieder zu hören, hat man Spotify als Marktführer bereits abgelöst. Keine schlechte Bilanz nach 48 Monaten im Streaming-Business. Geht das Konzept also auf?

Menschelnde Algorithmen

Fragt man bei Apple nach, lautet die Antwort natürlich: Ja! Die Anzahl der Ausrufezeichen ist dabei frei wählbar. Aber der übliche PR-Sprech soll bei einem längeren Termin mit Fakten untermauert werden. Der Chef von Apple Music, Oliver Schusser, offizieller Titel „Vice President, Apple Music & International Content“, gibt Interviews. Dazu kommen Hintergrundgespräche und ein Besuch im Londoner Studio von Beats1. Oliver Schusser ist ein alter iTunes-Hase, betreute viele Jahre das europäische Geschäft der Download-Plattform und hat im vergangenen Sommer den Job von Jimmy Iovine als weltweiter Musik-Chef bei Apple übernommen. Oliver Schusser ist auch jemand, der selten Interviews gibt. Wer die Kombination googelt, landet in einem verwaisten Teil des Internets, wo außer durch die Gegend wehendes Tumbleweed wenig los ist. Aber nicht nur der vierjährige Geburtstag des Apple-Streamings, sondern auch der für Herbst anstehende neue Release der Musik-App scheint wichtig genug, die Fakten auf den Tisch zu legen. Im kommenden Herbst nämlich wird iTunes abgeschafft. Eine der wichtigsten und prägendsten Begriffe in Apple-Geschichte verschwindet. Egal, ob auf dem Telefon, Tablet, Computer oder Fernseher: Wo Musik drin ist, steht fortan auch nur noch Musik drauf. Und die will betreut werden. Bei Apple bedeutet das: vor allem von Menschen. Natürlich arbeiten auch bei Apple Music Algorithmen. Wichtiger aber sind die Redaktionen, die weltweit operieren, Empfehlungen erstellen, Playlisten bestücken, begleitende Texte schreiben und vor allem auch die Algorithmen trainieren, damit die so gut wie möglich funktionieren. Was so eine Redaktion auch tut, erfährt man beiläufig bei einer Pause in der Kaffeeküche.

Ein großes neues Feature der Musik-App ab Herbst wird sein, dass die Lyrics von Songs synchron zum Karaoke-Mitsingen auf dem iPhone angezeigt werden. Das ist zwar nicht neu, gab es so aber bei Apple Music bislang noch nicht. Liedtexte sind mitunter ein pain point. Denn das, was von den Verlagen angeliefert wird, stimmt oft einfach nicht überein mit dem tatsächlichen Gesang. Und genauso oft gibt es überhaupt kein Rankommen an den Text. Dann setzen sich die Redakteur*innen schon mal hin und tippen die händisch ins System, getrieben vom Wunsch nach Vollständigkeit.

Und die Algorithmen? Können ja auch immer wieder so ein pain point sein, die einen entweder unerwartet aus dem Flow rauskicken oder Vorschläge machen, die einem nur die Lachtränen in die Augen schießen lassen. Auch die werden im Herbst vollkommen überarbeitet, ist zu hören. Oftmals sind es jedoch nur Begrifflichkeiten, die zu Irritationen führen. Wenn ich mich zum Beispiel unter der Woche durch die seichten Tracks von Moving Shadow höre, ist mein freitäglicher „Chill Mix“ voll mit genau dieser Sorte von Drum and Bass. Chill? Nicht in meinem Musikverständnis, aller Flächen zum Trotz. Aber: Genau so soll es sein, wird mir verraten, es geht nicht darum, immer nur das Offensichtliche aufzubereiten. Und dann kommt Oliver Schusser.

Garten-Breaker
Oliver Schusser

Oliver Schusser. Foto: Apple

Oliver Schusser bin ich das letzte Mal 2007 begegnet. Damals war ich mit einer kleinen Gruppe von Musikjournalisten in London unterwegs, um mir den „deutschen Abend“ des ersten iTunes-Festivals anzuschauen, im ICA spielten damals „Wir sind Helden“. Wie das Konzert war, erinnere ich nicht mehr, wohl aber den guten Rahmen. Zehn Jahre lang stellte man bei Apple einmal im Jahr ein solches Festival hin, buchte große Stars und verschenkte die Eintrittskarten. Für ein Unternehmen solcher Größe ist das natürlich kein Problem, die Regel ist es dennoch nicht. Auch das Festival gehört(e) zur Musik-Strategie von Apple und entwickelte sich nicht nur zum Marketing-Instrument, sondern auch zu einer Möglichkeit, gute Konzerte für umme sehen zu können, wenn man denn Karten gewann. Und von denen gab es zu Beginn nur sehr wenige.

