Review: Motorola One VisionHead Like a Hole
12.6.2019 • Technik & Wissen – Text & Fotos: Thaddeus HerrmannNach nur sieben Monaten legt Motorola das zweite Smartphone seiner noch neuen One-Serie vor. Man will mit neuen Features die Schlappe des ersten Versuchs wieder ausbügeln. Thaddeus Herrmann berichtet aus dem Bermuda-Dreieck zwischen 21:9-Kino-Display, Nacht-Modus der Kamera und einer UVP von 300 Euro.
Im vergangenen Herbst war ich sauer, bzw. verstimmt und irritiert – vom Motorola One, dem ersten vegetarischen Smartphone der Lenovo-Tochter. Vegetarisch weil: Das war weder Fisch noch Fleisch. Das Display war blass und low-res, der Rest wahnsinnig langweiliger Durchschnitt. Alleinstellungsmerkmal jenseits des kopierten iPhone-X-Designs? Nicht vorhanden. Und so versickerte auch die unterstützenswerte Strategie, Telefone mit Android One – also praktisch unbehandeltem Google-OS – in der Bedeutungslosigkeit. Nun folgt take two. Gelernt hat das Moto-Team einiges.
Schlank und rank
Das Motorola One Vision kostet 300 Euro, also genauso viel wie sein bedauernswerter Vorgänger. Dafür wurde der interne Speicher auf 128 GB verdoppelt, die hintere Dual-Kamera löst nun mit 48 und 5 Megapixeln auf, Selfies werden mit 25 Megapixeln archiviert: Klingt ja alles schonmal gut. Die Kameras haben zudem neue Tricks gelernt, dazu jedoch später. Denn die augenfälligste Neuerung ist das Display, das mit 1.080 x 2.2520 Pixeln nicht nur (endlich!) scharf auflöst, sondern auch eine kräftige Farbwiedergabe liefert. Bei Motorola verpackt man den Screen im Seitenverhältnis von 21:9, was sich besonders für das Schauen von Filmen anbieten soll. Soll, weil, so ganz geht diese Rechnung noch nicht auf. Was vornehmlich mit einer weiteren Design-Entscheidung zu tun hat: dem Tod der „klassischen“ Notch, also der Aussparung am oberen Display-Rand für die Front-Kamera. Die hat man beim Motorola One Vision nun in die linke obere Ecke des Displays integriert, das dort einfach durchgelocht ist. Samsung hat dieses Prinzip mit dem aktuellen Galaxy S10 populär gemacht, andere Hersteller setzten bei einigen Geräten ebenfalls auf die Platzierung. Für mich ist es das erste Mal überhaupt, dass ich ein derartiges Gerät in Benutzung habe. Sagen wir mal so: Ich warte auf den Tag, an dem man die Diskussion um Notch, Loch oder motorisiert-ausfahrbarer Kamera nicht mehr wird führen müssen und bin einigermaßen hoffnungsvoll. Für den Moment jedoch empfinde ich das Loch als etwas irritierender als die Notch, ganz egal in welcher Form.
Das hängt auch mit der Display-Form zusammen. 21:9 – das hat man sich bei Motorola von Sony abgeguckt, dem bislang einzigen Hersteller überhaupt, der sich daran ausprobiert hat. Mit Filmstudio im Konzern und ohne Loch im Display mag das Sinn machen. Hier jedoch fühlt man sich eher ein wenig ausgebremst. Nur wenige Apps lassen den Fullscreen-Modus überhaupt zu. Und das sieht dann so aus.
À propos Loch: Nein, es ist nicht das kleinste, das man aktuell in Smartphones-Displays mit dieser Bauform findet. Aber man darf auch nicht vergessen, dass das Motorola One Vision 300 Euro im Handel kostet – also die Mittelklasse bedient.
Was schon ein bisschen schade ist, sich vielleicht aber mit Software-Optimierung lösen lässt. Denn das 180 Gramm leichte Telefon liegt mit seinem 6,3"-Display nicht zuletzt aufgrund der schlanken Form ganz wunderbar in der Hand. Und auch wenn das obere Drittel des Bildschirms im Einhand-Betrieb definitiv nicht zu erreichen ist, ist das Plus an dargestelltem Content in Apps wie zum Beispiel Twitter sehr angenehm. In diesen Apps blendet man das omnipräsente Loch auch sehr schnell aus. À propos Loch: Nein, es ist nicht das kleinste, das man aktuell in Smartphones-Displays mit dieser Bauform findet. Aber man darf auch nicht vergessen, dass das Motorola One Vision 300 Euro im Handel kostet – also die Mittelklasse bedient. Wie man so Geld verdienen will, bleibt mir nach wie vor ein Rätsel, aber ich bin zum Glück auch kein Controller bei Lenovo.
Macht die Nacht zum Tage
Fragt man Smartphone-Auskenner, welches Telefon denn aktuell die beste Kamera habe, steigen die einen in den virtuellen Boxring, um Fanboy-Kämpfe auszutragen, die anderen winken schlicht ab. Das sei doch die vollkommen falsche Frage. Nicht die Hardware, also das Kameramodul selbst, sei entscheidend, sondern vielmehr die Software, die die Bilder verarbeitet. Das stimmt auch. Die Platzhirschen in diesen Code-Rennen sind aktuell ganz klar Google selbst mit ihren Pixel-Handys und Huawei mit dem P30 Pro. Beide Software-Teams haben es geschafft, bei schlechten Lichtverhältnissen (im Dunklen) gemachte Fotos so zu pimpen, dass einem im positiven Sinne die Spucke wegbleibt. Einen dezidierten „Nacht-Modus“ haben mittlerweile viele Hersteller programmiert – auch Motorola ist mit „Night Vision“ jetzt dabei.
