Lowtec: „Ich sehe mich nicht als House-Künstler“Zu Hause bei Jens Kuhn in Schmalkalden
17.6.2019 • Sounds – Text & Fotos: Jan-Peter WulfSuperstar des Understatements seit 1997. Jens Kuhn aka Lowtec ist einer der einflussreichsten und wichtigsten Techno-Produzenten aus Deutschland überhaupt. Damals rettete er mit seinem Debütalbum „The Early Portrait“ die elektronische Musik vor der selbstverliebten Irrelevanz. Und heute strahlen diese Entwürfe heller denn je. Der vermeintliche Mainstream war Kuhn dabei zum Glück immer egal. Jeder Takt, den er einspielt, atmet Geschichtsbewusstsein und Freude an der Zukunft zugleich. So entsteht ein unberechenbarer Sound, der in aller Stille alle Stile radikal hinterfragt, ohne dabei in die Falle des offensichtlichen Widerstands zu tappen. Musik von Lowtec ist so dringlich wie filigran, vorne zurückhaltend und hinten ausufernd episch. Es gibt nur sehr wenige Produzent*innen, die 2019 noch so bedingungslos einzigartig den Dancefloor oder zumindest den Traum davon bespielen. Und mit seinem Label „Workshop“ hat er in den vergangenen 13 Jahren eine Institution hingestellt, gegen die selbst Instagram mit all seinen dämlichen DJ-Videos keine Argumente findet. Redakteur Jan-Peter Wulf hat Lowtec in seiner Thüringer Heimat Schmalkalden besucht. Das überfällige „late Portrait“ eines Helden.
Ob der Bus aus Suhl wohl noch kommt? Er ist schon eine Viertelstunde verspätet, der nächste kommt erst am Abend. Der Bus kommt, der Busfahrer öffnet die Tür und sagt „Entschuldigung. Ich stand im Stau“ (Baustellenampel, erfahre ich später). Etwas gerührt, wann hört man so einen Satz schon mal bei den Berliner oder überhaupt irgendwelchen städtischen Verkehrsbetrieben, setze mich auf einen der vielen freien Plätze – die Tragik des Landbusses – und lasse die grüne Landschaft an mir vorbeiziehen. Das Ziel der kurzen Fahrt ist Schmalkalden, ein 20.000-Einwohner-Örtchen im Süden von Thüringen. Das Bundesland wird zurecht die grüne Mitte Deutschlands genannt, denke ich mir. Grün, grün, grün, dann sind wir da. Der Busbahnhof von Schmalkalden grenzt an das Gelände der Landesgartenschau 2015, dafür wurde ein ehemaliges Industrieareal, der Westendpark, hübsch hergerichtet. Schmalkaldens wohl bekanntestes Erzeugnis, die langen, weichen Nougatstangen von Viba, haben einen eigenen Flagship-Store, Nougat-Welt genannt, auf dem Gelände.
Diesen Garten lassen wir aber links liegen. Wir deswegen, weil sich mittlerweile die Person zu mir gesellt hat, die ich hier und heute treffen will: Jens Kuhn aka Lowtec. Sein neues Album „Light Surfing“ ist im Frühjahr erschienen. Er ist mit seinem blauen Bulli angesaust gekommen, um mich abzuholen. Jetzt sitze ich auf dem Beifahrersitz. „Ich zeige dir erstmal, wo wir wohnen“, sagt Jens. Im Internet hatte ich schon gelesen, dass er mit seiner Familie in einem der schönen alten Häuser der Stadt wohnt, die insgesamt einen idyllischen Eindruck macht, doch so idyllisch hätte ich es mir dann doch nicht vorgestellt, als wir drei Minuten später in seinem von alten Mauern umringten Garten stehen. What a beauty. Glatt schöner als das Landesgartenschaugelände. Der Garten wurde um die vorletzte Jahrhundertwende angelegt, er sieht aus wie eine Mischung aus Klostergarten, Südengland und Seedbombing-Freestyle. „Wir pflegen alles selbst, so gut es geht“, erklärt Jens, „meine Arbeit drittelt sich in Autoindustrie, Musik und Garten“, fügt er lachend hinzu.