Oliver Schusser: Ins ICA passten ja nur 200 Leute rein, das war der Startschuss unserer Festival-Serie. Und es spielten Paul McCartney, Amy Winehouse, Crowded House, Wir sind Helden. Wenn ich mich an die Umstände erinnere! Aber: Das war eine gute Zeit.

Die nun leider vorbei ist.
Naja, das ist halt so. Nach zehn Jahren haben wir gesagt, jetzt machen wir mal Pause und lassen uns etwas Neues einfallen. Wenn es soweit ist, rufen wir dich an.

„Musik nur noch als Bits und Bytes zu begreifen, ist mir und uns zu wenig.“

Ha, das ist nett.
Wir hatten als Unternehmen mit der Festival-Reihe nicht nur großen Erfolg, sondern auch richtig viel Spaß. Was, glaube ich, auch damit zu tun hat, dass wir uns im Musikbereich als „artist company“ begreifen. Das galt im Download-Geschäft ebenso wie jetzt beim Streaming in Apple Music. Wir wollen kein Label sein, wir wollen den Künstler*innen keine Rechte abnehmen oder so, sondern mit ihnen zusammenarbeiten. Wenn du dir überlegst, welche Rolle der Mac von Beginn an in der Musikproduktion gespielt hat, macht das nach wie vor Sinn. Natürlich wird heute vor allem gestreamt. Aber Musik nur noch als Bits und Bytes zu begreifen, ist mir und uns zu wenig. Deshalb arbeiten wir nach wie vor mit Musiker*innen zusammen und haben intern ein großes Team von Redakteurinnen und Redakteuren aufgebaut, die das Angebot kuratieren. Algorithmen nutzen wir auch, aber selbst die werden von Menschen gefüttert. Es geht um den human approach, darum, eine Beziehung aufzubauen. Zu den Künstler*innen, aber auch zu den Lyrics und den Songwritern. Dass Musik endlos läuft, ist für uns kein Fokus. Ich denke, da haben wir in den vergangenen Jahren auch wirklich sehr gute Fortschritte gemacht.

Ich frage mich, ob es überhaupt möglich ist, ein derartiges Empfehlungssystem hinzustellen – egal, ob das eine Redaktion macht oder die Algorithmen. Ich merke selber, dass jemand oder etwas meinen Musikgeschmack in den Empfehlungen oft vollkommen falsch interpretiert. Je wichtiger einem Musik ist, je besser man sich auskennt in einem Genre, desto größer ist ja die Gefahr, den Kunden gegenüber ins Fettnäpfchen zu treten.
Zu tun gibt es auf diesem Gebiet natürlich immer noch etwas. Wir versuchen einfach, mit jedem Release besser zu werden. Für iOS 13, das im Herbst erscheint, haben wir den Empfehlungsbereich nochmal komplett überarbeitet und arbeiten auch mit neuen Algorithmen. Es ist ja in unserem eigenen Interesse, hier besser zu werden. Wir sind selber Musik-Fans, haben große Librarys und kennen das Problem: Wir sind also unsere größten Kritiker.

Kann man sich 2019 als Streaming-Anbieter überhaupt noch von den Mitbewerbern absetzen?
Ich hoffe es! Mit dem Redaktionellen sind wir auf dem richtigen Weg. Klar, die anderen machen das auch, ich würde aber behaupten nicht im gleichen Umfang. Und dann ist da Beats1, unser Radiosender. Im englischsprachigen Raum spürt man das vielleicht noch mehr als in Deutschland, weil unsere Moderator*innen eben Englisch sprechen. Aber das sind Experten. Zane Lowe oder auch Charlie Sloth machen Interviews, pushen neue Musiker*innen, tragen deren Musik in die Welt. Das macht sonst niemand. Und das ist wichtig, weil: Es gibt immer mehr Musik, der Markt wächst wieder. Da braucht es Orientierung. Das ist auch ein Grund dafür, warum wir kein Umsonst-Modell anbieten beim Streaming. Die Künstler*innen sollen ihr Geld bekommen.