Die bereits 48 Megapixel hat der Sensor übrigens nur auf dem Papier: Jeweils vier Pixel werden in der Software zu einem 1.6μm großen Pixel kombiniert, die tatsächliche Auflösung der Kamera liegt also bei 12 MP, ganz egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Dafür ist jedoch eine optischen Bildstabilisation mit an Bord, die Wackler gut auskontern kann. Diese Bildstabilisation hilft auch und gerade bei der Verwendung des Nacht-Modus dauern Autofokus und Scharfstellen etwas länger. Das ist ganz normal, aber für etwas tattrige Fotografinnen nicht praktisch. Genau hier hilft die Bildstabilisation. Die Ergebnisse sind okay* und holen definitiv mehr aus den Bildern heraus als im regulären Foto-Modus, rücken dafür aber auch den Noise spürbar in den Vordergrund.
An ein Pixel von Google oder das P30 Pro von Huawei kommt die Kamera, pardon, die Software des Motorola One Vision nicht heran. Kein Problem, könnte man da denken – die kosten ja auch viel mehr. Aber seit der Vorstellung des Google Pixel 3a (399 Euro) stimmt das so nicht mehr. Wer also ein Telefon vor allem für die Kamera kauft, ist gut beraten, 100 Euro mehr zu zahlen. Die Kombination mehrerer Pixel lassen sich übrigens auch auf der vorderen Kamera nutzen: Für bessere Ergebnisse bei schlechterem Licht lässt sich Auflösung hier von 25 auf 6 Megapixel reduzieren.
War sonst noch was?
Jede Menge. Das Motorola One Vision wird mit Android 9 ausgeliefert. Dank Android One profitieren potenzielle Käufer*innen von Updates auf Android 10 und 11 – Sicherheits-Updates werden für drei Jahre garantiert. Das ist in diesem Preissegment leider immer noch selten und sehr zu begrüßen. Wem der interne Speicher von 128 GB nicht ausreicht, legt eine microSD-Karte mit bis zu 512 GB ein und kann das Smartphone selbst dann noch mit zwei SIM-Karten betreiben. Der 3.500 mAh starke Akku machte in den zwei Wochen Testbetrieb einen sehr soliden und ausdauernden Eindruck. Und auch die Performance geht vollkommen in Ordnung. Interessanter Weise kommt als Prozessor kein Snapdragon von Qualcomm zum Einsatz, sondern ein Exynos von Samsung, der in Verbindung mit 4 GB RAM arbeitet. Mit USB-C ist der Anschluss auf dem aktuellen Stand und selbst Kopfhörer lassen sich noch über den Klinkenstecker nutzen. Vorder- und Rückseite sind aus Glas, und der bronzene Farbton spiegelt schön in der Sonne. Mit anderen Worten: Das ist alles voll okay. Generell und für den aufgerufenen Preis sowieso. Die Entscheidung für oder gegen das Telefon fällt auch hier mit der Kamera, bzw. mit der Frage, welchen Stellenwert man ihr zuweist. Mir persönlich war die Belichtung oft ein wenig zu aggressiv, aber das ist eine reine Geschmacksfrage, die sich auch daran bemessen lässt, ob man die Bilder vor allem auf dem Telefon selbst anschaut oder sich am Desktop in die Bearbeitung stürzt.
Mir scheint der Preis von 300 Euro angemessen. Ob ich damit richtig liege oder nicht, wage ich allerdings nicht so recht einzuschätzen. Vielleicht verkauft einem Xiaomi, Oppo oder Vivo – vielleicht sogar Nokia – ein ähnliches Paket zum gleichen Preis. In diesem Midranger-Dickicht habe ich den Pfad verloren. Aber: Außer Nokia, die sich ebenfalls mit einer sehr löblichen Update-Politik hervorgetan haben, begibt man sich bei praktisch allen anderen Herstellern auf unsicheres Terrain. Und das muss nicht sein. Android ist mittlerweile so erwachsen geworden, dass es Software on top nicht mehr braucht. Doch genau diesen Hebel nutzen praktisch alle Hersteller, um sich von der Konkurrenz abzusetzen. Motorola – und Nokia – kümmern sich darum nicht. Das ist auch gut so. Denn was nutzt einem die beste Kamera, wenn der Rest des Telefons aus der Support-Liste gestrichen wurde?
Das Motorola One Vision hat mir viel Freude bereitet. Langsam offenbart sie sich tatsächlich, diese Vision. Wie nachhaltig sich das für Motorola gestaltet, wird sich zeigen. Fakt ist, dass es genau diese Preisklasse ist, in der das Unternehmen nach vorne will. Die neue Generation der preislich darüber angesiedelten Z-Serie wird in Europa gar nicht mehr verkauft. Es bleibt das untere Drittel der Nahrungskette. Aber darüber sollen sich die Controller von Lenovo den Kopf zerbrechen. Die werden auch besser bezahlt als Handy-Rezensenten.