Wir verlassen das grüne Reich und schlendern durch Schmalkalden. Kuhn kommt aus einem kleinen Nachbarort, Unterschönau, und begann 1990, in „Schmalle“ Maschinenbau zu studieren. Nur ein paar Häuschen weiter wohnte er damals in einer WG. Das Haus – an dem flanieren wir jetzt entlang – ist freilich längst renoviert, doch damals sei es in einem sehr schlechten Zustand gewesen, berichtet er. Die Schmalkaldener WG-Kumpels – einer von ihnen ist Gunnar Heuschkel, heute Chef des Leipziger Platten-Presswerks R.a.n.d.muzik – hatten eine große gemeinsame Leidenschaft: elektronische Musik. Über den Äther kam die „HR3 Clubnight“ mit Sven Väth aus der einen – Frankfurter – Richtung, aus der anderen Richtung – aus Berlin – kamen Marushas Sets auf DT64. Plattenläden vor Ort gab es nicht, oft fuhren die Jungs deshalb in die Plattenläden à la Delirium nach Mainhattan oder bestellten sich Vinyl bei Hardwax, „alles Mögliche, von Aphex Twin bis DJ Pierre“ und immer, schön teuer, von der Telefonzelle aus, ein richtiges Netz aus Hausanschlüssen war so kurz nach der Wende noch nicht vorhanden. „Wir hatten kaum Geld, aber haben uns trotzdem viele Platten gekauft.“
Zum Feiern ging es fast jedes Wochenende los, oft freitags nach Jena oder Leipzig. Die Szene in Thüringen scharte sich seinerzeit um Thomas Sperling, Gründer des Jenaer Clubs Kassablanca, Macher der Partyreihe und des späteren Labels „Freude am Tanzen“. „Der hat viele Partys organisiert“, so Kuhn. Samstags dann für die Schmalkaldener weiter nach Berlin, sonntags zurück nach Hause. „Und es hat nicht lange gedauert, dann haben wir selbst hier aufgelegt. Damals war hier ja noch Publikum vorhanden.“ Gefeiert wurde unter anderem in der schmucken Villa K in Schmalkalden und im nicht weit entfernten Meiningen. „Das Theater hatte damals einen Intendanten, der selbst auf elektronisches Zeug abgefahren ist. Der (Ulrich Burkhard war sein Name, Anm. d. Red.) hat es möglich gemacht, dass neben dem Theater ein Club aufgemacht hat.“ Ab Mitte der Neunzigerjahre legte Kuhn auf den Partys nicht nur Platten anderer Künstler auf, sondern auch eigene Releases: „Die erste kam 1995, in Tschechien gepresst. Und dann hatten wir großes Glück: Durch unsere Aufenthalte in Frankfurt sind wir mit Neuton in Kontakt gekommen.“ Heiko Laux war damals der Einkäufer des legendären Musikvertriebs, der 2008 Konkurs anmelden musste. „Heiko hat die Singles genommen, die haben sich gut verkauft. So haben wir Deal mit Neuton bekommen, mussten nichts investieren und haben natürlich eine Platte nach der anderen rausgebracht.“ Ein kleines Labelgeflecht, kuratiert in Schmalkalden, entstand: USM, Out To Lunch (das gibt es immer noch) 3B, Science City. Lief gut, bis zur Jahrtausendwende. „Nach 2000 gingen die Verkäufe drastisch runter. Die ganzen Labels wurden zu viel, wir haben uns da ganz schön verzettelt“, erinnert sich Kuhn. Gunnar kümmerte sich mittlerweile voll und ganz um das Leipziger Presswerk, Kuhn und sein Partner Thorsten Recknagel entschieden: Gut, dann machen wir dicht. „Künstlerisch war für mich auch keine Notwendigkeit da, es aufrecht zu erhalten. Ich habe damals viel auf Playhouse releast.“
Doch so ganz vom Labelmachen kam er dann doch nicht ab: 2006 startete er das neue Label Workshop, das er mitsamt dem wiederbelebten Out To Lunch zusammen mit Paul David Rollmann (Künstlername Even Tuell) schmeißt. Nebenberuflich – während Rollmann im hessischen Groß-Umstadt sein erfolgreiches Taschen- und Klamottenlabel „Airbag Craftworks“ leitet, arbeitet Kuhn in der Produktentwicklung bei einem großen Autozulieferer, der in einem Nachbarort sitzt.