„Wir haben immer ein Auge darauf, was wirklich nachgefragt wird. Unsere Erkenntnis: Wer ein Streaming-Abo abschließt, will vor allem Musik hören, und genau das ist unser Fokus.“

Und dabei spielt die Musik nur noch eine Rolle unter vielen. Dadurch verändert sich das Produkt. Weg vom reinen Musikkonsum, hin zu etwas Partizipatorischem, weil man als Podcaster plötzlich selbst auf Spotify mitmachen und gehört werden kann. Das ist eigentlich schon witzig, denn mit diesem Fokus pinkeln sie euch ja unvermittelt ans Bein. Apple hat das größte Podcast-Verzeichnis weltweit. Bedeutet dieser neue Fokus von Spotify letztendlich nicht, dass es unmöglich ist, nur mit dem Musik-Streaming Geld zu verdienen? Ist diese Diversifizierung dringend erforderlich?
Da musst du wirklich die Kollegen von Spotify fragen. Bei Apple fallen auch Podcasts in meinen Aufgabenbereich – das ist ein Umsonst-Angebot. Was bei Podcasts aber keine große Rolle spielt, ist Musik. Und genau darauf konzentrieren wir uns aktuell. Wir haben in diesem Bereich ja auch experimentiert, gerade im Videobereich mit Konzertmitschnitten etc. Und natürlich mit klassischen Musikvideos, die es bei uns ja auch gibt. Das wurde auch sehr schnell kopiert. Wir haben immer ein Auge darauf, was wirklich nachgefragt wird. Unsere Erkenntnis: Wer ein Streaming-Abo abschließt, will vor allem Musik hören, und genau das ist unser Fokus.

Wenn es um die Erweiterung des Angebots geht, sind wir schnell bei einem Reizthema: den exclusives. Für musikbegeisterte Kunden heißt das im Zweifelsfall, dass man gleich mehrere Abos braucht, um up-to-date zu bleiben. Ihr habt dieses Spiel am Anfang mitgespielt, mittlerweile ist das zum Glück wieder abgeebbt. Sind diese exklusiven Inhalte aus deiner Sicht wichtig?
In den ersten beiden Jahren haben wir uns in dieser Richtung ausprobiert – und das hat wirklich gut funktioniert. Mit Drake zum Beispiel. Wir haben auch nach wie vor exklusive Inhalte, die Radioshows von Elton John oder Drake zum Beispiel gibt es nur bei uns zum Nachhören. Aber was Alben und Singles angeht, hat sich die Musikindustrie dazu entschieden, das zu reduzieren. Ob das die richtige Entscheidung ist, weiß ich nicht. Natürlich gleichen sich die Services dadurch ein bisschen aneinander an. Deshalb sind wir enorm daran interessiert, Künstler*innen früh zu entdecken und ihnen eine Plattform zu bieten – für die erste Single oder EP oder mit einem großen Interview beispielsweise. Billie Eilish ist da ein gutes Beispiel. Die haben wir entdeckt und gepusht. Und dass sie jetzt bei Interscope unter Vertrag ist, haben wir auch ein bisschen mit angestoßen.

Das sind ja kurze Wege.
Ja, das stimmt natürlich. Billie ist aber auch nicht das einzige Beispiel. Wichtig ist: Wir sind kein Label und kein Publisher. Dieses Geschäft interessiert uns nicht.

Billie Eilish ist aber ein gutes Beispiel für die generelle Herangehensweise an neue Musik bei euch. Egal ob in den Empfehlungen oder auch bei Beats1: Mir ist das in der Regel nicht divers genug. Zu blank geputzt. Euch fehlt ein John Peel.
Immerhin kannten sich Zane Lowe und John Peel ja noch von ihrer Zeit bei der BBC. Aber die Kritik nehme ich mit.

Dieser – eurer – Herr Peel würde dann hoffentlich auch die Musik mehr in den Fokus nehmen, die man im Streaming einfach nicht mehr findet. Nicht nur bei euch, sondern bei allen Anbietern. Alte B-Seiten zum Beispiel oder Remixe. Da herrscht ein große digitales Vergessen.
Dazu muss man Folgendes wissen und verstehen: Streaming funktioniert vollkommen unterschiedlich als der Verkauf von MP3s. iTunes war und ist also ein anderes Geschäft als Apple Music. Aber dein Punkt ist wichtig. Denn genau dieser Fokus, also die B-Seite oder der Remix, soll bei Beats1 gespielt werden. Da sitzen die Expert*innen, die früher im terrestrischen Radio genau das gemacht haben: Musik spielen, die so zu diesem Zeitpunkt niemand erwartet hätte. Und der Zeitpunkt ist entscheidend. Wir haben ein Programm, das 24 Stunden weltweit läuft. Ein bestimmtes Stück Musik kann einen also morgens, mittags oder abends erwischen, es kommt auf die Zeitzone an. Da geht schon was. Aber auch das ist ein Lernprozess. Wir machen das jetzt seit vier Jahren. Die Geschichte ist noch längst nicht vorbei.