Darüber sprechen wir später. Jetzt genießen wir erst einmal den Blick vom „Schloss Wilhelmsburg“ über dem Ort in den Ort und die Hügellandschaft ringsum. Das Schloss war einst Nebenresidenz des Landgrafen von Hessen, und bis heute spricht man in diesem Teil Thüringens nicht den sächsisch anmutenden Dialekt, wie man vermuten könnte, sondern die Konsonanten weich wie jenseits des ehemaligen eisernen Vorhangs, baut dafür aber nicht jeden Vokal zum Umlaut um. Eine Glocke erklingt, Blasmusik ist zu hören: „Nun danket all und bringet Ehr“, ein Klassiker des Gotteslobs. Inspiriert dieses ländliche Umfeld die Musik? Kuhn überlegt kurz und erzählt, er habe kürzlich ein Burnt-Friedman-Interview gelesen. Der meinte, ihn beeinflusse die Umgebung so gar nicht. „Was ich nicht schlecht fand“, so Kuhn. „Aber wenn ich aus der Stadt komme, dort aufgelegt oder mir etwas angeguckt habe, das ich gut finde, dann habe ich wieder Lust, was Neues zu machen.“
Was Neues wäre zum Beispiel sein großenteils mit Tape aufgenommenes, sich als Jam-Projekt verstehendes Album „Light Surfing“. Welches nicht auf einem eigenen Label erschienen ist, sondern bei Avenue 66. Einem Label von Oliver Bristow, der auch Absurd und Acid Test macht und bis vor Kurzem für die US-Plattenladenkette Amoeba die Dance-Sparte betreute, jetzt wohnt er in Berlin. Kuhn hatte auf Avenue 66 erst eine EP veröffentlich, dann ein Tape gemacht, „Sketches“, unter anderem mit eigenen Sachen. „Oliver hat mich gefragt, ob ich aus meinen Stücken nicht eine Platte machen will. Ich habe ihm acht gegeben, er hat alle genommen. Gut, Doppelmaxi, dachte ich. Aber er hat es LP genannt. Macht Sinn, irgendwie sind sie alle verwandt.“ So kann man auch zum Album kommen.
Ein weiteres Album hat Kuhn 2018 mit Kassem Mosse aus Leipzig releast: Kolorit nennt sich das Duo, „Workshop XXI“ das perkussive, ebenfalls sehr jammige Werk. Die Autorin und Filmemacherin Hito Steyerl hat Stücke davon für den von ihr kuratierten Biennale-Pavillon in Venedig lizenziert, auch Aufnahmen, die beim letzten Berlin Atonal entstanden sind, wolle man noch für ein Release verarbeiten, ist der Plan. Flaschenhals seien immer die zeitlichen Ressourcen, das gelte für die Produktion eigener Musik ebenso wie für den Betrieb der Label – das Thema A&R betreuen Paul und Jens gemeinsam. „Die Releases setzen sich meist aus dem erweiterten Freundeskreis zusammen. Es ergibt sich einfach. Du musst nur das Ruder in die richtige Richtung stellen.“
Jetzt sitzen wir beim Bier – leider nicht das leckere in der Stadt gebraute Craft-Bier, aber ein anderes okayes – im „Maykel's“, dem place-to-be Schmalkaldens. Und sprechen über Kuhns Hauptberuf: Es geht um Licht. Scheinwerfer für die Autoindustrie. Automotive Lighting heißt die Firma, sie sitzt im Nachbarort Brotterode und hat rund 700 Mitarbeiter*innen. Am Standort wurden schon zu DDR-Zeiten Lampen als „Fahrzeugelektrik Ruhla“ für den ganzen Ostblock hergestellt, heute ist man eines der modernsten Unternehmen seiner Art und rüstet zum Beispiel Porsche mit Lampen aus. 800.000 Schweinwerfer per annum, für praktisch alle großen Automarken. Der gelernte Maschinenbauer Kuhn hat unter anderem an der Scheinwerfer-Produktion für den Porsche 911 mitgearbeitet. „Die Lichter werden durch LED immer intensiver und weißer. Früher nahm man Halogenlicht, dann kam Xenon (man erinnert sich an das schrille Blau, Anm. d. Red.), jetzt gibt es kameragesteuerte Scheinwerfer mit 84-Pixel-Matrix“, so Kuhn. Die Kamera merkt, wenn Gegenverkehr kommt, und schaltet die Pixel aus. High-Tech, früher hieß so etwas Abblendlicht und musste manuell eingestellt werden.
Ja, und Licht und Musik als Kunst zusammenbringen, wie wäre das für Lowtec? „Mit dem Gedanken habe ich schon gespielt“, verrät Kuhn, „ich kriege das aber zeitlich nicht hin. Dafür müsste ich mir dann ein Fulltime-Konzept überlegen. Was Robert Henke macht, ist wirklich cool, das ist aber auch ein Riesen-Programmieraufwand.“
Wir werden sehen. Für die eine oder andere Überraschung ist der freundlich-zurückhaltende Südthüringer sicher noch gut. Eine kleine gibt’s zum Abschluss unseres Rundgangs, als der Zug, mit dem ich wieder abreise, schon naht: „Ich höre viel Musik, aber was ich eigentlich gar nicht höre, ist House. Ich sehe mich auch nicht als House-Künstler“, sagt Lowtec. Interessant, ganz neues Fass, was da aufgemacht wird, aber der Zug wartet nicht und der nächste fährt ... spät, spät. Wir kommen wieder. Ist nämlich echt schön hier.