Garten-Breaker

Einer dieser Experten ist Matt Wilkinson. Der ehemalige NME-Redakteur ist heute Moderator bei Beats1 und täglich auf Sendung. Seine Show ist gerade vorbei, als wir im Studio nördlich von Kings Cross eintreffen. Seine Moderations-Kollegin Julie Adenuga sitzt im Studio, isst zu Mittag und winkt. Matt führt uns rum. Die drei Studios – hier in London, in Los Angeles und New York – sind absolut baugleich, damit sich alle Moderator*innen und Gäste überall sofort zurecht finden und senden können. So wie Gaga neulich, als sie vorbeikam und hier in London eine Sendung aufnahm. Natürlich ist Beats1 auch ein Tool, um Apple Music zu pushen. Was auf anderen Sendern die klassische Werbung ist, ist bei Beats1 der immer wiederkehrende Verweis auf die Playlisten bei Apple Music. Spielen kann er trotzdem, was er will. Und genau das sei ein Geschenk für den Briten, der sich nie hätte vorstellen können, plötzlich Radio zu machen.

Matt Wilkinson Thaddi

Thaddeus Herrmann im Beats1-Studio mit Moderator Matt Wilkinson

Beats1 Studio

Als er noch beim NME war, hatte er oft Kontakt mit seinem heutigen Kollegen Zane Lowe, dem alten Radio1-DJ und heutigem Aushängeschild von Beats1. Weil: Beim NME war Matt zuständig für neue Musik, und Zane holte sich bei ihm regelmäßig Tipps. Und als er dann bei Apple angeheuert hatte, rief er Matt an. Bock auf Radio? Absolutes Neuland für den Journalisten. Matt ist so ein Typ, dem man seinen Enthusiasmus komplett abnimmt. Gemeinsam mit seinem Producer wagte er sich vor das Mikro – heute klingt er wie jemand, der das schon immer gemacht hat. Wir setzen uns hin, reden über Musik, den Status Quo des Musikjournalismus und den Brexit. Derweil macht ein Mitarbeiter die Schalte gen New York klar. Hier liegt eine beeindruckend dicke Internet-Leitung, administriert von ein paar unschuldig aussehenden iMacs, die das unmittelbare Hin- und Herschalten zwischen Europa und den USA möglich machen. Ist das die Zukunft des Radios? Neu ist die Idee nicht. Aber Indie-Radio kann auch frustrierend sein, es kommt eben auch die richtige Mischung an – aus musikalischer Ehrlichkeit und gleichzeitiger Professionalität und Verlässlichkeit. Das Profitum ist bei Beats1 im Sack. Den Rest? Muss man als Musikliebhaber*in genau im Auge behalten.

Denn eines ist klar: Mit dem Streaming-Teil von Apple Music wird man in Cupertino weiter voranschreiten und sich einen der vorderen Plätze im digitalen Wahnsinn sichern – aus guten Gründen. Der Service funktioniert und ist safe. Sich darüber hinaus im Musikgeschäft zu engagieren – zu Beispiel mit Beats1 – ist eine lobenswerte Idee, die sich aber auch vier Jahre nach dem Startschuss weiterhin beweisen muss. Denn bei Musik geht es um mehr als das Etablieren einer Radio1-Alternative. Musik ist kleinteilig und fragil. Was früher die Öffentlich-Rechtlichen mehr oder weniger überzeugend abgedeckt haben, liegt heute längst in den Händen privater Anbieter. So absurd es klingt: Der Spagat zwischen wirtschaftlicher Rentabilität und musikalischer Glaubwürdigkeit wird nicht mehr im gut gemeinten Web-Radio entschieden, sondern bei Unternehmen, die es sich leisten können, Dinge einfach laufen zu lassen. Das ist schlimm genug, aber wenn es so ist, dann gibt es eine Verantwortung für genau die, die es sich tatsächlich leisten können. Es wird Zeit für Beats2, einen Playlist-befreiten Sparten-Sender, der das auffängt, was die Öffentlich-Rechtlichen nicht mehr anbieten und Sender wie NTS zu locker angehen. Das ist ein Luxus, den man sich nicht nur leisten können muss, sondern auch will – der Musikkultur verpflichtet. Wenn ihr hierbei Hilfe braucht, Apple, ruft an. Meine Nummer habt ihr ja. Es geht um die Algorithmen-befreite Glaubwürdigkeit der Beats(1).

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